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KAPITEL 11

Am Morgen, gleich nach dem Frühstück, rief Alma in der Kanzlei an. Jörg Vollmer war am Apparat und sie bat ihn darum, Dr. Rottloff eine Nachricht zu übermitteln. Sie würde Dr. Rottloff Senior doch sehr gern aufsuchen und über ihren Onkel befragen, und ob die Anwältin einen Termin mit ihrem Vater vermitteln könne?

Sekretär Vollmer versprach, alles in die Wege zu leiten, Dr. Rottloff spräche gerade mit einem Klienten, aber spätestens in einer Stunde könne er sie sicher zurückrufen. Bis dahin wünsche er ihr einen angenehmen Vormittag und sie möge doch, in Anbetracht des strahlenden Frühlingstages, einen Spaziergang an der frischen Luft in Betracht ziehen, vielleicht in den Park an der Ilm?

Alma musste an sich halten, um nicht laut herauszulachen. Sie versprach ihr Bestes zu tun, und Herr Vollmer könne sie auf ihrem Handy und vielleicht im Ilmpark erreichen.

An diesem Morgen fühlte sie sich ausgeruht und voller Energie. Beim Frühstück war ihr eingefallen, dass Sieglinde, Moni und möglicherweise auch Holger von ihr ein Lebenszeichen erwarteten, schließlich war sie seit Donnerstagmittag entlassen, und morgen war Samstag. Sie beschloss, auf dem Weg zum Park am Busbahnhofskiosk vorbeizugehen.

Es war nach zehn und mehrere Busse standen an den Haltestellen. Einige Busfahrer hatten sich rauchend an einem ihrer Busse versammelt und unterhielten sich. Ihre potenziellen Fahrgäste saßen auf Bänken oder standen an den Zaun gelehnt, Einkaufstaschen und prall gefüllte Plastikbeutel neben sich auf dem Boden. Es waren überwiegend ältere Frauen, fast alle mehr oder weniger rundlicher Statur, die zu zweit oder dritt an einer der Haltestellensäulen warteten und sich angeregt unterhielten. Alma ging langsam die Hoffmannvon-Fallersleben-Straße entlang und an ihnen vorbei.

Sie stellte sich vor, wohin sie fuhren – zurück in ihr Dorf, dort wären es von der Bushaltestelle wenige Schritte bis nach Hause. Unterwegs, auf der Hauptstraße, würden noch ein paar Worte mit Nachbarn oder Bekannten gewechselt, im Dorf kannte ja jeder jeden. Man würde erzählen, wo man gewesen war, wieder einmal beim Arzt, der Rücken, wird einfach nicht besser, aber man muss es aushalten, immer noch besser als Magdas Schicksal, so plötzlich gestorben, kurz vor ihrem Siebzigsten, was ihr Alfred jetzt macht ohne Frau, da kann man nur gespannt sein, aber warum soll er einem leidtun, hatten es ja immer gut, die Männer, soll er nun zusehen …

Gut so, ihr Frauen, dachte Alma, tragt euren Männern ab und zu Blumen ans Grab, aber denkt jetzt an euch. Trefft euch zum Kaffeekränzchen oder zum Handarbeitsnachmittag im Klub der Landfrauen. Fahrt in die Stadt zum Einkaufen. Bucht fleißig Busfahrten, in die schönen Städte im Westen, die hat man ja alle ein Leben lang nicht sehen können, oder ins Ausland, Gardasee, Tirol, Salzburg. Warum nicht zur Kur, ist selbst mit kleiner Rente erschwinglich, wenn man nach Franzensbad fährt oder nach Ungarn zu den Thermalquellen.

Alma dachte daran, wie sich Katherine über die Thüringer Prachtfrauen freuen würde. Wie sie an ihren Lippen hinge, wenn der Dorfklatsch langsam auf Touren käme, bis alles berichtet, vermutet, behauptet, bezweifelt, richtiggestellt, bekräftigt, bedauert und belacht war. Katherine selbst hatte immer mit Leidenschaft am Dorfklatsch teilgenommen. Sie war mit ihr, Alma, extra zu Mrs. Fenner in die High Street einkaufen gefahren, mit dem Fahrrad mehrmals in der Woche, statt das Auto zu nehmen und im großen Supermarkt alles auf einmal und billiger zu bekommen. Auch beim Fleischer, in Mr. Singhs Gemüseladen und bei Mrs. McGregor, wo es außer Büchern, Zeitungen, Postkarten und Süßigkeiten das Neueste aus der gehobeneren Gesellschaft gab, dem Women’s Institute oder dem Kirchenvorstand, verweilte Katherine lange und mit offenem Ohr für alles, was als neu, unerhört, unglaublich oder unmöglich beklatscht wurde. Sehr bald hatte Alma herausgefunden, dass Männer ebenso gern klatschten wie Frauen, nur anders, irgendwie immer mit implizitem Anspruch auf die Wahrheit, worüber Katherine, obwohl aufmerksamste und oft beifällig nickende Zuhörerin, später daheim sardonisch giftete und Almas englischen Wortschatz nicht selten mit unfeinen Vokabeln bereicherte.

