Читать книгу Das Torhaus - Helga Dreher - Страница 13

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KAPITEL 7

„Guten Abend, meine Damen.“ Die Tür hatte sich für eine kleine Gruppe weiß bemäntelter Menschen geöffnet. Ah, Visite. Sieglinde Roth war das erste Ziel und Alma drehte sich diskret weg, als der Arzt mit ihr sprach.

Nur wenige Minuten später wandte sich Dr. Behringer – seine Begleiter trugen außer freundlichen Mienen nichts zur Visite bei – an Alma. Er fragte nach dem Befinden, war mit ihrem Kurzbericht zufrieden, ein leichter Kopfschmerz wäre nur normal, ob sie noch Schmerzmittel brauche, vielleicht in der Nacht, sie möge sich nur an die Schwester wenden, auch spät, dafür sei die Nachtschwester da. Wenn sie es schaffe, diese Nacht noch in ihrer Halsstütze zu liegen, wäre das gut, morgen sähe man weiter. Der Bruch brauche seine Zeit, Geduld sei da angebracht. Und wie schon gesagt, in ein paar Tagen könne man sich vielleicht schon wieder voneinander verabschieden, einen erfolgreichen Heilungsprozess vorausgesetzt.

Freundliches Lächeln und Kopfnicken zu beiden Patientinnen, und die Tür hatte sich schon wieder hinter wehenden Kittelschößen geschlossen.

„Das ging aber flott“, sagte Alma und schaute beeindruckt zu Sieglinde Roth. „Muss es wohl“, meinte ihre Nachbarin, „man liest doch immer wieder, welchen Stress die Klinikärzte haben. Aber ehrlich, als abgefertigt empfinde ich mich als Patientin trotzdem nicht. Im Gegenteil, ich vermute, wenn es wirklich ernst ist, bekommt man hier auch volle Aufmerksamkeit.“ Alma nickte zustimmend, was sollte sie als Neuling dazu auch sagen.

„Nach Feierabend kommt mich mein Mann besuchen, er arbeitet außerhalb und ist immer erst gegen sieben zu Hause.“ Man sah Sieglinde Roth an, dass sie sich auf den abendlichen Besuch freute. „Wenn ich meinem Horst erzähle, wie Moni Sie heute Mittag überfallen hat – das glaubt er nicht!“ Nach kurzem Zögern fuhr sie fort, „Wir sind seit unserer Kindheit befreundet, mein Mann und ich, Monika und ihr Ex-Mann, sind alle in die gleiche Schule gegangen, in die Pesta – Pestalozzi-Schule für Nicht-Weimarer – sind zusammen in die Disco und später schwofen gegangen, die Kinder kamen in ähnlichen Abständen, wenn auch nicht in den gleichen Jahren … Ja“, seufzte sie, „das war doch eine schöne Zeit, eigentlich.“ Sie schaute Alma prüfend an: „Sie sind sicher aus dem Westen?“

Au, dachte Alma und lächelte, jetzt hast du aber Glück. „Ich bin aus Ostthüringen, Frau Roth, aus Neustadt, da bin ich zumindest aufgewachsen. Später habe ich allerdings in Göttingen studiert, ein paar Jahre in England gelebt und war schon eine ganze Weile nicht mehr in meinem Heimatort. Im Moment wohne ich in Berlin.“

„Na, also die Thüringerin hört man aber nicht mehr heraus. Übrigens, ich bin Sieglinde, wenn du einverstanden bist. Man liegt doch hier irgendwie zusammen im Schlafzimmer, da muss man sich nicht noch siezen, oder? Du bist Alma? Aparter Name, so schön alt, gefällt mir.“

Alma war leicht erschrocken, lächelte aber zustimmend und fühlte umgehend, dass die Barriere der Förmlichkeit und Fremdheit nun sehr viel niedriger lag.

Nach dem Abendbrot verschwand Sieglinde für eine Viertelstunde im Bad und kam sichtbar verändert wieder zu ihrem Bett: Das graue T-Shirt war einem cremefarbenen Polohemd gewichen, deutlich körperbetont, und kein Knopf geschlossen. Tolle Figur, dachte Alma unwillkürlich, für das Alter.

Auf den zweiten Blick sah sie, dass Sieglinde jetzt geschminkt war, sehr professionell, so kam es Alma vor, fast wie im Modejournal. Das Nachbarbett wurde mit wenigen Handgriffen aufgeräumt, die Bettdecke wurde glattgezogen, das Kissen aufgeschüttelt und das Bett wieder erklommen, eher geschickt als mühselig. Man sah, was ein paar Tage Übung ausmachten.

