Читать книгу Das Torhaus - Helga Dreher - Страница 8

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KAPITEL 2

Im Zug von Berlin nach Weimar hatte Alma die beiden Briefe mehrmals aus dem Rucksack geholt und durchgelesen. Doch das Schreiben des Nachlassgerichts sagte ihr ebenso wenig wie das der Anwaltskanzlei.

Sicher, sie erinnerte sich an Onkel Ewald, der eigentlich der Onkel ihrer Mutter gewesen war. Damit war er ihr Großonkel, oder? Und der Bruder ihrer Oma, oder der Halbbruder? In Omas Familie gab es, so fiel ihr wieder ein, einige „Brüche“, wie ihre Mutter bisweilen mit verschmitztem Lächeln zu bemerken pflegte. Oma hatte auch zwei unterschiedliche Familiennamen besessen, bevor sie Opa heiratete, einen als Kind und einen als junge Frau. Das hatten die Kränzchentanten einmal ausgeplaudert, als Alma bei Oma war. Opa lebte zu dieser Zeit wohl schon nicht mehr.

Omas Mutter, also auch Onkel Ewalds Mutter, hieß auch Alma und war, so der einhellige Tenor aller Erzählungen „von früher“, eine wunderbare Frau und exzellente Köchin gewesen. Sie hatte im Haus des Direktors einer bekannten Porzellanfabrik in Thüringen gedient und gekocht, woran ein Großteil des guten Geschirrs in Omas Büfett erinnerte. So war Almas Vorname eigentlich feinsten menschlichen Ursprungs, was sie allerdings in ihrer Kindheit nicht immer anzuerkennen imstande war. In einer Zeit, in der die Mädchen Angela, Jacqueline (Schacklin gerufen und auf der ersten Silbe betont) oder Mandy hießen, hätte Alma lieber auch einen „modernen“ Namen gehabt. Später allerdings, als die Generation der Paulas, Lucies und Marias heranwuchs, war sie als Alma unauffällig geworden.

Onkel Ewald, daran erinnerte sie sich inzwischen, war „ein hohes Tier“, das jedenfalls pflegten Opa und Oma von ihm zu sagen. Ab und zu war sein Name in der Zeitung zu lesen, manchmal sogar neben oder unter einem Bild. Auf den Fotos stand Onkel Ewald an einem Rednerpult oder schüttelte anderen Männern die Hand, immer in Schlips und Anzug. Sein wallender weißer Haarschopf hob ihn meist aus den älteren und schütteren Köpfen hervor.

Nachdem ihre Großeltern gestorben waren, hatte es keines der großen Familienfeste mehr gegeben, bei denen sich die Generationen trafen. Und nach dem Tod ihrer Mutter hatte Alma nichts mehr von Onkel Ewald gehört. Sicherlich war er nach der Wende auch aus den Zeitungsberichten verschwunden, aber das vermutete Alma mehr, als sie es wusste. Sie war nach Göttingen zum Studium gegangen und hatte ihr Leben an anderen Orten weitergelebt. Nach Thüringen war sie seit Jahren nicht mehr gekommen.

Dass sie jetzt seine Erbin sein sollte, war schwer zu glauben. Kinder hatte Onkel Ewald nicht gehabt, das stimmte, aber Tante Lise war doch seine Frau gewesen, oder? Möglicherweise war sie aber vor ihm gestorben, offensichtlich sogar. Und wieso besaß Onkel Ewald ein Haus in Weimar? Ein „Torhaus“? Er hatte doch immer in der Bezirksstadt gelebt, in seiner großen Blockwohnung im neunten Stock, mit Fahrstuhl, wie Oma nicht ohne Neid zu erzählen wusste.

Onkel Ewald war gestorben, vor vielen Wochen schon. Es hatte wohl gedauert, bis das Nachlassgericht sie, Alma, ausfindig gemacht hatte. Die Kanzlei Rottloff und Kollegen, Rechtsanwälte und Notare, war mit der Abwicklung der Formalitäten betraut worden und hatte sie nach Weimar eingeladen. Dort, so hoffte sie, würde sie auch etwas mehr über Onkel Ewalds letzte Lebensjahre und die Umstände seines Todes erfahren.