Alma war am Busbahnhofskiosk angelangt, wo Moni gerade Teller mit Bockwurst aus der Schalteröffnung reichte. Alma winkte und Moni wedelte zwischen zwei Männerköpfen heftig und einladend mit den Armen. Alma sah, dass gerade Hochbetrieb war. Sie schaute sich für einen Moment unschlüssig um, stellte dann ihren Rucksack an die Hausmauer und räumte kurz entschlossen das benutzte Geschirr von den Tischen, reichte es Moni durch den Schalter und ließ sich einen Wischlappen geben.

Inzwischen hatten neue Gäste an den sauberen Tischen Platz genommen und gaben bei Alma ihre Bestellung auf. Alma, obwohl überrascht, versuchte sich dennoch zu merken, was an jeden der zwei besetzten Tische sollte, und gab es an Moni weiter. Die stellte inzwischen weitere Teller auf den Schalter. „Bockwurst Mayo für Jochen! Mirko! Pott Kaffee und Soljanka für dich. Was ist, Manni, hast du dich entschieden oder sollen wir dir eine Speisekarte drucken?“ Sie lachte Alma zu und zeigte mit einer Handbewegung, dass sie ihre Bestellung für die Tische verstanden hatte. „Kaffee und Cola kommen sofort. Sag Bescheid, dass die Würstchen ein paar Minuten brauchen.“

Alma ging zurück zu den Tischen, jetzt gelassener und mit dem, was sie für eine professionelle Kellnerinnenhaltung hielt, und übermittelte die Nachricht. Nach wenigen Minuten hatte sie Getränke und Essen mit ihrem gesunden Arm vom Schalter an die Tische getragen und den Gästen einen guten Appetit gewünscht.

Als sie zurück zum Schalter kam, stand dort kein Kunde mehr und Moni schaute lachend heraus. „Na, Mädel, gut gemacht, die Leute durften sich kurzzeitig wie im Restaurant fühlen! Es ist zu komisch hier, den einen Moment überschlägt sich alles und dann ist plötzlich Ruhe, oft aber wieder die Ruhe vor dem Sturm.“ Sie rief nach hinten, „Holger, einen Cappuccino für Alma, und gib mal Laut, was das Spezi von heute ist!“ Moni machte eine Kopfbewegung zum dritten Tisch, an dem ein grauhaariger Herr in sandfarbener knittriger Leinenjacke und dunkelroter Fliege Platz genommen hatte. „Bleib hier, ich bring das mal auf den Weg.“ Sie sprach kurz mit Holger und kam nach draußen. Dann ging sie zu dem Gast, den Alma insgeheim schon „Professor“ betitelt hatte, und unterhielt sich angeregt mit ihm.

Holger kam zum Schalter und begrüßte Alma herzlich. „Ein bisschen blass um die Nase sehen Sie noch aus, aber zum Glück ist ja alles gut gegangen.“ Alma wollte gerade protestieren, da rief Moni von hinten: „Jetzt siezt euch nicht noch! Holger, wo du doch Alma beinahe Mund zu Mund beatmet hättest, wenn dich Bernd gelassen hätte.“

Der Koch wurde ein wenig rot und Alma lächelte. „Also, ich bin Alma. Danke, Holger, dass ihr meine Lebensretter wart. Ist denn besagter Bernd auch irgendwann zu sprechen?“

Holger schüttelte den Kopf. „Also, so ganz genau kennen Moni und ich ja den Dienstplan der Busgesellschaften nicht. Aber wie Moni sagt, bist du ja jetzt öfter hier, dann triffst du Bernd auf jeden Fall früher oder später.“ Er machte eine Bewegung mit dem Daumen zum Torhaus auf der anderen Straßenseite. „Die zerbrochene Fensterscheibe ist gleich am Dienstagnachmittag noch repariert worden. Der BMW-Fahrer war hier und hat die Handwerker hineingelassen.“

Dann sah er Moni fragend an. „Das Spezi?“ „Ja, und ein Glas Roten dazu, da haben wir mal wieder einen Genießer zu Gast.“

Alma beobachtete durch die Schalteröffnung, wie Holger verschiedene Salatblätter auf einem Teller anordnete und nebenbei Öl in einer Pfanne erhitzte. Er nahm etwas aus dem Kühlschrank und legte mehrere Teile in das brutzelnde Öl. Nach wenigen Augenblicken verbreitete sich ein köstlicher Duft.

