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Nordsee, 1912

Das Schiff schaukelte stark. Masut saß unter Deck und umklammerte einen mit Stoff verhüllten Gegenstand. Weiß war der Stoff einmal gewesen, nun hatte er sich durch die lange Reise gräulich verfärbt. Nie gab er den Gegenstand aus der Hand oder ließ ihn unbeobachtet liegen. Von den anderen wurde er wegen seines seltsamen Verhaltens ausgelacht, verspottet oder einfach nur schief angesehen. Ihn störte es nicht weiter, sollten die anderen ihn für verrückt halten, er würde seine Aufgabe erfüllen.

Seine Familie war durch den Gegenstand, den er wie seinen Augapfel hütete, in ständiger Todesgefahr. Immer wieder waren Mitglieder seiner Familie bedroht und ermordet worden. Dies begann, als seine Vorfahren in den Besitz dieses Gegenstandes gelangten.

Es war nach Ende der Regierungszeit Echnatons, des verfemten Pharaos, gewesen. Seine Vorfahren hatten zum königlichen Kreis in Achet Aton gehört. Erst als Leibdiener, später als Berater des Pharaos. Für jemanden, der seine wahre Herkunft verleugnen musste und ausgab, aus dem niederen Stand der Fellachen zu stammen, einer Bevölkerungsschicht, die zu Zeiten der Pharaonen zu allerlei Frondiensten herangezogen wurden, war dies ein großes Privileg gewesen. Sein Vater hatte ihn auf die Schreibschule geschickt, wo man sein Talent und Geschick erkannt hatte. Und so war er an den Hof des Pharaos zurückgekehrt, den Ort, an dem seine Vorfahren gelebt und geherrscht hatten.

Masuts Vorfahr hatte die Zeit des verfemten Pharaos miterlebt und nach dem Tode Echnatons und seiner nächsten Angehörigen seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Allerdings wurde er schon bald danach bedroht, ein Mordanschlag auf ihn verübt, dem er nur mit Glück entkommen konnte, sein Sohn getötet. Als er seine Lebensgeschichte am Hofe des verfemten Pharaos beendet hatte, traten Ereignisse ein, die ihn zwangen, Hals über Kopf aus Achet Aton zu fliehen. Die Rollen hatte er in ein Gefäß gesteckt und versiegelt, dass jeder denken sollte, es handle sich um einen Weinkrug. Doch ganz egal, wohin er ging, die Schergen des neuen Pharaos spürten ihn immer wieder auf, nirgendwo war er sicher. Als er eine neue Frau kennen lernte und mit ihr eine Familie gründete, fertigte er eine Abschrift der Rollen an und übergab sie seinen Verfolgern. Er hoffte, man würde nun von ihm ablassen und sein Leben und das seiner Familie verschonen.

Von da an hatte er Ruhe und musste nicht mehr um sein Leben fürchten, bis zu dem Tag, an dem er seinem ältesten Sohn einen Ring, eine Kette und die Originalrollen übergab. Wieder wurde er bedroht und verfolgt. Die lange Zeit der Ruhe und der Sicherheit war trügerisch gewesen und nun endgültig vorbei.

Es begann von neuem. Doch er war des Kämpfens müde, wollte nicht mehr fliehen und sich nirgendwo sicher fühlen. Er ließ sich im Nildelta nieder und wartete auf seinen Tod, der ihn schneller ereilte, als er es vermutet hatte. Seine Nachfahren, die Vorfahren Masuts, gaben das Geheimnis der Rollen an ihren jeweils ältesten Sohn weiter, der die Rollen schützen und bewachen sollte. Viele gaben ihr Leben für die Rollen, selbst als das Pharaonenreich zusammenbrach und Ägypten römische Provinz wurde, war seine Familie nicht sicher. Die Rollen bestimmten maßgeblich das Leben seiner Vorfahren.

Lange Zeit war nichts geschehen, doch als sein Vater und sein älterer Bruder kurz hintereinander starben, war Masut entschlossen, die Rollen außer Landes zu bringen. An einen Ort, wo niemand die Wahrheit erfahren könnte. Doch nicht nur von den Rollen ging eine Gefahr aus, sondern auch von der Kette, von der die Legende sagte, dass Nofretete, die Gemahlin des verfemten Pharaos, sie Masuts Vorfahren übergeben hätte. Die Kette durfte nicht getragen werden. Wer sie trug, war innerhalb weniger Tage oder Wochen tot.