Alma faltete die beiden Briefe wieder zusammen und verstaute sie in ihrer Handtasche. Die letzte Station war Naumburg gewesen, die nächste würde Weimar sein, Zeit also, Buch und Zeitungen zu verpacken, den Mantel überzuziehen und sich ins Abenteuer einer rätselhaften Erbschaft zu stürzen.

Benjamin Lenk drehte den Schlüssel im Schloss der Eingangstür zweimal um und öffnete das Haus. „Ich gehe voran, es ist alles etwas … nun, unwirtlich, um es vorsichtig auszudrücken. Vorsicht, nicht stolpern, es liegt einiges herum.“

Er stieg mit großen Schritten über mehrere Kartons und Müllsäcke.

„Das Haus hatten bis zum Ende des Semesters noch Studenten angemietet, als Arbeitsräume und manchmal auch für diverse Feiern, vermute ich. Das war alles noch über Ihren Onkel, Herrn Arnheim, gelaufen. Die Studenten sind inzwischen ausgezogen, haben aber nicht alles wegschaffen können. Die Diplomarbeiten, die Prüfungen, die Partys – na, Sie können sich das vorstellen. Irgendwann demnächst wollen sie die Reste entsorgen, das haben sie mir versprochen.“

Alma schaute sich um. Sie standen in einem kleinen Flur, von dem nach rechts und links geräumige Zimmer abgingen. Sie hatten keine Türen, und statt der Zwischenwände standen nur noch die Stützbalken. Die waren schön dick, Eiche vielleicht, und sahen gut erhalten aus. Alma betrat das linke Zimmer. Es war tatsächlich erstaunlich groß. Durch vier Fenster kam ausreichend Licht nach innen, eines davon ließ im Moment Sonnenstrahlen herein. Alma ging durch den Raum und schaute nach draußen, zuerst zur Ampelkreuzung, dann zum Bürgersteig mit BMW und zuletzt zur Hecke, hinter der sich der Busbahnhofskiosk befinden musste. Doch davor – Alma bekam große Augen – sah sie einen winzigen Garten, der zwar vollkommen verwildert war, aber, umschlossen von der mannshohen Hecke, einen verwunschenen Eindruck machte.

„Das Torhaus hat eine interessante Geschichte, vielleicht haben Sie ja die Tafel neben der rechten Säule bereits gelesen?“

„Nein, habe ich nicht“, erwiderte Alma und konnte den Blick nur schwer von dem kleinen Garten wenden. „Ich vermute, es war irgendwie ein Tor in einer früheren Stadtmauer?“

„Nicht ganz. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde die Stadt entfestigt, das heißt, die Stadtmauer wurde im Wesentlichen abgerissen. Trotzdem sollten ja an den großen Zufahrtsstraßen, zum Beispiel der Erfurter Straße von Westen, weiterhin Chaussee- und Pflastergelder kassiert werden. Die später gebauten Torhäuser dienten dem Wachpersonal als Unterkunft. Dieses hier wurde vom Architekten Clemens Wenzeslaus Coudray gebaut, der zur Goethezeit hier lebte und so etwas wie der Chefarchitekt des Großherzogs Carl August war. Später war das Gebäude Stationsgebäude der Berkaer Bahn. Einen Berkaer Bahnhof gibt es übrigens heute noch in der Erfurter Straße, einige Hundert Meter von hier.“

Gut vorbereitet, dachte Alma. Sie löste sich vom Blick in den Garten und folgte Benjamin Lenk in das gegenüberliegende Zimmer. Es schien spiegelgleich, hatte aber statt der Fenster in der Längswand eine Tür. Der Anwalt öffnete sie und zeigte ihr einen weiteren recht großen Raum. Hier gab es allerdings nur kleine Fenster, alles schien dunkler und roch auch ein wenig muffig.

„Irgendwann wurde dieser Anbau errichtet, zu welchem Zweck auch immer. Ich sehe, Sie riechen es auch, ist wohl der Zahn der Zeit. Vielleicht hilft ja kräftiges Lüften.“

Alma wollte schnell noch zurück zum zweiten Gartenblickfenster gehen, aber ihr Torhausführer war schon nicht mehr zu sehen.

