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KAPITEL 1

„Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten?“ Der Taxifahrer nickte in Richtung des Gebäudes und schaute sie zweifelnd an. Alma verstand sofort, was er meinte. Aus dem Seitenfenster des Taxis sah sie eine mit Graffiti besprühte Hauswand, die in der Nachmittagssonne schmutzigsilbern glänzte.

„Ich denke schon“, antwortete Alma, zog ihre Geldbörse heraus und zahlte. Sie fand den Taxifahrer sympathisch und seine fürsorgliche Bemerkung rührend. Während der Fahrt war sie nicht auf seinen Versuch eingegangen, ein Gespräch zu führen. Sie glaubte zu wissen, worauf es hinauslaufen würde: das Wetter, die Benzinpreise, die Baustellen oder Umleitungen … Darauf hatte sie keine Lust gehabt. Oder war sie vielleicht aufgeregt gewesen? Ein wenig tat es ihr jetzt leid um das verpasste Gespräch, das möglicherweise einen nicht uninteressanten Einblick in die Befindlichkeit der Stadt oder der Städter gegeben hätte.

„Danke, und einen schönen Aufenthalt in Weimar!“ Der Taxifahrer machte mit der Hand eine kurze Bewegung zur Stirn, die sie eher von einem Matrosen erwartet hätte. Aber andererseits, er war ja eine Art Fahrensmann, der Taximensch. Alma bat ihn, mehr aus einem Impuls des Freundlichseinwollens als tatsächlicher Notwendigkeit, um seine Karte – für eventuell sich nötig machende weitere Beförderungen. „Und einen schönen Tag noch für Sie, mit vielen Fahrgästen!“, fügte sie ein wenig durcheinander und, so fand sie, eigentlich unnötigerweise hinzu.

Nun stand sie auf dem Bürgersteig unmittelbar neben dem Haus, „ihrem Haus“, wie sie für einen kurzen Moment dachte. Sekundenlang wiederholte sich der Anfall von Unsicherheit vor dem, was da auf sie zukam.

Kurz vor dem Ziel hatte der Taxifahrer gemeint, er könne sie nicht an der Haustür, die sich direkt neben einer Ampel befände, absetzen, das wäre ungefähr wie ein Halt in der Poleposition bei der Formel 1. Er werde sie um den Stock fahren, zum Busbahnhof, der eigentlich eine Straße sei, und sie könne dann hinter dem Haus aussteigen. „Um den Stock …“, hatte Alma in sich hinein gelächelt, wie früher in Neustadt bei Oma und Opa. Nur war man damals um den Stock gelaufen, ein Auto hatten die Großeltern nie besessen.

Alma ging auf das kleine Haus zu, ihren Rollkoffer hinter sich herziehend. Die Seitenfront, vor der sie eben ausgeladen worden war, bot einen bedauernswerten Anblick. Die Wand war bis über Augenhöhe mit silberner und schwarzer Farbe besprüht. Zwei Fenster mit viergeteilten, vor Schmutz fast undurchsichtigen Scheiben hingen unsicher in den Maueröffnungen, eine der kleinen Scheiben war eingeschlagen und mit Presspappe hintersetzt. An mehreren Stellen zeigte der Putz große, tiefe Löcher. Als Alma mit ihrem Koffer auf der Suche nach der Eingangstür um die Hausecke bog, fand sie sich unmittelbar an besagter Ampel wieder, die eine offensichtlich stark befahrene Kreuzung regelte. In Zweierreihe standen Autos an, mehrere Fußgänger warteten auf der anderen Seite, einige davon mit wachsender Ungeduld. Die Autos bekamen Grün, fuhren an und versahen Alma mit einer kräftigen Dusche aus Pfützenwasser.

„Oh, shit“, murmelte sie. Ihr hellgrauer Trenchcoat sollte sie eigentlich während ihres gesamten Aufenthaltes in Weimar sauber bemänteln, und um die Füße fühlte es sich auch feucht an. Aber ihr Ärger dauerte nur kurz: Kleidungsstücke ließen sich reinigen, Schuhe trocknen. Unglücke dieser Kategorie konnten Alma nicht nachhaltig beeindrucken.