Auf Almas fragenden Blick sagte Holger: „Rosa gebratene Entenbrust mit Orangensoße an buntem Salat. Die Soße muss noch ein wenig erwärmt werden, das schmeckt einfach intensiver. Überhaupt finde ich, dass etwas Warmes immer gut zu Salat passt, verträgt der Magen auch besser.“ Er stellte den fertigen Teller auf den Schalter. „Ich mach dir das dann auch, Alma, aber trink erst mal deinen Kaffee, ist ja noch früh am Tag.“

In Almas Rucksack neben ihren Füßen klingelte das Handy. Sie kramte es heraus, drückte die Empfangstaste und hörte einen Moment zu. „Heute Nachmittag schon? Das ist ja wunderbar! Drei Uhr passt, natürlich. Wie war die Anschrift? Freiherrvon-Stein-Allee. Nummer 46. Ich denke, das finde ich, eine Allee kann ja nicht so versteckt sein. Doch? Gut, ich besorge mir einen Stadtplan, den brauche ich ohnehin, ich möchte mich ja orientieren können. Bitte sagen Sie Dr. Rottloff meinen herzlichen Dank! Und ein schönes Wochenende. Ja, danke, das werde ich.“

„Freiherrvon-Stein-Allee 46, Freiherrvon-Stein-Allee 46 …“ Alma kramte in ihrem Rucksack, sah aber, dass ihr Moni ihren kleinen Schreibblock und einen Stift reichte. „Mach das mit dem Stadtplan, Weimar ist zwar nicht groß, aber insgesamt ein bisschen unübersichtlich. Und dann die vielen klassischen Straßennamen, da verwechselt man schon mal was. Erst wenn du dich hier eingelebt hast, merkst du, dass es nicht so schwer ist. Da gibt es zum Beispiel das Musikerviertel, das Dichterviertel – kriegst du schon alles noch mit, ein kluges Mädchen wie du.“ Sie nickte dem „Professor“ zu, der Blickkontakt gesucht hatte. „Geh jetzt am besten erst mal eine Runde spazieren, du siehst mir zu blass aus. Komm dann auf dem Rückweg vorbei, dann kriegst du dein Essen.“

Alma machte eine Handbewegung zur Stirn wie zum Salutieren, sagte ‚Yes, Ma’am‘, zahlte ihren Kaffee und ging in die Richtung, die ihr Holger gezeigt hatte: An der Schule vorbei, über die Ampel, dann immer geradeaus zur Schillerstraße, dort wäre ein Buchladen, wo sie mit Sicherheit einen Stadtplan bekäme.

Den Zugang zum Park an der Ilm hatte Alma dann doch nur mit Mühe gefunden. Als sie vom Hotel Elephant über den großen Platz zur Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek gehen wollte, um von dort in den Park zu gelangen, war alles wegen Bauarbeiten weiträumig gesperrt. An einem der unteren Ausgänge des Marktplatzes hatte sie dann die kurze Straße zum Schloss gefunden, mit dem berühmten Café Resi an der Ecke – jetzt Residenzcafé genannt – das sie noch von früheren Besuchen kannte. Von dort sah sie schon die alten Bäume des Parks und grüne Rasenflächen. Ein älteres Ehepaar mit Hund kam ihr entgegen, einem aufmerksamen Tier mit glattem graubraunem Fell, und sie hatte gefragt, welches Bauvorhaben dort oben auf dem Platz gerade im Gange wäre. Ein unterirdisches Bücherlager werde das, hatten ihr beide umständlich erzählt, und da drüben – ausgestreckte Arme wiesen nach rechts – würde noch mal eine Bibliothek gebaut. Irgendwie sollte dann alles zur Anna-Amalia-Bibliothek gehören. So ganz genau wüssten sie es aber auch nicht, sie wären ja nicht die großen Leser, und wenn, dann gingen sie eher in die Stadtbücherei. Das da wäre mehr für Leute, die auf Goethe forschten, oder Schiller.

Alma hatte sich bedankt und war um das Schloss herum und über eine schöne Steinbrücke hinunter zur Ilm gelaufen. Sie sah eine breite Allee und mehrere Abzweigungen und erinnerte sich, dass irgendwo in der Nähe Goethes Gartenhaus stehen musste. Minuten später tat sich vor ihr eine weite offene Parklandschaft auf, mit dem berühmten Postkartenblick zum Gartenhaus. Sie setzte sich auf eine der Bänke im Halbschatten und nahm das Merianheft über Weimar aus ihrem Rucksack, das sie zusammen mit dem Stadtplan im Buchladen gekauft hatte. Der hellbraune Hund von vorhin, sein Artgenosse jedenfalls, schaute mit melancholischen Augen aus dem Titelbild, im Hintergrund war, undeutlich, das Gartenhaus zu sehen. Sie blätterte durch, sah die Bilder an – die Kirche in Gelmeroda, die Feininger gemalt hatte, renovierte Altstadtgassen, Bilder aus Goethes Wohnhaus, das Dichterdenkmal von hinten, mit bronzenem Eichenstamm, den sonst niemand wahrnahm, eine alternative Galerie und, ah, ein wunderschönes Foto vom Park, eine Ruine im Nebel, dunkelgrün bewachsen, erinnernd an die Vergänglichkeit, dachte sie, auch des Klassischen.