„Kommen Sie, wir schauen noch ins Obergeschoss. Hier, die Treppe hinauf, aber seien Sie vorsichtig, bei dem Geländer bin ich mir nicht so sicher!“

Eine Holztreppe mit einem schön geschwungenen, wenn auch sehr staubigen Geländer führte nach oben. Auf dem oberen Treppenabsatz sah Alma eine Kochplatte auf einer Art Küchenschrank, hier hatten die Studenten wohl gekocht. Sie schaute nach links und holte tief Luft. Wow! Ihr Blick fiel in ein Dachzimmer, mit schrägen Wänden an beiden Seiten und einem wunderschönen breiten Bogenfenster an der Stirnwand. Durch die Scheiben war eine gelbe Hausfassade mit mehreren Fensterreihen zu sehen – das musste die Erfurter Straße mit der Ampelkreuzung sein. Nur wenig leiser als vorher hörte sie die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und erneut den Klang einer Sirene. Entweder hatte Weimar ein hohes Unfallrisiko, dachte sie erstaunt, oder eine schnelle Polizeitruppe oder beides.

Sie blickte sich im Zimmer um. „Schauen Sie doch, hier sind noch Wandöffnungen auf jeder Seite, sieht fast aus wie Geheimtüren. Wo die wohl hinführen? Können wir sie öffnen?“ Alma ging auf eine der beiden Brettertüren zu.

„Vorsicht, lassen Sie mich versuchen. Hier muss man mit allem rechnen.“

Benjamin Lenk drückte die rostige und wackelige Klinke vorsichtig nach unten und schob die Tür auf. „Ich sehe nicht viel, ist wohl eine Bodenkammer. Oder das Refugium der Hausmäuse, wer weiß?“

Alma lachte. „Am besten, Sie lassen mich mal einen Blick … na gut, man sieht nicht viel. Aber wer weiß, was die Torwächter hier hinterlassen haben?“

„Liebe Frau Winter, es steht leider eher zu befürchten, dass es sich um Hinterlassenschaften der Studenten handelt. Aber das wird sich mithilfe einer Taschenlampe – die ich jetzt nicht bei mir habe – später verifizieren lassen. Ich wollte Ihnen ja zunächst einen ersten Eindruck vermitteln.“

Er zog die Tür zu und ging zur gegenüberliegenden Wand. Die dort befindliche Tür ließ sich nicht öffnen. „Irgendwer wird einen Schlüssel haben. Ich kümmere mich, Frau Winter.“

Alma bemerkte, dass der Anwalt nicht sehr diskret auf seine Armbanduhr schaute, und folgte ihm mit Bedauern die Stufen hinab. Am Fuß der Treppe hielt sie jedoch inne und schaute zu Benjamin Lenk auf: „Aber in den Garten können wir doch schnell noch gehen?“

„In den Garten? Ah, Sie meinen den verwilderten Hinterhof – da muss ich sehen, ob der Schlüssel passt.“ Er versuchte es mit dem einzelnen Sicherheitsschlüssel, aber Alma sah gleichzeitig mit ihm, dass es sich um einen alten, stark angerosteten Türbeschlag handelte.

„Ich kümmere mich auch darum, Frau Winter. Nachher rufe ich gleich einen der Mieter an, das muss sich ja irgendwie klären. Auch das Fahrrad vor der Haustür sollte doch irgendeinen Besitzer haben. Glauben Sie, dass Sie fürs Erste genug gesehen haben? Hinreichend eingestaubt sind wir beide auf jeden Fall.“ Damit musterte er seine grau überzogenen Schuhe und klopfte ein wenig an seinem Jackett herum.

Alma hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie ließ ihren Blick nochmals umherschweifen und sah jetzt, in welch schlechtem Zustand sich alles befand, sowohl die fleckigen Wände und Decken als auch die brüchigen Fensterrahmen, Fußböden und Türen. Und trotzdem – tapfer durchgehalten, mein Torhaus, dachte sie bei sich, drehte sich um und folgte dem Anwalt nach draußen.