Durch den plötzlichen Wasserguss war ihr entgangen, dass sie schon unmittelbar vor dem Eingang des Hauses stand. Eingang war untertrieben, dachte sie – das war ja ein richtiges Portal, mit zwei Säulen, einer winzigen überdachten Vorhalle und einer soliden Haustür. Alma zog ihren Koffer zwei Stufen hinauf und unter das Dach, um weiteren Fontänen zu entgehen. Sie musterte die kleine Fläche vor der Tür. Auf der einen Seite lehnte ein blaues Damenfahrrad, Marke Diamant, tiefe DDR, ohne Gangschaltung und auch ohne Vorderrad, dafür mit einem schönen Gesundheitslenker und einem Ledersattel. Beides erinnerte sie für einen Moment wehmütig an die Räder ihrer Kindheit. Obwohl nicht fahrbereit, war es mit einem teuren Schloss sorgfältig an eine Eisenstange angehängt, die die linke Seite der Vorhalle zur Straße hin abgrenzte. Rechts neben der Tür lagen mehrere vollgestopfte Plastiktüten.

Alma schaute näher auf das schmutziggraue Klingelschild neben der Tür. Statt eines Namens befand sich darauf ein weißes Klebeetikett. Sie beugte sich vor und las: „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage“. Shakespeares Hamlet in der Goethestadt – hier lässt man nichts anbrennen, dachte sie. Mit einem prüfenden Blick überzeugte sie sich, dass die Luft rein und die Autos fern waren und sie wieder auf den Bürgersteig an der Ampel treten konnte. Sie fasste den Koffer, ging schnellen Schrittes zurück um die Hausecke und fand sich an ihrem Ausgangspunkt, der Graffitiwand, wieder.

Was nun? Sie schaute sich suchend um, sah auf ihre Armbanduhr und zog die Augenbrauen hoch. Das fing ja gut an.

Ihr Blick fiel auf ein kleines Gebäude, gelb verputzt und mit neuem Ziegeldach, das auf einer Art Verkehrsinsel mitten in der Straße stand. Leider hatte der Graffiteur auch hier sein Unwesen getrieben und das Häuschen zu einer Beleidigung für die Augen gemacht. Ein Stehtisch und drei Tische mit blauen Plastiksesseln standen rechts neben dem Haus, versorgt durch einen Schalter – offenbar der Busbahnhofskiosk. Alma verspürte sofort Kaffeedurst und gleichzeitig kräftigen Hunger. Das Sandwich vom ICE hatte sie schon auf der Höhe Leipzig aufgegessen, den hochpreisigen Kaffee dazu getrunken, und all das lag gut zwei Stunden zurück. Ihr Hunger war berechtigt, fand sie.

„Was darf’s denn sein?“, erklang eine tiefe und laute, aber nicht unfreundliche Frauenstimme aus dem Inneren des Kiosks durch die Schalteröffnung.

Alma hatte gerade ihren Koffer abgestellt, den feuchten Mantel über eine Sessellehne gehängt und schaute ein wenig erschrocken auf. „Einen Pott Kaffee mit Milch – und etwas zu essen, bitte.“

Jetzt hätte sie eigentlich die obligatorische Aufzählung erwartet: Currywurst mit Pommes, Hamburger, Bulette … Ach nein, sie war ja wieder zu Hause in Thüringen, da waren Bratwurst mit Brötchen oder Bockwurst mit Kartoffelsalat angesagt. Zu ihrer Verwunderung war nicht eines der erwarteten Angebote zu hören, stattdessen der Ruf nach hinten in die Tiefe des Häuschens: „Holger, einmal das Spezi!“

Alma fand, dass heute der Tag der Überraschungen war, da sollte man nicht unnötig eingreifen. Sie bedankte sich, als der Kaffee kam, der auf einem kleinen Tablett in blitzsauberer Tasse aus gutem Porzellan mit einem Kännchen Milch und einem Glas Wasser sogar zu ihr herausgebracht wurde.

