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2.1 Der Krisenbegriff

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Nach Max Frisch gilt: »Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack von Katastrophe nehmen.« Die Krise wurde in der Geschichte der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen immer wieder diskutiert. Beispielsweise thematisieren Marx und Engels (1848) die fundamentale gesellschaftliche Krise als antagonistischen Klassengegensatz, der in der industriell-kapitalistischen Gesellschaft nur durch eine Revolution beseitigt werden kann. Entgegen der Annahme, dass Krisen mit einer einzigen Revolution gelöst werden können, geht Sorokin (1951) davon aus, dass Gesellschaften durch Allokationsprobleme von Ressourcen automatisch und immer wieder in Phasen der Krise und des Wandels eintreten. Auch in der Systemtheorie wird Krise als wiederkehrendes soziales Phänomen behandelt. Nach Parsons (1966) Argumentation kommt es zu einem allmählichen evolutionären Ausgleich unbalancierter Zustände und die daraus resultierenden Krisen werden in einem geordneten Wandlungsprozess zu neuen Gleichgewichten geführt. Luhmann (1999) wiederum beschreibt Krisen als heikle Situationen (Fehler und Irritationen als kritische Mikroereignisse) in Systemen und Umwelt-Beziehungen, die den Fortbestand des Systems oder wichtiger Systemstrukturen unter Zeitdruck in Frage stellen. In neueren Untersuchungen von Organisationen werden Krisen wiederum als Gefahr beschrieben, welche die Entwicklungs- und Lebensfähigkeit von Organisationen bedroht und als negativ und belastend wahrgenommen wird (Schwarz/Löffelholz 2014). Dabei spielen die Ungewissheiten über die Ursachen, Folgen und Lösungsmöglichkeiten einer Krise eine übergeordnete Rolle. Es kommt zum Verlust bzw. zur Erschütterung von geteilten Deutungsmustern, Werten und grundlegenden individuellen Annahmen über die von der Krise betroffene soziale Umwelt von Organisationen bzw. Anspruchsgruppen (Schwarz/Löffelholz 2014). Zudem sind Krisensituationen zeitlich begrenzt und gekennzeichnet durch einen als erhöht wahrgenommenen Zeit-, Entscheidungs- und Handlungsdruck bei zeitgleich eingeschränkten kognitiven Kapazitäten zur Informationsverarbeitung (Pearson/Clair 1998; Schwarz 2010).

Während sich diese und weitere Strukturbeschreibungen von Krisen zwar unterscheiden, ist allen gemein, dass sie neben der Ursache von Krisen auch ihre Funktion betrachten. Krise wird dabei als der Weg von einer Normalität in eine andere (Mergel 2012: 13) angesehen. Idealerweise dauern die Normalzeiten lange an und die Krisen sind nur von kurzer Dauer und bezwecken den nötigen Wandel in einer modernen Gesellschaft. Hier ist allerdings anzumerken, dass Krise zu einer allgegenwärtigen rhetorischen Metapher geworden ist, die das zeitgenössische Denken prägt (Holton 1987). Holtons Ansatz zur Krisenanalyse und -bewältigung steht in Bezug zu Problemen der sozialen Differenzierung und Institutionalisierung. Dabei wird ebenfalls zwischen Krise und Normalität unterschieden, wobei die Krise eine zeitlich begrenzte Abweichung von der Normalität darstellt: »Similarly in medical discourse, crisis refers to a particular stage in the development of an illness which is decisive for the future. The resolution of the ›crisis‹ will determine whether the ›patient‹ will recover or die. Crisis is not a permanent state« (Holton 1987: 504). Der hier angedeutete mögliche Effekt von Krisen findet sich vor allem in der soziologischen Analyse wieder. Beispielsweise nehmen Folkers und Lim (2014) Bezug auf die positivistische Soziologie als »Krisenwissenschaft« im Sinne Comtes (Koselleck 1982: 631; König 2012), die sich erhoffte, »durch Einsicht in die Gesetze der diagnostizierten Krise, diese plan- und beherrschbar zu machen und schließlich den ›kritischen‹ Zustand zu überwinden und in einen ›positiven‹ zu überführen.« (Comte 1973). Dabei besteht die Annahme, dass es durch Krisen zu Besserungen und Fortschritt kommt, deshalb werden Konflikten, als Ausdruck von Krisen, auch positive Effekte zugesprochen (Simmel 1908; Dahrendorf 1958; Coser 1965; El-Mafaalani 2018a).

Krisen können aus verschiedenen Gründen auftreten (Thießen 2011: 63 ff.) und sind abhängig von der Wahrnehmung der Betrachtenden (Kohring et al. 1996). Außerdem sind Krisen ungewiss und weisen manchmal sehr überraschende Verläufe auf (Thießen 2011: 65), die im Vorfeld nicht antizipiert werden können, weswegen Krisen mit weit vorausschauendem Handeln begegnet werden sollte. Eine Krise, die früh erkannt wird, kann mit relativ geringen ökonomischen und sozialen Mitteleinsatz gelöst werden, während sie im späteren Verlauf vollkommen ungewisse Kosten verursachen kann. In der Folge kommt es durch Krisen zur Verunsicherung von Individuen, Gruppen1 oder ganzen Gesellschaften (Merten 2008: 88). Sie stören die soziale Ordnung und verändern die Art und Weise, wie das Soziale wahrgenommen wird (Folkers/Lim 2014).