Über lange Zeit war sich der junge Ägypter nicht im Klaren darüber, wie er die verfluchten Gegenstände außer Landes bringen sollte. Die Gelegenheit dazu ergab sich schon sehr bald. Als fremde Männer in sein Dorf kamen und von einem fernen Land sprachen, dass die Lebensweise seines Volkes kennenlernen wollte, bemühte er sich, in die Gruppe zu gelangen, um die Rollen, die das Leben seiner Familie bedrohten, für immer verschwinden zu lassen.

Noch während er sich von seiner Familie verabschiedete und schließlich das Schiff bestieg, das ihn und seine Mitstreiter nach Deutschland bringen sollte, wusste er, dass er nie mehr wiederkehren würde.

Völkerschau nannte sich, wofür er sich gemeldet hatte. Einige Menschen eines Volkes kamen in einen Zoo, wo sie in einer möglichst naturgetreuen Umgebung den dortigen Menschen ihr Stammesleben näherbringen sollten. Oft waren diese Menschen nur Angaffungsobjekte der Besucher, die oft nicht die eigenen Landesgrenzen verließen, wenn sie überhaupt aus der Stadt oder dem Dorf rauskamen.

Masut fürchtete sich vor der großen Reise. Seine Familie hatte er zurückgelassen und machte sich nun allein auf eine Fahrt ins Unbekannte, ins Ungewisse. Andererseits war er unglaublich erleichtert darüber, dass niemand ihn zu verfolgen schien. Es musste ihm gelungen sein, die Verfolger abzuschütteln. Wahrscheinlich vermuteten sie die Gegenstände noch bei seiner Familie.

Seine Reisegefährten mieden ihn, wenn sie ihn nicht gerade verspotteten. Sie hatten ihn nicht dabei haben wollen, da er ihnen nur Unglück brächte. Das Schicksal seiner Familie war ihnen allen bekannt, schließlich kam es nicht oft vor, dass jemand ermordet wurde. Dass dies in einer Familie der Normalfall war, konnte nichts Gutes bedeuten. Sie mussten den Gott der Wüste, Seth, erzürnt haben. Auch wenn das Christentum und der Islam den heidnischen Götterglauben abgelöst hatten, glaubte man dennoch, dass Seth, der Gott des Bösen, sich gegen die Familie gewandt hatte. Aus diesem Grund hatte der Urururgroßvater Masuts den Rollen die Bezeichnung Die Rollen des Seth gegeben.

Das Amulett des Todes hatte Masut an den Henkel des Kruges befestigt. Er traute sich nicht, die Kette mit den Rollen zusammenzubringen, obwohl er nicht daran glaubte, dass unglückbringende Gegenstände zusammen noch größeres Unglück brächten.

Wasser drang ein und ließ Masut aus seinen Gedanken aufschrecken. Sollte er hier sterben? Während eines Sturms mit dem Schiff untergehen? War seine Stunde bereits gekommen? Sollte er die Rollen über Bord werfen und hoffen, dass der Tonkrug untergehen würde?

"Hast du nicht verstanden?" Ein Mann fasste ihn grob am Arm. "Wasser schöpfen! Verstanden?" Der Mann mit Vollbart und der knurrigen Stimme drückte ihm eine Schüssel in die Hand und schubste ihn, dass Masut beinahe hinfiel und sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. "Schöpfen!", schrie der Mann ihn an und wies auf die Wasserlachen am Boden. Masut nickte und machte sich an die Arbeit.