„Nach einer Reise hat man ja doch ordentlich Durst, oder? Essen ist bei Holger in Arbeit.“

Alma schaute auf. Eine Frau ungefähr Mitte vierzig, vollschlank und mit schwarzem Lockenkopf, in den mehrere feuerrote Strähnen eingefärbt waren, nickte ihr mit wachem Blick und der Andeutung eines Lächelns zu. Alma fühlte sich taxiert (Fremde, groß, dünn, Anfang/Mitte dreißig? Kleidung nicht ganz billig; Frisur einfach; dezentes Makeup; Westfrau?) und fand das in Ordnung. Als professionelle Gastgeberin würde sie es ebenso machen. Sicherlich hatte der Ausschank am Busbahnhof meistens Stammkunden, die Busfahrer zum Beispiel, oder regelmäßige Fahrgäste. Da fiel ein Fremdkörper auf und wollte eingeordnet werden.

„Vielen Dank“, sagte Alma, einem plötzlichen Wunsch nach Verbindlichkeit folgend, „und machen Sie dem Koch keinen Stress. Hier sitzt man sehr angenehm, mit einem schönen Blick übrigens auf die wunderbaren alten Bäume.“

„Ja, da haben Sie recht, das ist eine der schönsten Straßen in Weimar – finde ich jedenfalls. Wenn bloß die Kastanien nicht von dieser Motte befallen wären. Jetzt haben wir Anfang Mai, da sieht alles schön grün aus. Aber ich seh schon wieder, wie Ende Juli die ersten Blätter braun und trocken werden. Ein Jammer ist das!“

Mit anklagendem Kopfschütteln und festen Schrittes ging sie zurück zum Haus, drehte sich jedoch unvermittelt noch einmal um: „Das Klo ist übrigens hier im Haus, gleich um die Ecke – aber Automat, Sie brauchen fünfzig Cent.“

Alma nickte und hatte nun Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Unwillkürlich suchte sie gleich wieder ihr Haus, dem sie auf der busbahnhöflichen Verkehrsinsel im Abstand von wenigen Metern gegenübersaß. Jetzt hatte sie die Rückfront im Blick. Sie sah eine niedrige Mauer mit einem aufgesetzten Holzzaun darüber und einer sehr dichten Hecke dahinter. Vom Haus war nur das kleine Obergeschoss mit einem halbrunden Fenster zu sehen. Alles andere war unsichtbar hinter der Hecke verborgen. Das Gebäude wirkte von hier aus nicht mehr so desolat und das Dach schien fast neu zu sein. Neben dem Zaun stand ein blaues Straßenschild. „Hoffmannvon-Fallersleben-Straße“, las sie.

Sie drehte ihren Plastikstuhl ein wenig nach links und schaute die Straße namens Hoffmann von Fallersleben entlang, versuchte sich gleichzeitig an den Namenspaten zu erinnern: deutscher Dichter, hatte das „Deutschlandlied“ geschrieben, und zwar schon Mitte des 19. Jahrhunderts, also frei jeden Verdachts, etwas mit dem braunen Reich zu tun zu haben. Das „von Fallersleben“ bezeichnete, wenn sie sich recht erinnerte, weniger alten Adel als vielmehr seinen Geburtsort. Hatte er nicht auch Kinderlieder geschrieben? War „Alle Vögel sind schon da“ eines davon? Ein wenig schämte sie sich, es nicht genauer zu wissen, schließlich hatte sie im Zweitfach Germanistik studiert. Na ja, das war Jahre her und danach war sie fast nur noch mit dem Englischen befasst gewesen.

Zu beiden Seiten der kurzen Straße standen gewaltige Laubbäume, die die Illusion einer schattigen Allee herstellten, von leichtem Wind und hellem Sonnenlicht mit lebendigen Lichtreflexen versehen. Rechts und links der Fahrbahn befanden sich breite gepflasterte Busspuren und Haltestellensäulen auf den Bürgersteigen. Linker Hand war ein verglastes Buswartehäuschen zu sehen.

Ein ohrenbetäubendes Sirenengeräusch riss sie aus der eben noch als so stadtfern und fast beschaulich empfundenen Ruhe. Alma wandte den Kopf und schaute zurück zur Fahrstraße, die hinter einem breiten Bürgersteig und einem durchgehenden Geländer verlief. Dort tobte das pralle Verkehrsleben, momentan kurz gehindert von einem durchrasenden Krankenwagen mit Blaulicht.

