Читать книгу Gesellschaftliche Krisen und Proteste - Helge Döring - Страница 11
2.2 Krise als Prozess
Оглавление»Krise!« wird im allgemeinen Diskurs schnell als politischer Kampfbegriff gebraucht, der in engen Zeitfenstern Handlungsdruck erzeugen soll, um politische Ziele schneller durchsetzen zu können (Luft 2016). Daher sind Krisensituationen immer auch Konfliktsituationen, bei denen verschiedene Konfliktparteien mit (teilweise) unvereinbar erscheinenden Interessen und Zielen aufeinandertreffen. Demnach sind es Konfliktanlässe, bei denen beteiligte Akteur*innen gegenwertig keine befriedigende Lösung erkennen, daher müssen neue ausgehandelt werden. In einer solchen Konstellation können unterschiedliche Verhaltensweisen die Konfliktdynamik verstärken und die Auseinandersetzung verschärfen (z. B. Achtlosigkeit, Kommunikationsverweigerung, Konkurrenz, verbale Angriffe und physische Gewalt). Unterschiedliche Annahmen, Haltungen und Weltanschauungen der Konfliktparteien machen eine Bewertung der Konfliktursachen zu einer komplexen Angelegenheit (Schrader 2018). Allerdings lassen sich die meisten Krisen durch Kommunikation entweder lösen oder zumindest erfolgreich in ihrem Ausmaß reduzieren. Dennoch erzeugen die mit ihnen verbundenen Ereignisse große Unsicherheit (Merten 2008: 88).
Bei der Betrachtung eines Krisenverlaufs, abgekoppelt von der üblichen Betrachtung der Ursache und der Wirkung von Krise, kann dieser als Eskalationsverlauf begriffen werden. Der Eskalationsverlauf wurde im wissenschaftlichen Diskurs sowohl in Phasen als auch in Stufen eingeteilt, was in den folgenden Kapiteln aufgearbeitet und in die empirische Analyse eingehen wird.
Zum dezidierten Verständnis der Eskalation von Konflikten nach Glasl (2011a: 233 ff.) müssen die Prozessfaktoren der Macht (ebd. 2012: 158 ff.) besonders hervorgehoben werden, da auf jeder Eskalationsstufe unterschiedliche Einfluss- und Machtressourcen mobilisiert bzw. für die Gegenseite blockiert oder zerstört werden. Glasls Phasenmodell der Eskalation (1980) weißt neun identifizierbare Eskalationsstufen auf, die sich in drei Hauptphasen (Ebenen) mit jeweils drei Abstufungen untergliedern. In der ersten Hauptphase kann es für beide Akteur*innen im Konflikt noch zu einer Win-Win-Situation kommen, bei der sie jeweils gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen. In der zweiten Hauptphase verliert ein*e Akteur*in, während der oder die andere gewinnt (Win-Lose), und in der dritten Hauptphase verlieren beide Akteur*innen (Lose-Lose). Die drei Hauptphasen sind also, wie in Abbildung 2 zu erkennen, voneinander getrennt. In der ersten Hauptphase kann eine kooperative Lösung noch auf der reinen Sachebene gelingen, in der zweiten Hauptphase werden die Akteur*innen zunehmend von moralisch-ethischen Skrupeln geleitet und in der dritten Phase nehmen sie die Schädigung der anderen Seite billigend in Kauf.
Abb. 2: Phasenmodell der Eskalation (nach Glasl 1980)
Nach Glasl (2011b: 125) zeichnen sich bei »heißen« Konflikten die Parteien durch eine intrinsische Begeisterung für die eigene Sache aus und wollen die Gegenseite von ihrer Sichtweise überzeugen. Aus diesem Grund haben sie zu Beginn des Konfliktes kein negatives Bild der Gegenseite und kommunizieren aktiv mit ihr. Bei »kalten« Konflikten ist diese Begeisterung erloschen und Frustration, Enttäuschung und Desillusionierung gewichen. Dies führt dazu, dass die Akteur*innen es aufgegeben haben, sich gegenseitig überzeugen zu wollen. Sie vermeiden im weiteren Verlauf die Auseinandersetzung oder gar den Kontakt mit der Gegenseite, nutzen aber Gelegenheiten, ihr aktiv zu schaden. Konflikte entwickeln sich entlang der neun in der Folge kurz beschriebenen Eskalationsstufen.
1. Eskalationsstufe 1 »Verhärtung«: Es findet eine dialogische Auseinandersetzung statt, getragen von der Bemühung um eine kooperative Problemlösung, die mit rationalen und sachlichen Argumenten unterbaut wird (Glasl 2010; Glasl 2011a: 76 ff.; Glasl 2012: 159).
2. Eskalationsstufe 2 »Debatte, Polemik«: In der von Meinungsverschiedenheiten bestimmten Auseinandersetzung kommt es immer häufiger zur Polemik, um die Gegenseite unter Druck zu setzen. Eine Polarisierungen im Denken, Fühlen und Wollen der Beteiligten entsteht, in der rechthaberisches Verhalten Einzug hält, um damit die eigene Überlegenheit zu unterstreichen. Ein gezielter Einsatz von verbaler Gewalt, rhetorischen Winkelzügen und taktischen Tricks ist zu erwarten. Außerdem werden erste Demütigungen ausgesprochen, wenn auf Wissenslücken, Denkfehler, Fehlschlüsse und Schwächen in der gegnerischen Argumentation hingewiesen wird (Glasl 2012: 159).
