Читать книгу Das Torhaus - Helga Dreher - Страница 10
ОглавлениеKAPITEL 4
Der Sirenenton war jetzt noch durchdringender als die anderen Male. Irgendwie hört das nicht mehr auf, dachte Alma irritiert. Gleichzeitig fühlte sie, dass sich ihr Bett in gleichmäßigem Rhythmus bewegte.
„Hallo, bleiben Sie wach, wir sind gleich …“, hörte sie eine Stimme, weit entfernt und schwächer werdend. Das wird sich alles geben, ein böser Traum dachte sie noch, beim nächsten Aufwachen ist er vergessen. Sie fühlte sich schläfrig und schloss die Augen wieder. Alles würde sich klären …
„Frau Winter! Können Sie mich hören, Frau Winter?“ Alma öffnete ihre Augen und diesmal konnte sie die Lider ganz heben. Zwei fremde Gesichter erschienen links und rechts in ihrem Blickfeld, und nach einem kurzen Augenblick konnte sie auch die dazugehörigen Körper sehen, weiß bekittelt verdeckten sie helles Licht unter einer hohen Zimmerdecke.
„Sie sind im Krankenhaus, Frau Winter. Sie hatten einen Unfall“, sprach eines der Gesichter langsam und eindringlich auf sie ein. Es war eine Männerstimme, die ruhig und unaufgeregt klang. „Wir haben Sie untersucht und versorgt. Halten Sie vor allem Kopf und Hals still, und auch den linken Arm sollten Sie im Moment möglichst wenig bewegen. Bleiben Sie ganz ruhig, Frau Winter. Schwester Silke kümmert sich um Sie.“
Gut, dachte Alma, nicht so schlimm. Ich kann sehen und hören. Ich kann – sie machte unter der Decke einige vorsichtige Bewegungen – Hände und Füße spüren. Allerdings machte ihre linke Hand eine Ausnahme, fühlte sich eher etwas taub an. Aber nicht sehr taub, nur ein wenig.
Das Bett, in dem sie lag, wurde bewegt, einen Korridor entlang geschoben und durch eine geöffnete Tür in ein Zimmer gefahren. Alma lag sehr flach und konnte nicht viel sehen. Kopf und Hals waren in eine Polsterung eingebettet und angenehm gestützt. Ihr rechter Arm lag auf der Bettdecke und fühlte sich normal an, bis auf eine Kanüle, die aus dem Arm ragte und von der ein durchsichtiger Schlauch nach oben zu einem Gefäß führte. Kochsalzlösung, dachte Alma, die vor zwei Jahren operiert worden war und sich jetzt wieder an Umstände wie diese erinnerte. Oder vielleicht ein Schmerzmittel, fiel ihr ein. Sie suchte mit den Augen ihren linken Arm und sah, dass der Unterarm in einem dicken, unbeweglichen Verband steckte. Ermüdet schloss sie die Augen. Und begann sich zu erinnern: Sie war im Haus gewesen … war hinauf in das „Schlafzimmer“ gestiegen … wollte wieder nach unten, die Treppe hinunter, die Treppe … die Treppe …
„Guten Tag, Frau Winter! Ich bin Dr. Behringer. Sie sind im Klinikum in Weimar, auf der chirurgischen Station. Sie hatten einen Unfall, sind offensichtlich aus einer größeren Höhe gefallen und haben sich verletzt. Zeitweise waren Sie bewusstlos, deshalb haben wir Sie zunächst sehr gründlich untersucht. Um Sie gleich zu beruhigen – Sie haben Glück gehabt. Wir haben keine Kopfverletzung diagnostiziert, Schädeldecke und Wirbelsäule sind ohne Befund. Am Rücken haben Sie ein paar Prellungen, ein HWS-Syndrom und ich gehe von einer Gehirnerschütterung aus. Deshalb haben wir Kopf und Hals erst einmal ruhiggestellt.“
„Und was ist mit meinem Arm?“ Alma versuchte, ihren linken Arm zu heben und hinzuzeigen, ließ ihn aber mit einem Schmerzenslaut wieder auf das Bett sinken.