„So, Ihr Essen. Holger hofft, dass es Ihnen schmeckt. Guten Appetit!“

Alma drehte sich erneut mit dem Plastiksessel und sah auf dem Tisch vor sich „ihr Essen“. Auf einem großen flachen Teller, der sie eher an ein Sternerestaurant erinnerte, lag eine Bulette neben einer Portion frisch aussehenden Feldsalats – Rapünzchen, wie Oma immer gesagt hatte. Mehrere Scheiben Weißbrot, ungetoastet, aber innen zart mit knusprig brauner Kruste darum lagen in einem Körbchen auf einer Stoffserviette. Es duftete verführerisch und sie musste gleich davon kosten. Sie suchte das Besteck und fand es, ebenfalls in einer Stoffserviette, neben ihrem Teller.

Alma schaute ungläubig zum Schalter, aber niemand war zu sehen. Sie begann zu essen. Die auf den ersten Blick unauffällige Bulette erwies sich als kleine Köstlichkeit. Das Innere war von zarter Beschaffenheit und enthielt neben dem, was von einer Bulette erwartet werden konnte, Hackfleisch, Semmel, Ei und Kümmel, offensichtlich weitere Ingredienzien: Alma schmeckte Knoblauch, Kräuter und einen Hauch Schärfe, Tabasco vielleicht? Oder Senf? Dann sah sie winzige rote Pünktchen, die ohne Zweifel auf die Verwendung von frischer Chilischote hinwiesen – die Bulette war ein Ereignis. Das ebenfalls unverdächtig daherkommende Häufchen Feldsalat stand seiner Nachbarin auf dem Teller in nichts nach. Es war mit einem Dressing versehen, in dem sie winzige, knusprig gebratene Speckwürfel und sämig geriebene Kartoffel schmeckte. Obwohl inzwischen sehr hungrig, aß sie mit Bedacht und Genuss. Alma hatte im Lauf der Jahre eine ehrfurchtsvolle Liebe zu gutem Essen entwickelt, und hier fühlte sie sich einer verwandten Seele nahe. Aber wo war diese Seele? Steckte sie in Holger und in den Tiefen des Busbahnhofskiosks?

„Bockwurst mit Semmel und ’nen großen Kaffee, Moni!“, erklang eine dröhnende Bassstimme hinter ihr. Alma schaute auf und sah einen weiteren Gast am Schalter stehen – ein Bär von einem Mann, Mitte dreißig, Schwergewicht. Er trug ein hellblaues Hemd, das über seinem enormen Bauch spannte, und einen perfekt gebundenen gestreiften Schlips unter einer dunkelblauen Windjacke, an deren Ärmel ein buntes Schild aufgenäht war. Das war zweifellos ein Busfahrer, Stammgast sicher, einer der hier rechtens sein zweites Frühstück oder auch schon sein Mittagessen bestellte.

„Alles klar, Mirko! Kaffee kommt, Bockwurst braucht noch zwei Minuten.“

Mirko war mit dem zeitlichen Ablauf am Schalter offenbar vertraut und nicht ungeduldig. Ein kurzes Nicken in Almas Richtung, danach wurde die randvolle Kaffeetasse zum Stehtisch balanciert, eine Zigarette angezündet und das Handy herausgeholt. Alma nickte zurück, aber Mirkos Aufmerksamkeit war bereits bei seinem telefonischen Gesprächspartner.

„Hat es Ihnen geschmeckt?“ Alma wandte den Kopf und schaute zu einem jungen Mann in weißer Kochjacke, der hinter dem Schalter stand und sich ein wenig herauslehnte. Er schien breitschultrig, hatte dunkle lockige Haare, ein rundes Gesicht und ein offenes Lächeln.

„Das war ein sehr luxuriöses Mahl. Ich habe lange nicht mehr so etwas Einfaches – hm, Bodenständiges, meine ich, Sie verstehen mich bitte nicht falsch – so toll zubereitet gegessen. Ehrlich, es war ein Genuss!“ Alma hörte sich sprechen und erkannte sich nicht wieder. Ein Gespräch am Imbissstand zu führen – undenkbar war das normalerweise für sie. Alma die Unnahbare, oder Alma die Verschlossene, das waren, wie sie wusste oder Grund hatte zu vermuten, Attribute, die man ihr gern nachsagte.