Alma legte das Heft neben sich auf die Bank, schloss die Augen und spürte die Frühlingssonne auf ihrem Gesicht, angenehm warm, aber noch nicht heiß und stechend. Ein schöner und ruhiger Ort, der Ilmpark. Sie erinnerte sich vage, dass ihn Goethe anlegen ließ oder seine Gestaltung zumindest beeinflusste. Noch heute erkannte man seine Idee, eine Art englische Parklandschaft zu schaffen.

Sie öffnete die Augen und schaute mitleidig auf den Rasen, der zwar gemäht und an den Kanten einigermaßen begradigt war, aber im direkten Vergleich mit den dichten und gleichmäßigen lawns in englischen Parkanlagen hätte es dieser hier wohl schwer. Dafür gab es in Weimar sicher weniger Regen, auch gut.

Ihr fiel Sieglinde ein, die heute Vormittag wahrscheinlich entlassen worden war. Hoffentlich hatte Horst Zeit, sie aus der Klinik abzuholen. Vielleicht sind sie schön essen gegangen, oder er hat etwas gekocht, sicher auch Sieglindes Lieblingskuchen zum Kaffee gekauft.

Alma fühlte, dass sie wieder traurig werden wollte, sich bedauern, sich allein fühlen. Sie zwang sich, an etwas Gutes für sich zu denken. Die Stadt war schön. Sie würde in den kommenden Monaten durch die Straßen bummeln, in das eine oder andere Museum gehen, vielleicht einige der Gebäude von innen sehen, das Schloss oder die Bibliothek hinter der Baustelle, falls sie geöffnet hatte. Zur Feiningerkirche konnte man sicher mit dem Bus fahren. Und was ihr wichtig war, ein Kaffeehaus gab es an fast jeder Ecke.

First things first, Alma, dachte sie. Du brauchst erst einmal eine Wohnung hier, für den Übergang, bis dein Torhaus bewohnbar ist. Wie lange würde das dauern? Einige Monate? Ein Jahr? Hoffentlich nicht. Das Haus war klein, das musste doch schnell zu machen sein.

Ja, aber es ist ein Denkmal, fiel ihr ein. Da agieren höhere Mächte vor den Handwerkern, die berüchtigten Bürokraten zum Beispiel, die, wie man las, Bauanträge ignorierten oder gar sabotierten, im besten Fall liegen ließen. Vielleicht ist es hier anders. Außerdem ist das Haus eine Schande im Stadtbild, da wäre Beeilung doch angesagt.

Vor dem Umzug aus Berlin hatte sie keine Furcht; Umzugsfirmen gab es wie Sand am Meer, in Berlin oder hier in Weimar. Sie hatte vorhin an der Ampel einen großen LKW mit der Aufschrift „Huck Finn“ auf der Plane vorbeifahren sehen, das fand sie witzig. Für ihre Habseligkeiten würde ein Transporter ausreichen, ungeliebte Möbelstücke müssten nicht erst nach Weimar, Studenten könnten sie vorher für sich abholen.

Was war mit den Sachen ihrer Mutter? Sollte sie zum Lagerhaus in Neustadt fahren, wo sie seit Jahren nicht mehr war? Dann müsste sie auch zum Grab ihrer Mutter, und davor fürchtete sie sich. Sie war nach der Beerdigung nur noch einmal dort gewesen, und es war furchtbar. Obwohl zerrissen von Selbstvorwürfen, war sie trotzdem nicht wieder in ihre Heimatstadt gefahren. Sie hatte ihre Diplomarbeit zu schreiben und Prüfungen abzulegen. Danach war sie für vier Jahre nach Cornwall gezogen. Die Friedhofsverwaltung pflegte das kleine Grab gegen halbjährliche Rechnung, Menzels wollten sich ebenfalls kümmern.

Alma fühlte, wie sich in ihrer Brust etwas zusammenkrampfte. Inzwischen waren Wolken aufgezogen und hatten die Sonne verdeckt. Der Park wirkte dunkler, das Grün des Rasens stumpf. Sie packte das Weimarheft zurück in den Rucksack, stand auf und ging zurück über die Steinbrücke am Schloss in die Innenstadt.

Das Torhaus

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