Er verstand die Sprache der Weißen ein wenig. Nachdem er aufs Schiff gekommen war, hatte er sich mit einem Jungen, einige Jahre jünger als er, angefreundet, der auf dem Schiff arbeitete und von den Matrosen schlecht behandelt wurde. Dankbar für sein freundliches Auftreten, brachte der Junge ihm die deutsche Sprache bei, im Gegenzug versuchte Masut dem Jungen, der auf den Namen Johann hörte, ein wenig das Arabische beizubringen. Masut war ein gelehriger Schüler und ihm fiel es leicht, die Sprache zu erlernen. Nur einige Laute, die Johann als Umlaute bezeichnete, machten ihm Schwierigkeiten. Lange blieb nicht verborgen, dass Masut Deutsch verstand, sodass er als Übersetzer für seine Landsleute fungieren sollte. Die waren von der Idee nicht sehr begeistert und reagierten mit Ablehnung, doch ihnen blieb keine andere Wahl, als den Bestimmungen der weißen Männer zu folgen. Diese Entscheidung verbesserte Masuts Rang innerhalb seiner Landsleute keineswegs. Stattdessen wurde er nur noch mehr gemieden, doch ihn störte es nicht. Sollten sie ihn nur in Ruhe lassen, dann würden sie sich auch nicht für den Inhalt des Tuches interessieren, dass er immer bei sich trug.

Wieder schien Licht durch die Öffnung der Luke. Als Masut hochsah, entdeckte er einen Kopf mit blondem Haar.

"Morgen oder übermorgen sind wir da". Johann stieg die Leiter herunter. Sein Gesicht wirkte traurig, das konnte Masut trotz des dämmrigen Lichts erkennen. "Dann sehen wir uns nie wieder".

Traurig umarmte Johann den jungen Ägypter. Dieser tätschelte ihm hilflos den Kopf. Er wusste nicht, wie er seinen Freund aufheitern sollte. Nie hatte er sich während der Überfahrt Gedanken gemacht, dass der Junge in ihm einen Freund sah, den er durch das Ende der Überfahrt nun verlor. Johann hatte seine Eltern verloren, als er sieben war und kam zu einer Tante, die ihn schnellstens wieder loswerden wollte. Mit zehn Jahren hatte sie ihn an den Kapitän dieses Schiffes verkauft, wo er seitdem jeden Tag bis zur Erschöpfung arbeitete und der Spielball der Matrosen war. Es musste ein furchtbares Leben sein. Obwohl Masut nur wenig mitbekommen hatte, war ihm nicht entgangen, dass Johann nicht glücklich mit seinem Leben war.

"Komm mit", kam es aus Masuts Mund, bevor er über die Worte nachdenken konnte. Johanns Augen wurden groß und größer vor Verwunderung, dann lächelte er.

"Meinst du wirklich? Ich soll euch begleiten?" Sein Lachen verschwand so schnell, wie es auf sein Gesicht gekommen war, dann wandte er sich traurig ab. "Es geht nicht. Ich sehe völlig anders aus."

Der Ägypter legte seinem Freund mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Er musste seinem Freund helfen, wenn er ihn nicht enttäuschen wollte. Er spürte die Traurigkeit, die sein Gegenüber erfasst hatte. Wie sollte er ihm helfen? Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Johann. Der Junge war von schmaler Statur, hatte strohblonde Haare und eine helle Haut. Ein schwarzer Strich ging über sein Gesicht. Mit dieser blassen Haut würde Johann nie mit ihnen kommen können. Doch so schnell gab Masut nicht auf. Wenn sein Freund mit ihm kommen wollte, sollte es nicht an seinem Aussehen scheitern. Noch einmal betrachtete er Johann. Die Farbe seiner Haut musste dunkler werden, daran bestand kein Zweifel. Der dunkle Strich, der Johanns Gesicht durchzog, fiel ihm ins Auge. Er fuhr über den dunklen Fleck und sah sich seinen Finger an. Dunkler Staub haftete an diesem, den er nun verrieb bis er verschwunden war.

"Was ist das?", fragte er, da er keine Vorstellung davon hatte, wie Johann unauffällig das Schiff verlassen konnte. Der dunkle Fleck hatte aber einen Gedanken in seinem Kopf ausgelöst, der langsam zu einer Idee heranreifte.

"Kohlenstaub. Ich musste Kohle schippen, damit der Kapitän es in seiner Kajüte warm hat. Ihr natürlich auch. Warum fragst du?"

"Mir ist eine Idee gekommen. Du wirst mit mir das Schiff verlassen, wie ich gesagt habe".

"Und wie? Sag's mir!"