Der Koch wurde tiefrot und sein Lächeln breiter. Inzwischen war seine Kollegin mit Mirkos Bockwurst nach draußen gekommen. Sie stellte den Teller vor den noch immer telefonierenden Busfahrer, lehnte sich dann neben den Schalter und sagte mit einem Stolz, der offensichtlich vor allem Holger galt: „Wir haben für Sie unser Spezi von heute serviert – Holger, wie nennt es sich doch gleich?“

„Boulette Spéciale de Pays – vom Lande, wegen des Feldsalats. Aber das ist eher für mich und Moni hier, aus Spaß, wissen Sie.“

Moni übernahm das Wort: „Also, das ist so. Ich und Holger haben vor einem halben Jahr den Kiosk übernommen. Holger hat richtig auf Koch gelernt und war nach der Lehre in mehreren teuren Hotels – sogar in der Schweiz! Ihm hat’s aber nicht gefallen, war ihm alles zu fein. Jetzt haben wir zwei den Imbiss, und Holger macht zum Essen eigentlich das Übliche – Bowu/Brötchen, Bowu/Majo, dasselbe mit Roster, dann Soljanka, belegte Brötchen, so was halt. Geht immer gut. Ja, also … und dazu macht er jeden Tag noch das Spezi, ein Spezialessen sozusagen, wo er sich kochlich austobt. Heute war’s Bulette mit Feldsalat, gourmetmäßig aufgerüscht.“

„Unsere Normalos versorg’ ich mit dem Üblichen – die wollen das, was sie immer hatten, und keine Experimente“, unterbrach sie Holger und machte eine Kopfbewegung in Mirkos Richtung. „Aber ehrlich, wir sind hier in Weimar. Auf klassischem Boden, sozusagen. Da muss doch außer Bockwurst und Bratwurst noch mehr drin sein, da muss Goethen und Schillern irgendwie Ehre angetan werden, oder? Na, und da dachte ich, mach ich noch täglich ein Spezialgericht. Fast jeden Tag kommt jemand, der aussieht, als ob er – oder sie, Sie wissen, wie ich’s meine – offen ist für was Besonderes. Dann gibt’s Holgers Spezi. Sie waren heute mein Spezi-Gast. Das hat Moni gleich gesehen. Schief gehen konnte es natürlich noch, Sie hätten ja Vegetarier sein können. War aber nicht, oder?“

„Zum Glück nicht“, antwortete Alma und stellte das Geschirr zum Abräumen zusammen.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche, aber ich glaube, wir sind verabredet. Sie sind Frau Alma Winter?“

From: Alma Winter

To: Benjamin Lenk

Sent: Thursday, April 29, 2004 9:56 PM

Subject: Termin Weimar

Sehr geehrter Herr Dr. Lenk,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 26.04.2004.

Hiermit bestätige ich den von Ihnen vorgeschlagenen Termin Montag, 10. Mai 2004, 11:30 Uhr für die Besprechung in Ihrer Kanzlei in Weimar, Lincolnstraße 32.

Mit freundlichen Grüßen

Alma Winter

From: Benjamin Lenk

To: Alma Winter

Sent: Friday, April 30, 2004, 8:06 AM

Subject: Re: Termin Weimar

Sehr geehrte Frau Winter,

vielen Dank für die Terminbestätigung.

Ich schlage allerdings vor, dass wir uns zunächst unmittelbar an der Adresse Erfurter Straße 1 treffen. So kann ich Ihnen vor unserer Besprechung das Gebäude zeigen, das Bestandteil des Erbes ist. Wir verbleiben bei dem von Ihnen bestätigten Termin 10.05.2004, 11:30 Uhr.