Die Anwaltskanzlei Rottloff befand sich in einer Stadtvilla. Dr. Lenk parkte das Auto auf einem Hof mit mehreren Stellplätzen und einer kleinen, offenbar frisch bepflanzten Grünanlage mit Büschen und jungen Bäumen. Sie betraten das Haus, in dem sich die Kanzleiräume im Erdgeschoss befanden. Benjamin Lenk öffnete eine Tür und ließ Alma vor sich eintreten. Dies war wohl das Vorzimmer der Kanzlei.

„Na, wie geht es denn unserem Paul, Herr Lenk?“

Die Frau, die gerade aus einer weiteren großen Tür mit ebenfalls zwei Flügeln ins Zimmer trat, erschien Alma wie der Inbegriff der Anwaltssekretärin. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse, schwarze Schuhe mit kleinem Absatz, eher bequem als modisch, und war tadellos frisiert.

„Alles im grünen Bereich, Frau Rottloff. Ein paar Schrammen, die sind jetzt schön blütenweiß verbunden, und einen tüchtigen Schreck, mehr hat er zum Glück nicht davongetragen.“

„Na, da soll er in den nächsten Tagen unbedingt mit Papa bei uns vorbeischauen, das muss doch alles haarklein berichtet werden. Und wir wollen es aus erster Hand, nicht wahr, Jörg?“

„Unbedingt“, erklang eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie gehörte zu einem schlaksigen jungen Mann in dunkler Anzughose und hellgrauem, exakt gebügeltem Hemd, der der Schule noch nicht lange entwachsen sein konnte. Er trug eine Krawatte, die man nur abenteuerlich nennen konnte – Regenbogenfarben mit aufgedruckten Gegenständen. Alma konnte Autos, Bohrmaschinen, Hämmer und Schrauben erkennen.

„Darf ich vorstellen, Dr. Rottloff, Senioranwältin dieser Kanzlei – Frau Winter, unsere Klientin in der Torhaussache. Und Jörg Vollmer, unser Anwaltssekretär. Nun ja, es nennt sich heute anders, wie doch gleich, Jörg?“

„Rechtsanwaltsfachangestellter. Aber, Sie wissen doch, Dr. Lenk, Anwaltssekretär ist schon in Ordnung – passt auch gut zu unserer holzgetäfelten Kanzlei. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Frau Winter, Tee, Kaffee, Wasser? Oder Kombinationen davon?“

Alma war erleichtert über den freundlichen und lockeren Ton, mit dem sie begrüßt wurde. Sie lächelte dem jugendlichen „Sekretär“ zu, bat um Kaffee und Wasser und schaute zu der Frau, die als Dr. Rottloff vorgestellt worden war. Von wegen, typische Sekretärin, dachte sie, da bist du möglicherweise um ein tiefes Fettnäpfchen herumgekommen, Alma.

Die Anwältin schaute sie jetzt konzentriert an und sagte in leicht verändertem, nun recht sachlichem Ton: „Frau Winter, geben Sie doch bitte Herrn Vollmer noch Ihren Personalausweis. Darf ich Sie dann in mein Büro bitten? Herr Lenk und ich werden jetzt das Testament eröffnen. Keine Bange“, fügte sie hinzu, als ob sie Almas Anspannung spürte, „Sie müssen zunächst nur zuhören. Und glauben Sie mir, nichts Schlimmes kommt auf Sie zu. Eher das Gegenteil.“

Die letzten Worte klangen aufmunternd und weniger formell, so dass Alma innerlich noch ein wenig mehr aufatmete. Ein Tablett mit Thermoskanne, Wasserflasche, Geschirr und einem Teller mit Keksen wurde von Sekretär Jörg mit der Andeutung einer Verbeugung auf den Tisch gestellt, und Dr. Lenk bat Alma Platz zu nehmen. Er verteilte Tassen und Gläser, goss Wasser und Kaffee ein und ermunterte sie zuzugreifen. Dr. Rottloff holte indessen eine dünne Akte von ihrem Schreibtisch. Sie setzte sich gegenüber, öffnete die Akte, nahm einige lose Blätter in die Hand und begann, den Text zu verlesen.

Das Torhaus

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