Читать книгу Das Torhaus - Helga Dreher - Страница 16

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KAPITEL 10

Das Kirchenportal hatte weit offen gestanden – vielleicht, um etwas von der Wärme des ausklingenden Frühlingstages einzulassen? Alma war sich sicher, dass sie an einer geschlossenen Tür vorbeigegangen wäre. So aber war sie zögernd eingetreten.

Niemand außer ihr schien in der Kirche zu sein. Sie nahm ihren Rucksack ab und setzte sich in eine der Bänke. Nach der wohligen, wenn auch staubigen Wärme der Straße fröstelte sie und legte sich ihre Strickjacke um die Schultern. Sie saß eine Weile still und hörte auf die entfernten Laute von draußen, Autos, die vorbeifuhren, dann ein Bus, dem lauteren, dunkleren Motorengeräusch nach zu urteilen. Von Passanten, die an der offenen Tür vorbeigingen, waren Wortfetzen zu hören, dazwischen Rufe von Kindern, dann Hundegebell.

Kirchen waren für sie Teil einer Stadt, ihrer Architektur, ihrer Geschichte. Sie erinnerte sich an die Kathedrale von Canterbury, die plötzlich riesig zwischen Fachwerkhäusern im mittelalterlichen Straßengewirr der englischen Stadt aufragte. An einem kalten Wintertag war dort Erzbischof Thomas Becket in seinem eigenen Dom ermordet worden. Obwohl vor vielen Jahrhunderten geschehen, erweckten die Erzähler in ihren Führungen durch den Dom den Eindruck einer Unmittelbarkeit der Tat, die es den Touristen aufregendgruselig den Rücken unter den Rucksäcken hinunterlaufen ließ. Ähnlich fühlten wohl die mittelalterlichen Pilger, die, von Chaucer erdacht und zu Papier gebracht, zu Beckets Grabmal von London nach Canterbury wanderten und sich unterwegs Geschichten erzählten von Liebe und Verrat, Habsucht und Tod – die Canterbury Tales.

Die letzte Wohnung ihrer Mutter in Neustadt hatte sich gegenüber der Stadtkirche St. Johannis befunden, im dritten Stock eines großen Stadthauses mit Blick auf das Portal, die hohen gotischen Fenster und den markanten Turm.

Alma selbst war noch im Neubaugebiet im Süden der Stadt aufgewachsen, aber nach der Wende und Almas Studienbeginn in Göttingen mochte ihre Mutter nicht mehr im Block wohnen. Eine „Stadtwohnung“ suche sie, hatte sie damals verkündet und bald darauf auch gefunden. Ein Investor hatte sich eines der verkommenen Häuser an der Hauptstraße angenommen und es ordentlich saniert. Bald standen die Möbel ihrer Mutter in einem großen Erkerzimmer mit Blick auf die Kirche. Zur Wohnung gehörten außerdem ein zweites Zimmer, ein Bad mit Fenster und eine große Wohnküche. Von der Küche aus betrat man einen Balkon, der an die Rückseite des Hauses neu angebaut worden war. Hier wuchsen Kräuter in Töpfen, und dichte Grünpflanzen vermittelten im Sommer mediterrane Illusion. An warmen Abenden saß Alma mit ihrer Mutter manchmal draußen, bequem auf Korbstühlen an einem alten Holztisch. Sie hatten gemeinsam etwas gekocht, Gerichte ausprobiert, die ihre Mutter in Frauenzeitschriften gefunden hatte. Dazu gab es Rotwein und danach einen Espresso. Irgendwann stand eine dieser teuren italienischen Maschinen in der Küche und Mama hatte sie mit dem Hebel gekonnt bedient.

Überhaupt besaß ihre Mutter in regelmäßigen Abständen neue Dinge – einen Ring mit einem kleinen Brillanten; einen Kaschmirpullover, bei dem niemand auf die Idee kam, er sei aus dem Kaufhaus; Tassen und Teller mit dem Aufdruck „Wedgwood“ auf der Unterseite; einen Mantel mit Designerlabel im Innenfutter – alles Dinge, die Alma nur schwer mit dem Gehalt ihrer Mutter als Schulsekretärin in Einklang bringen konnte.