3. Eskalationsstufe 3 »Taten statt Worte«: In dieser Phase werden die Gespräche zwischen den Akteur*innen immer häufiger ergebnislos abgebrochen und ein permanenter Druck auf die Gegenseite aufgebaut. Allein mit Argumenten ist zu diesem Zeitpunkt niemand mehr zu überzeugen. Es werden die eigene Stärke, Entschlossenheit und das eigene Selbstvertrauen zur Schau gestellt und die Gegner*innen mit vereinzelten Drohungen und Hinweisen auf die Konsequenzen des eigenen Handelns eingeschüchtert. Die Alternativlosigkeit des eigenen Handelns wird außerdem betont (Glasl 2012: 159 ff.).
4. Eskalationsstufe 4 »Koalitionen und Images«: Alle Konfliktparteien sehen sich im Recht und haben ein positives Selbstbild etabliert. Die gegnerischen Akteur*innen werden in ihrer Sach-, Fach- und Führungskompetenz abgewertet und nicht ernst genommen. Es etablieren sich stereotype Feindbilder, die gereizt und provoziert werden. Gleichzeitig besteht die Sorge um ein positives Eigenbild, weshalb in Image-Kampagnen um Verbündete geworben wird, um durch zahlenmäßige Überlegenheit die eigenen Siegchancen zu steigern. Manchmal werden diese Koalitionen auch verdeckt geschmiedet (Glasl 2012: 160).
5. Eskalationsstufe 5 »Gesichtsverlust«: Ab dieser Stufe werden die gegnerischen Akteur*innen nur noch als Feind*innen angesehen, die durch negative Zuschreibungen (unmoralisch, kriminell, bösartig und minderwertig) öffentlich diskreditiert werden. Es kommt zu einem absoluten Vertrauensbruch, zu Verachtung in der Öffentlichkeit und zur Rufschädigung der Gegner*innen. Dies dient der Isolation und Delegitimierung (Glasl 2012: 160 ff.).
6. Eskalationsstufe 6 »Drohstrategien und Erpressung«: Die Akteur*innen überziehen sich gegenseitig mit Drohungen und stellen einander Ultimaten. Ethische Aspekte werden außen vor gelassen und es wird versucht, der Gegenseite die eigenen Forderungen zu diktieren. Bei Nichterfüllung wird mit Gewaltanwendung gedroht (Glasl 2012: 161).
7. Eskalationsstufe 7 »Begrenzte Vernichtung(sschläge)«: Die gegnerischen Akteur*innen werden nun vollends als Feind*innen wahrgenommen und entmenschlicht. »Der Zweck heiligt die Mittel!« und eröffnet den Rückgriff auf drastische Verfahren (Lüge, Täuschung, Überrumpelungstaktiken und Desinformation). Noch achten die Konfliktteilnehmenden darauf, die zerstörerische Wirkung ihrer Aktionen zu begrenzen (Glasl 2012: 161 ff.).
8. Eskalationsstufe 8 »Zersplitterung«: Alle als Feind*innen bezeichneten Akteur*innen und ihre Verbündeten sollen mit Vernichtungsschlägen irreparabel zerstört werden. Dies geschieht durch direkte Gewalthandlungen wie z. B. Körperverletzungen. Auch psychische Erkrankungen als Folge des Stresses und der finanzielle Ruin der Gegenseite werden billigend in Kauf genommen. Auf der Gegenseite bewirken diese existenzgefährdenden Schäden eine zunehmende Radikalisierung (Glasl 2012: 162).
9. Eskalationsstufe 9 »Gemeinsam in den Abgrund«: In dieser Phase nimmt (wenigstens) eine Partei die eigene Vernichtung in Kauf, wenn damit der oder die Feind*in definitiv vernichtet werden kann. Durch direkte Gewalthandlungen ohne jede Rücksichtnahme wird die Strategie der »verbrannten Erde« geführt (Glasl 2012: 162).
Glasl (2012: 162) zeigt mit diesem Modell auf, wie im Laufe eines Konfliktes eine Dynamik eintritt, die weg vom Dialog bis hin zur Gewalt führt. Rationale Kalküle und die Vernunft der handelnden Personen werden ins Gegenteil verkehrt und irrationale, emotional aufgeladene Gewalthandlungen sind die Folge. Wie die Erkenntnisse aus zahlreichen Expert*inneninterviews der Studie zeigen, muss es das primäre Interesse aller Akteur*innen sein, die Konfliktparteien unbedingt im Dialog und den Diskurs auf den ersten drei Eskalationsstufen zu halten. Danach steigen die Kosten, eine Krise friedlich aufzulösen, immens, weil Deeskalationsmaßnahmen wesentlich teurer sind als Präventionsmaßnahmen.