Johann hatte den Arm seines Freundes ergriffen und drückte und zog ihn ungeduldig, das Masut schmerzhaft das Gesicht verzog. Er nahm es dem Blondschopf nicht übel. Er wusste, welche Erleichterung es für Johann sein würde, für immer das Schiff verlassen zu können.

"Du wirst dich einreiben - mit Kohle."

Ungläubig starrte Johann ihn an. Wie sollte das gehen? Kohle hielt nicht ewig auf der Haut. Es müsste immer erneuert werden. Und was sollte geschehen, wenn die Gruppe wieder in die Heimat reisen würde? Er konnte doch nicht mit nach Ägypten. Dort gehörte er nicht hin, aber auf dieses Schiff gehörte er noch weniger.

"Wie soll das gehen? Wenn ich euch begleiten soll, muss ich mich immer wieder mit Kohle einreiben. Wie willst du Stücke davon mitnehmen, ohne dass es auffällt? Wie falle ich nicht auf? Die anderen werden doch merken, dass ich nicht zu euch gehöre. Das ist absolut unmöglich. Es geht nicht."

Masut musste lachen. Johann machte sich viel zu viele Gedanken. Er hatte nicht alles verstanden, was sein Freund ihm gesagt hatte, aber all diese Sorgen brauchte er sich nicht zu machen. Er sollte die Dinge auf sich zukommen lassen, dann würde man sehen. Entdeckt würde Johann sicherlich, aber er war erst einmal von dem Schiff runter, wo er sich nicht wohlfühlte.

"Warte ab. Die Zeit wird es zeigen. Dein Schicksal wird dich führen."

"Schicksal?" Johann war sprachlos. An so etwas wie Schicksal glaubte er nicht. Seit dem Tod seiner Eltern war all das Unglück über ihn hereingebrochen, wie er es sich in seinem noch jungen Leben nicht hatte vorstellen können. Doch was sollte er erwarten? Schlimmer als sein bisheriges Leben konnte es nicht werden.

"Schicksal, genau. Es hat gewollt, dass wir uns treffen. Es wird dafür sorgen, dass du mit mir kommst." Masut spürte, dass Johann nicht ganz überzeugt war. Die Idee schien ihm zu gefallen, doch er wusste nicht, was ihn erwartete, was aus ihm würde, wenn diese Völkerschau vorüber war. Dies wusste Masut selbst nicht, dennoch wollte er Johann nicht entmutigen. "Du wirst sehen, es wird alles gut werden."

Johanns Augen begannen zu leuchten. Endlich war der Augenblick gekommen, wo er dieses Schiff verlassen konnte. Seitdem im April die Titanic, die als das modernste Schiff ihrer Zeit galt, mit einem Eisberg kollidiert und gesunken war, obwohl sie als unsinkbar galt, hatte Johann bei jeder Fahrt Angst, dass etwas passieren könnte. Was ihn noch erwarten würde, darüber machte er sich keinen Kopf. Er war beseelt von dem Gedanken mit seinem neuen Freund gemeinsam das Schiff zu verlassen.

"Dann hole ich die Kohle. Um diese Zeit haben alle mit sich zu tun, und das Vorratslager wird erst am Ende der Reise überprüft. Es wird niemandem auffallen, dass ein paar Stücke fehlen."

Schnell rannte er zur Luke, sah sich noch einmal kurz um und verschwand in einem hellen Loch.

Masut blieb allein zurück. Ganz allein war er nicht, seine Dorfnachbarn befanden sich am Ende des Raums und unterhielten sich angeregt. Als er sich mit Johann unterhalten hatte, war er von den anderen argwöhnisch beäugt worden. Glücklicherweise hatten sie nicht verstanden, worüber sie sich unterhalten hatten. Dazu hätten sie der Sprache mächtig sein müssen und das waren sie nicht. Verstanden allenfalls einige Wörter, doch einem Gespräch konnten sie nicht folgen. Aber es würde schwierig werden, Johann als einen der ihren auszugeben. Sie würden ihn nicht akzeptieren, ihn eventuell sogar ausliefern. Dies musste er verhindern und dazu würde ihm der Unheilsbringer in seiner Hand helfen.

Die Rollen des Seth

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