Sieglinde schaute zu Alma herüber, zwinkerte ihr leicht zu und meinte in einer Andeutung von verschwörerischem Ton: „Um etwa diese Zeit ist mein Mann zu erwarten. Ein demoliertes Bein ist ja kein Grund, sich gehen zu lassen, oder? Normalerweise überhole ich mein Äußeres schon nach dem Frühstück, aber heute, mit deiner Ankunft und Monis Invasion, bin ich irgendwie aus dem Tritt.“ Damit setzte sie sich zurecht und schlug das Buch auf.

„Also, ihr zwei Grazien, dann lasst mal Arm und Bein weiter schön heilen. Und Sigi, lass Alma nicht aus den Augen, vor allem nicht in die Nähe einer Treppe. Schick sie zum Fahrstuhl, da kann sie wenig anrichten.“

Als Sieglindes Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte, gab es draußen auf dem Flur noch ein kurzes Stimmengewirr, dem ein lautes „Tschüss dann, bis morgen!“ folgte. Alma atmete innerlich auf.

Horst Roth, ein großer und kräftiger, fast korpulent wirkender Mann mit grauschwarzem Haarschopf und in leichtem Sommeranzug mit Hemd und Krawatte war wie ein Wirbelwind in Zimmer 302 eingefallen, hatte seine Frau stürmisch umarmt und das Mitgebrachte ausgepackt – Obst, Bücher und neue Zeitschriften. Alma wurde vorgestellt und freundlich begrüßt, danach wurde Sieglindes Bein begutachtet, obwohl von außen nicht viel zu sehen war, dem Bericht über ärztliche Visiten und Krankenhaustag wurde aufmerksam gelauscht und Fortschritte in der Bewegungsfähigkeit wurden begrüßt und gelobt.

Sieglinde hatte ihren Horst dabei liebevoll, aber auch ein wenig spöttisch angesehen, so, als dachte sie, „Junge, mach halblang, in einer Woche bin ich wieder daheim und alles ist wie sonst.“ Aber sie hatte nichts dergleichen gesagt, stattdessen ihre Hand von seiner umschließen lassen, sich intensiv nach seinem Arbeitstag erkundigt und daraufhin auch genauesten Bericht erhalten. Offensichtlich war Horst als Außendienstmitarbeiter für einen Nahrungsmittelkonzern tätig und suchte Supermärkte, Großküchen und Restaurants auf. Dann wurde von einem Laden erzählt, und dass alles liefe, man brauche sich fürs Erste keine Sorgen zu machen. Alma konnte gar nicht anders als zuzuhören und manchmal hinüberzuschauen, wenn sie auch versuchte, die meiste Zeit diskret aus dem Fenster zu sehen. Dann drehte Horst seinen Stuhl ein wenig, so dass er beide Frauen im Blick hatte.

„Und wie geht es Ihnen, Alma? Sigi hat mir schon am Telefon von Ihrem Unfall erzählt – Glück gehabt, kann ich da nur sagen.“ Alma musste den Hergang erneut schildern, und als sie an die Stelle kam, wo Moni und ihr Rettungsteam, Sohn Sven eingeschlossen, in Aktion traten, dröhnte das Zimmer von Horsts voller und lauter Begeisterung. „Na, das ruft doch nach einer richtigen Feier, wenn es euch beiden wieder besser geht! Ordentlich was auf den Rost und ein schönes Bier, ich freu mich schon!“ Ein Blick seiner Frau ließ ihn hinzufügen: „Ihr Mädels kriegt natürlich Sekt, oder was ihr so wollt.“

Später schaute Sieglinde spitzbübisch herüber zu Alma und las deren Gesichtsausdruck richtig. „Du siehst, ich habe ein Energiebündel als Mann. Aber irgendwie ergänzen wir uns wohl gut. Ich bin eher – wie soll ich sagen – eben gelassener, auch ruhiger. So sind wir nicht ein ganz so explosives Gemisch. Übrigens, die Party findet statt, darum kommst du nicht herum. Vorher lassen wir dich nicht zurück nach Berlin.“

Am Abend, unter dem Licht der Bettleuchten, kam eine fast gemütliche Stimmung auf. Alma war es gelungen, unter Aussparung des linken Arms zu duschen, und sie lag erfrischt im Bett. Sie hatte von der Schwester noch einmal einen Tropf mit einem Schmerzmittel bekommen, der jetzt fast leer war, und fühlte sich gut. Sieglinde hatte eine ganze Kanne Früchtetee für beide geholt und zwei Wassergläser halb vollgegossen. „Leider kein Rotwein, aber auch rot. Hier ist Gelegenheit, mal so richtig gesund zu leben …“, sie hielt inne und kicherte, „na gut, gesund ist nicht das richtige Wort für unsere Lage, aber lass mal, es kommen auch wieder bessere Zeiten.“

