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Prolog

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Hamburg-Stellingen, April 2009

Es beginnt mit Schutt, Staub und Tierstimmen.

Besucher strömten an dem Holzzaun vorbei, achteten nicht auf den Krach, auf die Baustelle, auf die Leere, die sich hinter dem Zaun auftat, sondern unterhielten sich. Kinder tobten auf den Wegen, lachten oder weinten, fassten ihre Mütter oder Väter an den Händen und zogen sie voran zum nächsten Gehege. Andere Besucher blieben erstaunt stehen, suchten eine Erhöhung, um einen Blick über den Zaun zu werfen und konnten nicht fassen, was sie sahen. Wo ehemals das Eismeer gestanden hatte, war nun nichts außer Schutt und Geröll. Zwei Bagger schaufelten die Überreste des Geheges von einer Stelle zur anderen, später wurde der Schutt auf die Ladefläche eines LKWs geladen, der die Berge aus Beton und Steinen wegfuhr.

An Seebären, Robben oder Pinguine, an vergangene Zeiten, als der Kaiser zu Besuch gewesen war, erinnerte nichts mehr. Dies alles war mit dem Abriss des Eismeers verschwunden und würde erst mit einem Neubau wiedererstehen.

Und es beginnt mit der Suche nach der eigenen Geschichte, der eigenen Identität.

Jede Familie hat eine Geschichte zu erzählen. Die eine mag spannender oder mysteriöser sein als die andere. Doch immer gibt sie Aufschluss über die Identität, die Herkunft. Aber was ist, wenn die Vorfahren unbekannt sind? Dann beginnt die mühsame Suche durch einen Wust aus Blättern. Wenn die Kirchenbücher, Urkunden und Auswanderungslisten nicht weiterhelfen, bleibt man mit der Suche stecken. Mitunter hilft einem der Zufall weiter. Dieser treibt manchmal seltsame Spielchen, die niemand nachvollziehen, aber einen durchaus weiterbringen kann. Und dieser Zufall spielt häufiger mit als man denkt.

Es beginnt mit dem Abriss eines hundert Jahre alten Geheges.

Die Arbeit ging gut voran. Der Abbruch der Konstruktion aus Beton, Mauersteinen und Eisenstangen war planmäßig verlaufen. Die äußere Betonschicht war ziemlich brüchig gewesen und an einigen Stellen bereits abgebröckelt, die darunter folgende Schicht aus Mauersteinen hatte den beiden Baggern an einigen Stellen Mühe gekostet, doch letztendlich hatten die Maschinen den Kampf über die Standhaftigkeit der Mauern gewonnen.

Der durch den Abriss entstandene Schutt sollte auf LKWs verladen werden bis die gesamte Baustelle vom Unrat befreit war und man mit dem Ausheben des Bodens beginnen konnte.

"So ein verfluchter Mist!", kam es aus dem Munde des Baggerfahrers. Erneut hatte sich die Baggerschaufel in einem losen Haufen Steine verkeilt und ließ sich weder nach vorne noch nach hinten bewegen. Es war nicht das erste Mal an diesem Tag, dass dies passierte. Murrend stieg der Baggerfahrer aus seiner Kabine und ging nach vorne, um die Schaufel vom Schutt zu befreien.

Verärgert warf er einige größere Brocken beiseite, als er auf einmal etwas glitzern sah.

Diese Eisenstangen zerstören noch die Schaufel, ging es dem Baggerfahrer durch den Kopf, fürchtete er doch, dass eine Eisenstange sich in den Freiräumen der Schaufel verkeilt und verbogen hatte. Der Schaden wäre nicht erheblich gewesen, aber die verbogene Eisenstange zu entfernen, hätte zusätzliche Arbeit bedeutet.

Er hatte die groben Schuttstücke von der Baggerschaufel entfernt und schob nun die kleineren Stücke mit der Hand beiseite, als er auf einmal einen Widerstand an seinen Fingern spürte. Er hielt inne, nahm die Hand zurück, das Gefühl, etwas schneide in sein Fleisch, ließ nach und er sah, was sich an seinen Fingern verhangen hatte. Es war dünnes, aber festes Seil.