Ich werde mir erlauben, Ihnen eine Übernachtung zum 11.05. in Weimar im Hotel Liszt zu reservieren, so dass Sie vor Ort hinreichend Gelegenheit zu Besichtigung und Information haben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Benjamin Lenk

Rechtsanwalt

Kanzlei Rottloff und Kollegen

Weimar

Ein hochgewachsener Mann in grauschwarzem Anzug stand in einigem Abstand vom Schalter auf der Verkehrsinsel. Er hatte kurze dunkle Haare und trug eine Brille mit getönten Gläsern. Auf dem Bürgersteig neben dem Haus stand jetzt ein schwarzer BMW.

Alma schaute den Riesen an und nickte. „Und Sie sind … Rechtsanwalt Dr. Lenk? Waren wir nicht vor einer halben Stunde verabredet?“

Herr Lenk erschien keineswegs verlegen und antwortete kühl: „Ich bedaure die Verspätung außerordentlich. Mein Sohn hatte einen kleinen Unfall. Leider waren Sie nicht auf dem Handy zu erreichen, ich habe es mehrfach versucht.“

Alma erinnerte sich sofort, dass sie ihr Handy im Zug demonstrativ aus der Handtasche genommen und abgestellt hatte, als ein Mitreisender ihr gegenüber sein drittes Telefonat in Serie begonnen und ihre vernichtenden Blicke konstant ignoriert hatte. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann.

„Ihrem Sohn ist doch hoffentlich nichts Schlimmes passiert?“

„Nur ein Sturz von der Schaukel. Aber zur Sicherheit sind wir doch in die Klinik zum Röntgen gefahren, auch, um die Kindergärtnerinnen zu beruhigen. Na, und die Schürfwunden an Knie und Ellenbogen wurden danach in der Ambulanz von ihrem Besitzer stolz vorgezeigt und von der Schwester aufwendig verbunden. Jetzt ist Paul wieder im Kindergarten und …“

„Und sicher der viel beachtete Mittelpunkt mit seinen Verbänden“, unterbrach ihn Alma.

Herr Lenk nickte mit der Andeutung eines Lächelns. „Also dann noch einmal von vorn: Willkommen in Weimar, Frau Winter. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Es ist gut, dass wir uns gleich hier, am locus delicti sozusagen, treffen. Ich sehe, Sie sind vor dem Verhungern bewahrt worden. Dann lassen Sie uns doch gleich zur Sache kommen. Darf ich mich Ihres Koffers annehmen?“

Er machte Anstalten, sich des Koffergriffes zu bemächtigen, doch Alma schüttelte den Kopf.

„Einen Moment, Herr Lenk. Ich muss noch schnell für den Gourmetimbiss bezahlen.“

Der Anwalt schaute irritiert von Alma zum Schalter, ließ aber den Koffer gehorsam stehen. Alma zahlte und sagte mit dem Anflug eines Lächelns zu Moni und Holger: „Toll – aber irgendwie kaum zu glauben! Auf Wiedersehen!“

„Immer gerne“, antwortete Moni, nickte ihr zu und musterte dabei den BMW samt seinem Besitzer argwöhnisch.

„Jetzt können wir. Und glauben Sie mir, ich bin schon sehr gespannt.“

Alma wollte nach ihrem Koffer greifen, aber Herr Lenk war schneller.

„Ich schlage vor“, sagte er, „wir verstauen Ihren Koffer im Auto und besichtigen zunächst das Haus. Danach fahren wir in die Kanzlei und besprechen alles Notwendige. Sie haben dann bereits einen ersten Eindruck vom Gegenstand der Nachlasssache und können mithilfe der Informationen, die Sie von mir erhalten, erste Überlegungen anstellen. Ich darf Ihnen meine Karte geben?“

Alma nahm die Visitenkarte. „Benjamin Lenk, Rechtsanwalt, Kanzlei Rottloff und Kollegen, Rechtsanwälte und Notare“ las sie.

Als sie aufblickte, ging Herr Lenk bereits auf das Haus zu. Alma beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Er zog einen Sicherheitsschlüssel aus der Hosentasche und bog um die Ecke in Richtung Hauseingang.

„Vorsicht!“, wollte Alma noch rufen, aber sie sah, dass auf dem Bürgersteig neben der Ampel im Moment keine Gefahr drohte, alles stand auf Rot und nichts bewegte sich.

Das Torhaus

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