„Ja, Ihr linker Arm ist gebrochen. Glatter Bruch, ist versorgt, kein Problem. Heilt in acht Wochen. Frau Winter, wissen Sie, was passiert ist?“
„Es ist mir eben wieder eingefallen. Ich muss die Treppe hinuntergefallen sein. Oder eher glaube ich, dass die Treppe eingebrochen ist, so etwas in der Art. Ich wollte mich festhalten, aber irgendwie war kein Halt zu finden. Daran erinnere ich mich. Und an die Sirene, sehr laut und nah …“
„Das hört sich doch sehr gut an, also keine relevante Gedächtnislücke, Frau Winter. Nun lassen Sie Kopf und Hals ein paar Tage Ruhe, das geht am besten bei uns hier. Na, und den Bruch können Sie dann samt Verband mit nach Hause nehmen. Wir sehen uns heute Abend noch einmal.“
„Ja, aber wie …“ Alma wollte noch etwas Wichtiges fragen, doch der Arzt war schon hinausgeeilt und hatte die Tür des Krankenzimmers fest hinter sich geschlossen.
Nach Hause …? Zu Hause war sie in Berlin. Oder besser, sie wohnte dort. Hier war sie aber doch in Weimar. Plötzlich fiel ihr ein, was sie den Arzt fragen wollte. Wie in aller Welt war sie in den Krankenwagen gekommen?
Sie war allein ins Torhaus gegangen, das wusste sie noch, hatte mit dem Schlüssel geöffnet, den ihr Benjamin Lenk im Anwaltsbüro zusammen mit einigen Papieren gegeben hatte. Sie könne ja am darauffolgenden Tag vor ihrer Abfahrt noch einmal ins Haus gehen und sich alles ganz genau und in Ruhe ansehen. Das hatte sie nach einem Frühstück am erfreulich reichhaltigen Büfett des Liszt-Hotels getan. Vorher hatte sie, rotweingestützt, gut im Hotelbett geschlafen und sich am Morgen frisch und unternehmungslustig gefühlt.
Ihren Koffer hatte sie nach dem Auschecken im Hotel gelassen und war die wenigen Schritte bis zum Torhaus gelaufen. Vor dem Busbahnhofskiosk war Moni gerade beim Geschirrabräumen gewesen und Alma hatte eine Handbewegung in ihre Richtung gemacht – ein wenig so, wie man einer Nachbarin zuwinkt, die man häufig sieht, aber nicht näher kennt. Moni hatte genickt, fast freundlich, und Alma hatte für einen Moment sogar geglaubt, ein Augenzwinkern in ihre Richtung erkennen zu können, aber da hatte sie sich wohl getäuscht. Von Holger war nichts zu sehen. Der Stehtisch war gut besucht gewesen, mehrere Busfahrer in blauen Hemden und mit Kaffeetassen standen zusammen.
Sie hatte aufgeschlossen und war dann herumgegangen, um möglichst viele Fenster zu öffnen und den muffigen Geruch hinauszulassen. Dann war sie die Treppe hinaufgestiegen, hatte das schöne halbrunde Fenster geöffnet und sich hinausgelehnt. Dabei war ihre Bluse schmutzig geworden, einer der Fensterflügel aus den Angeln gefallen und unten durch die Zugluft wohl ein Fenster zugeschlagen. Sie hatte Scherben fallen hören – oh nein, jetzt ging das Haus schon bei ihrem ersten Besuch zu Bruch – und war erschrocken nach unten gerannt. Oder wollte nach unten rennen. Sie war auf der Treppe ausgerutscht, hatte sich festhalten wollen, aber das Treppengeländer hatte ein knackendes Geräusch gemacht und war plötzlich nach links weggerutscht. Sie hatte den Halt verloren, einen scharfen Schmerz verspürt – das war es, woran sie sich erinnerte. Hatte sie bei diesem Fall aufgeschrien? Vermutlich ja, das war ihre Art. Bei Schmerzen hatte ihr schon immer kräftiges und lautes Jammern sehr geholfen.
Als Nächstes erinnerte sie sich an die Sirene. Wie war sie in den Krankenwagen gekommen? Jemand musste den Notarzt gerufen haben. Und wie war der ins Haus gekommen? Sie hatte doch sicher die Haustür hinter sich geschlossen, und die war solide, hatte außen einen Knauf und keine Klinke.
Du hast eine Gedächtnislücke, Alma. Einen Blackout, wie man sagt. Oder Amnesie? Du hast mit Sicherheit nicht nur einen gebrochenen Arm. Da ist mehr mit dir passiert, was immer der Arzt behauptet – womöglich nicht zu reparieren.