Alma nahm sich anfangs vor, beim nächsten Besuch entschiedener nach der Quelle der schönen neuen Dinge zu fragen, aber es gab dann doch immer so viel anderes zu erzählen, vor allem über Almas Studium, das Studentenleben in Göttingen, Michael und ihre Mitbewohnerinnen in der WG. Dann begann ihre Mutter von der Arbeit zu erzählen und beide lachten oft so laut, dass es durch den Hinterhof schallte. Die Weingläser wurden aufgefüllt und das Leben war schön.

Alma lächelte in sich hinein, wenn sie an Mamas „Berichte aus dem Schulalltag“ dachte. Ihre Mutter war Sekretärin in der Schule, die auch Alma bis zur zehnten Klasse besucht hatte. Dort galt Frau Winter bei Schülern und Lehrern gleichermaßen als gefürchtete Person. Wenn sie auf ihren hochhackigen Schuhen durch die Schule ging – oder besser schritt – wurden Rangeleien zwischen Jungen unterbrochen, verfielen rennende Kinder zurück in gemäßigten Schritt, wurde herumliegendes Papier aufgehoben, wurden Klassentüren leiser geschlossen, wurde deutlich sichtbar gegrüßt.

Kamen Schüler zu ihr ins Sekretariat, dann galten gewisse Regeln: Mütze ab, grüßen, das Anliegen klar und deutlich vorbringen und sich bedanken, wenn Anlass gegeben war – zum Beispiel auch für eine Auskunft. Ermahnungen der Sekretärin waren genauso ernst zu nehmen wie die der Lehrer, oder besser ernster, denn Frau Winter vergaß seltener etwas, erinnerte sich an Namen, kannte die meisten Mütter und traf sie oft beim Einkaufen. Wer all das, oder das meiste davon, berücksichtigte, konnte zu ihr kommen und wurde freundlich behandelt.

Frau Winters Verbände, Verpflasterungen und Tröstungen bei den kleinen Unfällen, die im Schulalltag beinahe jeden Tag passierten, waren legendär. Jeder Verunfallte musste sich auf die Krankenliege im Nebenzimmer des Sekretariats setzen oder legen, dann traf sie ihre fachmännischen – oder fachfraulichen – Entscheidungen: Pflaster, dicker Verband, Zurückschicken in die Klasse oder auf den Schulhof (in letzterem Fall meist mit der strengen Ermahnung, sich von Raufereien fernzuhalten oder solche niemals wieder zu beginnen) oder Anruf in der Ambulanz zur ärztlichen Versorgung. Meist nahm sie dann ihre kleinen Patienten an der Hand und ging mit ihnen die wenigen hundert Meter zum Stadtambulatorium. Dort wurden ihre Fälle in der Regel umgehend aufgerufen, denn unter den Schwestern oder Ärzten waren oft ehemalige Schülerinnen und Schüler der Schule.

Auch der Lehrkörper, das war Allgemeinwissen unter Almas Mitschülern und der Generation vor oder nach ihr, vermied Konfrontationen mit Frau Winter. Notwendige Papiere wurden rechtzeitig ausgefertigt, Klassenbücher sauber geführt und auf aktuellem Stand gehalten. Es war schon vorgekommen, so hieß es, dass die Sekretärin ultimativ eine Aufräumung des Lehrerzimmers verordnet habe.

Alma wusste, dass auch manche Reden oder Berichte des Direktors bei der schreibmaschinellen Verarbeitung durch ihre Mutter Änderungen in Ton, Wortwahl oder Grammatik erfuhren. „Langweiliger Müll“, hörte sie sie oft am Abend schimpfen, „das sollen sich die Lehrer, oder gar die Schüler, nun anhören?“ Der Schuldirektor in den letzten Jahren der DDR war von Haus aus Lehrer für Mathematik und Physik gewesen und maß der Adressatengerechtheit seiner Äußerungen im Allgemeinen weniger Bedeutung bei. Im Besonderen tat er das allerdings, wenn sich die Oberen „vom Kreis“ oder „vom Bezirk“ in der Schule angesagt hatten. Aber auch da konnte er sich darauf verlassen, dass seine Sekretärin noch einen Blick darüber warf und kleine Änderungen vorschlug. Mama war eine tägliche und aufmerksame Leserin der „Volkswacht“ und hatte die eine oder andere gerade angesagte politsprachliche Wendung schneller parat als ihr Chef.