Alma lehnte sich zurück und hörte zu, wie Sieglinde erzählte, von den ersten Ehejahren, den Kindern; die Tochter, jetzt sechsundzwanzig, hat Betriebswirtschaft studiert, wie ihre Mutter übrigens, und eine gute Arbeit in einer Weimarer Firma, etwas Technisches machen sie da, Gussteile. Verheiratet ist sie auch, aber noch keine Kinder, da ließen sich die jungen Frauen ja heute Zeit, schade eigentlich, eine junge Mutter ist doch was Schönes, sie, Sieglinde, war damals gerade mal zwanzig; der Sohn kam vier Jahre später, vorigen Monat 22 geworden, wollte nicht studieren, da redete man gegen Wände, hat Elektroinstallateur gelernt und arbeitet in Hessen, kommt aber jedes Wochenende; die Freundin ist noch hier, wie lange noch, weiß keiner …“

„Du bist Betriebswirtin? Menschen wie dich bewundere ich immer, die mit Zahlen umgehen können, meine ich.“

Ja, irgendwie sei ihr das schon immer leichtgefallen. Ökonomie habe sie studiert. Nur, von Nutzen sei es ihr nach der Wende nicht lange gewesen. Der Betrieb habe noch ein, zwei Jahre überlebt, dann seien sie alle in die Arbeitslosigkeit verabschiedet worden. Sie habe sich danach zwar immer gekümmert, Weiterbildungen, Computerkurse, Kommunikationstraining, unzählige Bewerbungen – aber ohne Erfolg. Sie sei eben überqualifiziert, wäre ihr gegenüber einmal unter der Hand angedeutet worden. Dann habe sie sich kurzerhand selbstständig gemacht, mit einem Blumenladen, der sich übrigens genau gegenüber dem Haus befände, in dem Alma verunglückt war.

„Du hast einen Blumenladen?“

„Warum nicht? Ein Blumenladen, liebe Alma, ist eine überhaupt nicht despektierliche Einrichtung. Das Einzige, was dort geschieht, ist der Verkauf von Blumen und verwandten Produkten, wie Topfpflanzen, Vasen, Grußkarten …“

„Du weißt, liebe Sieglinde, dass mein Ausruf eher Überraschung als Geringschätzung ausdrücken sollte!“

Alma schaute Sieglinde an und beide begannen gleichzeitig zu lachen. Alma konnte nicht wieder aufhören, Tränen traten ihr in die Augen und ein Hustenanfall rüttelte sie durch.

„Soll ich klopfen kommen?“

„Bloß nicht, das habe ich schon immer gehasst!“

„Dann nimm einen Schluck vom Roten, aber vorsichtig.“

Alma beruhigte sich langsam und trank einen Schluck Tee. „Und wie hast du das mit dem Laden gemacht?“, fragte sie gespannt. „Ich meine, man braucht doch Kapital, und dann muss man auch etwas von der Materie verstehen, oder?“

„Also, wenn man Ökonomie studiert hat und sein Fach versteht und auch noch liebt, dann ist man auf alles, oder fast alles, im Leben vorbereitet – berufsmäßig, meine ich. Geld hatten wir ein wenig, bekamen auch einen Bankkredit, und der Laden befindet sich im Haus, das Horsts Eltern gehört und in dem wir auch wohnen. Na, und Blumen binden, das kann man schon lernen. Bei mir war es dann ‚Learning by doing‘, da bin ich mal ehrlich. Aber erstens hatte ich für Blumen und Grünpflanzen schon immer ein Faible, manche haben mir sogar einen grünen Daumen nachgesagt. Dann gibt es Bücher zum Thema, wahre Massen davon. Und drittens bin ich, glaube ich, kreativ. So eine kleine Auswahl von Blumen und etwas dekoratives Gestrüpp bringt mich richtig in Schwung, da darf kein Strauß genau wie der andere aussehen.“

„Denen mit dem grünen Daumen sagt man doch nach, dass sie mit ihren Pflanzen sprechen. Tust du das auch manchmal?“

„Mit den Blumen weniger, die stehen abgeschnitten im Wasser, da hilft gutes Zureden wenig, höchstens mal Nachgießen. Aber bei den Grünpflanzen – ganz ehrlich, wenn niemand im Laden ist, spreche ich die eine oder andere schon mal an. So wie: ‚Also, dich kauft niemand, wenn du so weiter machst‘, oder ‚Sehr schön, weiter so, da können wir im Preis bald ein paar Euro nach oben gehen!‘“

„Also, wenn ich dann im Torhaus wohne, komme ich oft zu dir, mal sehen, ob das alles stimmt!“

Alma sah Sieglindes fragenden Gesichtsausdruck und begann zu erzählen: von ihrem Alleinleben mitten im Szeneberlin, von den Briefen des Gerichts und der Anwaltskanzlei, von der ersten Hausbesichtigung, vom Erbe – alles sprudelte aus ihr heraus, als müsste sie es endlich loswerden, oder besser, mit jemandem teilen. Dass dieser Jemand eine Frau war, die sie gestern um diese Zeit noch nicht gekannt hatte, schien in diesem Moment unwichtig.