"Wer zum Teufel...?", schrie der Baggerfahrer, doch verstummte sofort, als er sah, woran das Seil befestigt war. Das Seil war um einen Krug gewickelt, der aus Ton zu bestehen schien. Zeichen waren in das Gefäß eingeritzt. Ein Mann, der nur seitlich dargestellt war, übergab einem anderen Mann, der eine seltsame Kopfbedeckung trug, einen Gegenstand, vielleicht eine Rolle. Doch viel interessanter war das angebliche Seil. Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich nämlich als etwas weitaus Wertvolleres. Es handelte sich um eine Kette, die aus purem Gold zu bestehen schien.

Hastig blickte sich der Baggerfahrer um, doch niemand der auf der Baustelle Anwesenden schien etwas bemerkt zu haben. Alle fuhren in ihrer Arbeit fort. Schnell nahm er den Krug, warf seine Jacke darüber und trug ihn in die Fahrerkabine des Baggers, wo er seine Tasche hatte, in die er eilig den Krug stopfte. Einzig der gesplitterte Rand des Gefäßes guckte noch aus der Tasche hervor.

Wie er diesen unförmigen Gegenstand nur ungesehen nach Hause transportieren konnte? Seine Tasche war zu klein und seine Jacke konnte er nicht unauffällig über den sperrigen Gegenstand aus Ton legen, ohne dass jemand ihn darauf angesprochen hätte, wenn er die Baustelle verließ.

Aber bis er Feierabend hatte vergingen noch einige Stunden. Bis dahin würde ihm sicherlich eine Lösung einfallen.

Zur gleichen Zeit, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, öffnete eine junge Frau auf dem Dachboden ihres Hauses eine alte Holztruhe. Sie war auf der Suche nach Dokumenten ihrer Vorfahren.

Ein braunes Tuch bedeckte den Inhalt. Andächtig zog die junge Frau das Tuch weg, sog den muffigen bekannten Geruch ein und starrte auf einen Stapel dünner blauer Hefte. Zwei Stapel lagen ordentlich nebeneinander gelegt in der Truhe.

"Claire Justine. Pascal Justine", las sie auf den Etiketten der beiden zu oberst liegenden Hefte. "Geschwister oder Eheleute? Wer ward ihr?"

Die Namen waren der jungen Frau bekannt, wer sie gewesen waren, konnte sie nicht sagen. Über die Familie ihres Vaters und ihres Großvaters war ihr kaum etwas bekannt. Ihr einziger Hinweis auf die Vorfahren ihres Großvaters war ein Ring, den sie von ihrem Bruder geschenkt bekommen hatte.

Gedankenverloren strich sie über das Schmuckstück, das aus einem Udjatauge geformt war, die Pupille war mit einem blauen Stein gefüllt, der durch den Lichteinfluss golden glitzerte. Vorne endete der Ring in einem flachen Leopardenkopf. Je nach Laune der jungen Frau sah man entweder das Udjatauge oder den Leopardenkopf an ihrem Finger.

Woher der Ring stammte, wusste sie nicht, ihr Bruder hatte ihr nur noch sagen können, dass dieser Ring der Schlüssel zu ihren Vorfahren sei. Sie sei nun die Hüterin der Ewigkeit, was auch immer Knut damit gemeint haben konnte. Bis jetzt hatte es sich ihr nicht erschlossen. Ihrem Bruder war es wichtig gewesen, dass sie den Ring bekam und niemand anderes aus der Familie.

Dies war vor fünfeinhalb Jahren gewesen. Und nun, nach dem Tode ihres Großvaters, machte sie sich endlich auf die Suche nach ihren Vorfahren. Sie hätte schon viel früher beginnen sollen.

Sie nahm ein Paar Baumwollhandschuhe von einem Regal und zog sich diese über, nahm anschließend eines der Hefte aus der Truhe und blätterte es durch.

Die Seiten waren dicht mit altdeutscher Schrift beschrieben worden, nur Zeichnungen unterbrachen diesen Fluss aus Buchstaben. Auf einer Seite war eine Art Vase abgebildet, wo eine Figur einer anderen etwas übergab.

Die Rollen des Seth

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