Dabei konnte Marlene Winter fröhlich sein, lauthals lachen und ausgiebig feiern. Vor Schulfesten oder anderen „Ausgängen“, erinnerte sich Alma, stand ihre Mutter immer lange vor dem Spiegel im Schlafzimmer, bereits sorgfältig geschminkt. Auf einem Kleiderständer hingen vier oder fünf Sachen, die vorher in die engere Wahl gekommen waren, fast immer schicke selbst genähte Stücke. Dann wurde angehalten, übergezogen, wieder ausgezogen, wieder angezogen. War Alma daheim, wurde sie um Rat gefragt. Alma wusste, dass das, was sie empfahl, am Ende eher selten von ihrer Mutter zur Tür hinaus und zu Party, Konzert oder Theater getragen wurde, aber sie war nie beleidigt. Sie schaute höchstens zweifelnd, wenn das ausgesuchte Kleid für ihre Begriffe ein wenig zu eng war, der Ausschnitt ein wenig zu tief oder der Lippenstift ein wenig zu auffällig.

Ihre Mutter war eine schöne Frau. Sie war nicht ganz so groß wie Alma, knapp einen Meter siebzig, schlank aber nicht dünn, mit einem schönen Busen und langen Beinen. Ihre dunklen Haare mit einem Schein Rot darin trug sie in der Regel am Hinterkopf zusammengesteckt, was am Morgen noch sehr exakt aussah und sich am Nachmittag nach Arbeitsschluss partiell auflöste, beginnend mit attraktiv ins Gesicht fallenden Strähnen. Das Gesicht, fand Alma, war das Interessanteste an ihrer Mutter – nicht direkt ebenmäßig, mit hohen Wangenknochen, einem zu großen Mund und vielen Sommersprossen um die Nase herum.

Alma wusste immer, dass sie von ihrer Mutter bedingungslos geliebt wurde. Dass ihre Mutter alles tat, um die Kindheit ihrer Tochter zu behüten, um ihr Mädchen zu fördern, ihr Möglichkeiten zu eröffnen. Sie bekam Geschichten vorgelesen und später Bücher über Bücher geschenkt. Sie ging mit ihrer Mutter ins Theater oder Konzert, ins Schwimmbad, in den Zoo, zum Fußball, zum Stadtfest. Sie fuhren zu zweit mit dem Trabi in den Urlaub, an die polnische Ostseeküste, in die slowakischen Berge, einmal sogar nach Budapest. Alma hätte ein Instrument lernen können, aber sie wollte Handball spielen im Verein. Also kam ihre Mutter zu den Spielen und feuerte die Mannschaft an. In regelmäßigem Abstand wusch sie alle Trikots der Mädchen, bügelte sie und gab sie Alma exakt gefaltet wieder mit.

Alma war stolz auf ihre Mutter, seit sie ein kleines Mädchen war. Aber sie hatte keinen Vater. Als sie alt genug war, sechs oder sieben, wurde ihr erklärt warum. Ihr Vater hatte große Pläne. Ihm war angeboten worden, weit weg in einem fremden Land zu arbeiten, das hatte er angenommen. Eine andere Frau war mit ihm dorthin gegangen, was wohl schon lange vorher geplant war. Er hatte sich danach jahrelang nicht bei ihrer Mutter gemeldet und auch sie hatte keinen persönlichen Kontakt gesucht. Regelmäßige Zahlungen für Alma seien allerdings eingegangen. Sehr viel später, nach der Wende, hatte Alma erfahren, dass zu solchen Einsätzen für die DDR im Ausland nicht jeder genommen wurde, dass sie in manchen Fällen auch mit bestimmten Verpflichtungserklärungen einhergingen.