„Und jetzt fragst du dich, was du tun sollst!“

„So ist es.“ Alma seufzte und schaute Sieglinde ratlos an. Für einen Moment wurde ihr die skurrile Situation bewusst: Sie, Alma, breitete ihr Leben, oder einen Teil davon, und ihr Problem vor einer fast Fremden aus. Doch als sie Sieglinde ansah, zog diese gerade ihre Stirn in tiefe Denkfalten, schaute einen Moment an die Decke und dann zu Alma.

„Lass uns das Ganze mal systematisch angehen. Wie ist die Sachlage, was spricht dafür, was dagegen.“ Sieglinde fasste alles, was ihr Alma eben etwas ungeordnet erzählt hatte, erstaunlich gut gegliedert zusammen. Sie hielt sich nicht mit Spekulationen auf, zum Beispiel wie oder warum Onkel Ewald das Haus gekauft hätte oder weshalb es ihr, Alma, vererbt worden sei. Stattdessen holte sie aus ihrer Nachttischschublade ein Notizbuch und einen feinen Drehbleistift, schlug eine leere Seite auf, zog frei Hand einen Quer- und einen Längsstrich und fragte Alma, was für oder was gegen die Annahme des Ewaldschen Erbes spräche.

„Ich wohne doch in Berlin.“

„Abgelehnt. Man kann umziehen.“

„Ich habe keine Ahnung von Architektur oder von historischen Gebäuden.“

„Hm, das kommt nach links unter ‚Gegen‘.“

„Ich kann nicht mit größeren Summen Geld umgehen.“

„Schlimm genug. Aber abgelehnt, da bekommst du Hilfe von mir.“

„Ich weiß nicht, wie ich die Renovierung angehen soll.“

„Schritt für Schritt, denke ich. Und möglichst planvoll. Abgelehnt, dafür gibt es Architekten und Bauleiter. Oder Architektinnen und Bauleiterinnen. Warte mal, zu Architektin fällt mir doch gleich Monis Tochter ein, sie studiert an der Bauhaus-Uni. Vielleicht kennt sie Namen. Noch etwas?“

„Andererseits – ich würde ganz gerne etwas in meinem Leben verändern …“

„Na also, es wird doch. Kommt rechts unter ‚Für‘“.

„In Weimar gefällt es mir.“

„Nach deinem Bericht frage ich mich zwar, wie du in der kurzen Zeit zu dieser Erkenntnis kommst, aber gut, man nimmt, was man bekommt. Nach rechts damit.“

„Die Anwaltsfirma will mich bei Bedarf beraten.“

„Kann nie schaden. Nach rechts.“

„Du hilfst mir, und ich finde dann vielleicht so etwas wie Freunde“, flüsterte Alma – „oder Freundinnen?“, fügte sie, schon lauter, hinzu.

„Damit musst du rechnen! Auf mich kannst du zählen, Horst schließt sich natürlich an, na und warte mal, bis Moni von der Sache Wind bekommt. Dann kommt Freude auf. Also, Freundschaft nach rechts. Noch etwas?“

„Ich müsste für den Übergang eine Wohnung in Weimar finden.“

„Kein Problem, deshalb nach rechts, denn Wohnungssuche macht sicher Spaß. Noch etwas?“

Alma zog die Stirn kraus und tat, als überlege sie krampfhaft. „Nein. Das war alles. Wie steht es auf der Liste?“

„Fünf zu eins dafür. Eindeutiges Ergebnis, würde ich sagen. Das heißt: Du kannst jetzt nicht mehr zurück, Alma!“

Damit schloss Sieglinde ihr Notizbuch, legte es mit dem Stift zurück in die Schublade und gähnte. „Um die Feinheiten der Planung kümmern wir uns ab morgen. Jetzt ist es kurz vor zehn und die Nachtschwester wird gleich vorbeikommen. Sie ist übrigens eine ganz sympathische Person. Ich musste sie wegen starker Schmerzen in meiner ersten Nacht mehrmals anklingeln und sie blieb immer freundlich. Stell dir vor, sie macht nur Nachtdienste, hat ihren Lebensrhythmus darauf eingestellt und ist angeblich sehr zufrieden damit. Erstaunlich.“

Als Alma am nächsten Morgen zum Fiebermessen geweckt wurde, hatte sie die Hilfe der Nachtschwester nicht gebraucht und ganz gut geschlafen.

Das Torhaus

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