Alma legte ihren Kopf resigniert tiefer in die Halsstütze und fühlte, wie Tränen kamen, wie sie schluchzen musste, einen Weinkrampf bekam.
„Aber, aber, das wird doch alles wieder.“ Alma spürte, wie jemand ihre Hand fasste und beruhigend streichelte. Sie schaute vorsichtig auf und sah eine Frau neben ihrem Bett stehen. Sie trug ein graues T-Shirt über einer weiten Hose, stützte sich auf einen Stock und war definitiv keine Schwester. Jetzt erkannte Alma aus dem Augenwinkel, dass neben ihrem Bett ein zweites im Zimmer stand. Dem war ihre Trostfrau offensichtlich hastig entstiegen, denn die Bettdecke war aufgeschlagen und halb heruntergerutscht.
„Sie haben sicher einen Schock, da muss man weinen, das ist ganz normal. Und dann plötzlich im Krankenhaus, man weiß ja gar nicht, wie einem geschieht. Lassen Sie Ihre Tränen ruhig fließen, lassen Sie alles heraus, dann geht es gleich besser.“
Alma schluchzte noch einige Male, fühlte sich aber schon nicht mehr so elend wie noch eben. Nach wenigen Augenblicken war sie wieder klar und schaute ihre Bettnachbarin verlegen an.
Die Frau war älter als sie, „Mittelalter“ pflegte Alma sonst zu denken, über vierzig jedenfalls. Sie war schlank und hatte kurzes dichtes Haar, gut geschnitten, mit blonden Strähnen über dunklen Wurzeln. Aus ihrem sehr gepflegten Gesicht, das ebenmäßige Züge und viele kleine Lachfältchen schön machten, schaute sie mitfühlend auf Alma hinunter. Ihr Lächeln wirkte heiter und fast ansteckend. Alma lächelte zurück, sie fühlte sich erleichtert und getröstet. Wie hatte ihre Bettnachbarin gesagt? Es würde schon alles werden.
„Wir sind hier in der der Unfallchirurgie, im Zimmer 302. Ich bin Sieglinde Roth, seit zwei Tagen hier, Unterschenkelbruch und ein paar Schrammen, gut verteilt. Autounfall. War ich selber. Zum Glück nur an einem Baum vorbeigeschrammt und auf die Seite gekippt, hab keinen anderen mit hineingezogen. Darüber bin ich heilfroh, das kann ich Ihnen sagen.“
Alma fühlte ihren Herzschlag stolpern, ein kurzes Stechen in der Brust, der Atem drohte eng zu werden. Keinen anderen mit hineingezogen … Froh … Zum Glück … Ach Mama, kein Glück für dich damals. Für Sekunden wieder dieser tiefe Fall in Trauer und Wut, dann gelang es Alma durchzuatmen und sich zu fassen.
„Und Ihr Bein? Wird es wieder …?“ Ganz heil, wollte Alma sagen, unterbrach sich aber rechtzeitig. Wer wusste schon, welche medizinische Problemlage hier bestand?
„Wie ich gerade zu Ihnen gesagt habe – wird schon wieder. Jedenfalls glaube ich fest daran, und der Oberarzt hat mir gute Hoffnung gemacht – Sie wissen, wie ich’s meine“, lachte sie fröhlich, „mehr medizinisch gesehen. Schön, dass Sie schon wieder ein wenig lächeln können.“
Damit nahm Bettnachbarin Sieglinde Roth eine große Tasse von ihrem Nachtschrank und schwenkte sie ein wenig in Almas Richtung. „Kaffee, gibt’s hier auf dem Gang, jederzeit verfügbar. Soll ich Ihnen …?“
„Vielen Dank … autsch!“ Alma wollte heftig mit dem Kopf schütteln, gab es aber sofort auf. „Ich bin sonst eine richtige Kaffeetante, aber im Moment ist mir irgendwie komisch im Magen. Vielleicht später“, fügte sie hinzu, worauf Sieglinde Roth nickte, ihre Tasse und den Stock nahm und aus dem Zimmer humpelte. Alma schloss erschöpft die Augen.
„Hier ist sie, Herr Lenk!“, klang wenig später eine laute Stimme aus der Richtung der Zimmertür, die sich jetzt weit öffnete.