Alma hatte nicht vermisst, was sie nicht kannte, einen Vater zu haben. Aber, das wusste sie heute, sie war ein „Frauenkind“ geworden, aufgewachsen mit und beeinflusst von Frauen: Mutter, Oma, Freundinnen ihrer Mutter, eigenen Freundinnen, in der Schule meistens Lehrerinnen, den Mädchen im Handballteam, der Trainerin, später den Mitstudentinnen an der Uni, dann Katherine und Nell in England. Und jetzt Sigi und Moni, dachte sie …

Laute Glockenschläge füllten die Kirche und übertönten alle anderen Geräusche. Alma schrak zusammen, schaute sich um und sah, dass hinter ihr mehrere Frauen und Männer in die Kirche getreten und sich in die Bänke gesetzt hatten. Sie ergriff ihren Rucksack und ging nach draußen.

Alma ging über den Platz vor der Kirche in die Richtung des Torhauses. Rechter Hand eingangs der Fallerslebenstraße stutzte sie und blieb vor einer Art Laden stehen. In einem Schaufenster, in dem eine große 13 klebte, offensichtlich die Hausnummer, standen ein Tisch und zwei Sessel aus den fünfziger Jahren. Hinter einem zweiten Schaufenster konnte sie Tische mit Arbeitsleuchten sehen. Vor einem Zeichenbrett standen zwei Leute und stritten so laut, dass es draußen zu hören war. Alma sah jetzt, dass die Ladentür, die neben den beiden Schaufenstern über einige Stufen zu erreichen war, weit offenstand. An der Außenwand links neben der Tür war in Augenhöhe ein Schild angebracht: MyTown Weimar. Architekten und Bauingenieure; dann, als Unterzeile: Der Stadt und ihrer Geschichte verpflichtet.

Alma ging weiter, zögerte dann und blieb stehen. War das nicht, was sie suchte? Architekten, die sich der Geschichte verpflichtet fühlten? Die ihre Firma „Meine Stadt“ nannten? Sie drehte sich um, ging langsam zurück und überlegte. Erst einmal müssten vielleicht alle Formalitäten erledigt sein. Und dann hatte ja Sieglinde für Samstag zur Lagebesprechung eingeladen, die sollte sie vielleicht abwarten. Sie lief wieder an der offenen Tür vorbei und schaute noch einmal hinein. Die beiden Streithähne, zwei junge Männer, standen jetzt, Kaffeebecher in den Händen, friedlich vor dem Zeichenbrett und unterhielten sich in normaler Lautstärke. Alma sah, dass sie hier nicht einfach stehen bleiben und zuhören konnte und ging schnell weiter, um die Ecke und in Richtung ihres Hotels.

Neben dem Liszt-Hotel befand sich ein Bäckerladen mit angeschlossenem Café. Es war noch geöffnet. Alma holte sich am Tresen ein großes, mit Käse und Tomate belegtes Baguette und einen Pott Kaffee und setzte sich in eine Ecke. Sie fühlte sich plötzlich müde. Eigentlich hatte sie heute Abend noch ins Kino gewollt, in das kommunale Kino mon ami, von dem sie in der Zeitung gelesen hatte. „Halbe Treppe“ war auf dem Programm, ein Film über die Zeit im Osten nach der Wende. Der Regisseur hatte, so hieß es in einer kurzen Notiz, internationale Preise für den Film erhalten. Sie vergewisserte sich im Lokalteil der Zeitung, dass der Film auch an den folgenden Abenden noch gespielt würde, und ging in ihr Hotelzimmer.

Das Duschen mit ausgestrecktem Arm ging immer besser, sie bekam offensichtlich Routine. Obwohl es noch früh am Abend war, zog sie ihren Schlafanzug an und legte sich aufs Bett. Sie nahm ihr Buch aus dem Koffer, „Total Recall“ von Sara Paretsky, einer ihrer Lieblingskrimiautorinnen. Paretsky hatte V I Warshawsky kreiert, eine harte und intelligente Privatdetektivin mit sensibler Seele. Alma vermutete insgeheim, dass sie selbst gern ein wenig wäre wie V I.

Als das Buch vom Bett fiel, wachte sie auf und sah auf die Uhr: kurz vor zehn. Weshalb war sie schon so müde? Sie legte das Buch weg, schaltete die Lampe aus, suchte eine bequeme Position für ihren Arm und schloss die Augen.

Das Torhaus

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