Читать книгу Gesellschaftliche Krisen und Proteste - Helge Döring - Страница 12
2.3 Krisendeutung
ОглавлениеKrise bedeutet für die Betroffenen eine Einengung, bei der sich das ganze Leben im Folgenden auf ein Problem reduziert (Kast 1987: 16 ff.). Die Betroffenen erleben dabei Angst, Panik, Hilflosigkeit bis hin zur Ausweglosigkeit. Ihre Identität und Kompetenz werden als bedroht erlebt. Dabei besteht ein gefühltes Ungleichgewicht zwischen der subjektiven Bedeutung des Problems und den Bewältigungsmöglichkeiten, die den Betroffenen zur Verfügung stehen. Um dem existenziellen Druck entgegentreten zu können, muss eine grundlegende Veränderung der Verhaltensweise erzwungen werden. Häufig kommt es dabei zum inneren Rückzug der Individuen, um sich auf das Problem und die Bewältigungsstrategie konzentrieren zu können. Hervorzuheben ist dabei, wie der kommende, unsichere und unterschiedlich relevante Ausgang des Ereignisses in der Öffentlichkeit angesehen wird (Merten 2008: 88). Die Dimensionen dafür werden im möglichen Schaden, der Größe und Bedeutung der davon betroffenen Zielgruppe sowie der zu vermutenden Schadenseintrittswahrscheinlichkeit gesehen.
Damit wird auch der Grund für das umrissene Eskalationspotenzial von Krisen deutlich, denn es geht nicht nur um die Veränderung eines eingespielten Ablaufs, sondern die anlassbezogene Neubewertung auch subjektiver Identitätsmerkmale. Egal, ob diese Neubewertung hinsichtlich Organisationen oder Individuen stattfindet, oft führt sie zu einer Abwertung der Wertschätzung bzw. der Rolle und zu Anerkennungsdefiziten (Legge/Heitmeyer 2006). Demnach stellen Konflikte einen »universellen, das heißt in allen Gesellschaften vorfindbaren Prozess der Auseinandersetzung [dar], der auf unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppierungen beruht und der in unterschiedlicher Weise institutionalisiert ist und ausgetragen wird« (Lankenau 1992: 157 ff.).
Konfliktparteien sind in diesem Kontext nicht nur aufeinander bezogen, sondern in ein weitreichendes Wahrnehmungsgefüge eingebettet. Ein Beispiel dafür sind soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, welche eine hohe Spontanaktivität mit der Möglichkeit von Aufschaukelungseffekten in sich bergen können und konfliktverschärfend wirken, indem Konflikte weithin sichtbar gemacht werden. Die zunehmende Vernetzung führt zu einer nichtlinearen Systemdynamik, die sich nicht prognostizieren lässt (Kruse zit. nach Sohn 2014). Shitstorms und Hate Speech sind dabei zu alltäglichen Phänomenen geworden (Preuß et al. 2017). Doch nicht nur im oftmals anonym wirkenden Internet, sondern auch im persönlichen Dialog ist der Ton rauer geworden und trifft viele Personen in Form von ungebremstem Hass, Wut und respektlosen Kommentaren völlig unvorbereitet. Dennoch ist zu betonen, dass Konflikte, trotz ihres schlechten Rufs, nicht nur nicht zu vermeiden sind, sondern eingefahrene Strukturen reformieren können (Simon 2010: 10).
In diesem Kapitel wurde der Krisenbegriff näher beleuchtet und in seiner prozesshaften Natur analysiert. Dazu wurden unterschiedliche Perspektiven auf den Krisenbegriff vorgestellt, die Prozesshaftigkeit des Krisenverlaufs untersucht und die Deutungsvielfalt auf Krisen diskutiert. Aufbauend auf diesen Elementen und vorbereitend zur Konzeptionierung von Kriseninterventionen durch Dialog, wird im folgenden Kapitel eine Krisenverlaufstypologie erarbeitet, welche zugleich den Rahmen für die empirische Untersuchung in den späteren Kapiteln bildet.
1 Dies ist hinreichend durch die Krisenexperimente von Goffman (1963), Garfinkel (1967) und Milgram (1978) aufgezeigt worden, bei denen implizite Normen sozialer Wirklichkeit dadurch erkennbar gemacht wurden, in dem sie durch explizite Missachtung gebrochen wurden.