Während Ursache und Folgen von Krisen viel diskutiert werden, bedarf es auch einer Betrachtung der Strukturelemente solcher. Hier ist der Rückgriff auf Habermas (1973: 10) hilfreich, der Krise mit der folgenden Vorstellung verbindet:

»[…] einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück der Souveränität entzieht, die es normalerweise hat. Indem wir einen Vorgang als eine Krise begreifen, geben wir ihm unausgesprochen einen normativen Sinn: die Lösung der Krise bringt für das verstrickte Subjekt eine Befreiung. […] In der klassischen Ästhetik von Aristoteles bis Hegel meint Krise den Wendepunkt eines schicksalhaften Prozesses, der bei aller Objektivität nicht einfach von außen hereinbricht. Der Widerspruch, der sich in der katastrophischen Zuspitzung eines Handlungskonfliktes ausdrückt, ist in der Struktur des Handlungssystems und in den Persönlichkeitssystemen der Helden selbst angelegt.«

Zu einer ähnlichen Definition kommen Amann und Alkenbrecher (2015), die ebenfalls den Fokus auf den »Wendepunkt« legen: Als Auslöser, nicht aber als Ursache einer Krise wird gemeinhin eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation bzw. eine an eine gefährliche Entwicklung gekoppelte, schwierige Lage oder kritische Situation bezeichnet (Amann/Alkenbrecher 2015: 9). Aus diesem Grund wird Krise als »Zustand der Gesellschaft bzw. zentraler gesellschaftlicher Bereiche (Wirtschaft, Bildungswesen, Sozialstaat z. B.), in dem unter Zeitdruck schwierige Probleme der Anpassung, der Koordination und ggf. der Strukturveränderung und Systemerhaltung zu lösen sind« definiert (Schäfers 1992: 167). Was die genannte Strukturveränderung auslöst, bestimmt auch den weiteren Verlauf einer Krise, weswegen der Bezugsrahmen des Krisenbegriffs für die Analyse einer Krise von essenzieller Bedeutung ist. Eine Sicherheitskrise, bspw. durch terroristische Anschläge oder eine militärische Bedrohung durch einen anderen Staat, ist anders zu bewerten als eine Bildungskrise aufgrund schlechter Ergebnisse einer international vergleichenden Bildungsstudie. Zudem sind Erfahrungen mit Krisenbewältigung strukturgebend für Krisenverläufe, auf die in diesem Buch noch intensiv eingegangen wird. Damit sind Krisen »Formen der Selbstbeschreibung einer Gesellschaft, die sich so ebenso ihrer Reformbedürftigkeit wie ihrer Wandlungsfähigkeit vergewissert« (Mergel 2012: 13). Sie sind nicht zu denken ohne die Kulturen, in denen sie sich ereignen, und sind daher Wahrnehmungsphänomene, die mit Vertrauensverlust, Dringlichkeit, Unsicherheit sowie Zeitdruck einhergehen (ebd. 2012: 13).

Bei der Analyse von Krisen und ihren Verläufen fällt eine normative Komponente auf, die sich grundlegend in zwei Perspektiven aufteilt: den positiven bzw. optimistischen und einen idealtypischen, pessimistischen Krisenbegriff (Jänicke 1973: 10). Die Wahl der jeweiligen Perspektive wird durch das Erkenntnisinteresse der den Sachverhalt betrachtenden Akteur*innen bestimmt. Beispielsweise kann die aktuelle COVID-19-Pandemie als Krise dahingehend untersucht werden, welche Innovationen sich im Gesundheitswesen ergeben haben, oder aber, wie außerordentlich hoch die Folgekosten die nationale Wirtschaft belastet haben. Beides sind zulässige Fragen der ex post Krisenanalyse. Im ersten Fall wird eine Krise als Chance einer umfassenden Systemtransformation gesehen und ein positiver Ausgang angenommen, während im zweiten Fall die Krise bestenfalls in eine negative Lösung oder schlimmstenfalls in eine Katastrophe führt (vgl. Merten 2008: 84, 86). Zwischen diesen Extremlösungen kann es auch beim unveränderten Status quo ante bleiben, bei dem alles bleibt wie bisher, sich also keine innovative Lösung ergibt ( Abb. 1). Aus beiden Perspektiven auf Krisen erwächst allerdings unmittelbarer Handlungsbedarf, wodurch sie zu Garanten von Veränderungen werden (Thießen 2011: 63). Die gewohnte Normalität wird dabei durch Entscheidungen z. B. auf politischer Ebene in einen neuen Zustand überführt.


Abb. 1: Zur Struktur einer Krise (eigene Darstellung)

Gesellschaftliche Krisen und Proteste

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