Читать книгу Gesellschaftliche Krisen und Proteste - Helge Döring - Страница 8

1 Einleitung

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Protest ist Alltag, ob auf Marktplätzen oder Smartphones. Selten verstetigt er sich, sondern findet in der Regel eine Übersetzung in Kompromisse, was ein Zeichen einer vitalen und funktionierenden Demokratie ist. Einer solchen Konsensfindung liegen teils komplizierte, langwierige und zugleich symbolträchtige Dialogrunden zugrunde, ohne die eine Einigung unmöglich wäre. In diesem Buch geht es nicht um das Ergebnis einer Verständigung, sondern darum, wie diese zustande kommt. Das ist umso wichtiger, da die Protestwellen scheinbar zunehmend über das Land rollen. Während in den Jahren 2015 und 2016 vor allem PEGIDA mit seinem völkisch-nationalistischen Protest gesellschaftspolitische Debatten bestimmte, war es im Jahr 2019 ein klimaorientierter Protest eines tendenziell sozialliberalen Milieus mit politisch sehr heterogener Ausprägung. Dieser versammelte sich vor allem unter dem Banner von »Fridays for Future« und wurde von Schüler*innen und Studierenden vorangetrieben. 2020 wiederum war geprägt von Protesten gegen die Maßnahmen im Rahmen der COVID-19-Pandemie, welche teils rechtsextreme, verschwörungsmystische und demokratiedistante Einflüsse aufweisen. Protest gewinnt damit, zulasten von direkter Partizipation, an Bedeutung zur Willensdurchsetzung im demokratischen System. Es geht demnach Zusehens nicht mehr darum, selbst politische Verantwortung zu übernehmen, sondern politisch Verantwortliche zu beeinflussen. Diese Veränderung mag zunächst wie eine postdemokratische Entwicklung wirken, doch kann sie auch als Ausdruck eines Wandels der politischen Kultur verstanden werden, einer Kultur, in der Dialog eine zunehmende Bedeutung zukommt.

Aus diesen Beobachtungen entspringt die grundlegende These dieses Buches: Deutschland entwickelt sich zu einer Gesellschaft, in der Konflikte immer offener zutage treten und ausgehandelt werden müssen. Dabei werden Veränderungen zunehmend als Krisen wahrgenommen, welche Protest hervorbringen, der wiederum durch Dialog verhandelt werden muss, um das demokratische System aufrechtzuerhalten. Einer der Treiber bei der Entstehung der Protestgesellschaft ist die zunehmend politische Polarisierung zwischen einer sozialliberalen und pluralistischen Wähler*innengruppe und denen, die einen autoritären Nationalradikalismus (Heitmeyer 2018) befürworten. Protest wird durch die digitale Selbstermächtigung auf den jeweiligen Informationskanälen gestärkt und die mitunter langwierigen Entscheidungsprozesse demokratischer Aushandlung sind dabei nur in geringem Maße anschlussfähig. Dem Dialog kommt eine Brückenfunktion zwischen Entrüstung und Kompromissfindung zu.

Folglich geht es um die Aushandlung zwischen Öffnungs- und Schließungstendenzen einer Gesellschaft durch Dialog. Das erzeugt Spannungen und Brüche. Die Bruchlinien des viel diskutierten gesellschaftlichen Zusammenhalts, die sich vor allem in Bezug auf die beiden skizzierten Pole ausdifferenzieren, verlaufen damit nicht nur innerhalb der Wählerschaft der (vormaligen) Volksparteien, sondern auch quer durch die Mitgliedschaft anderer vormals integrierender Institutionen, wie Kirchen, Gewerkschaften oder Vereinen. Sie büßen damit, für Teile ihrer Mitglieder, ihre Verlässlichkeit ein. Kirchen wenden sich gegen den zuwanderungsskeptischen Protest und Gewerkschaften stehen dem Klimaprotest reserviert gegenüber. Das mag jeweils für die Mehrheit ihrer Mitglieder richtig sein, aber nicht mehr für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die sich kaum mehr irgendwo aufgehoben fühlt, sich aber weiterhin in den Diskurs einbringen möchte. Wo Institutionen fehlen, die die eigenen Interessen organisieren und vertreten oder zumindest ernst nehmen, tritt Selbstermächtigung in Form von Protest und sozialen Bewegungen auf, die häufig die vorhandenen Strukturen oder gefallenen Entscheidungen infrage stellen und Veränderungen einfordern. Das kann bis zur Gründung von Parteien führen, wie in den 2010er Jahren der AfD oder rund vierzig Jahre zuvor den Grünen, um Änderungen politisch zu erzwingen, womit sich Protest entweder verstetigt oder sich zum Vehikel konstruktiver Veränderung entwickelt. Protest wird damit zum rationalen Mittel der Interessensbekundung und deren Durchsetzung, wobei Dialog zur Graswurzelarbeit der Bewahrung der liberalen Demokratie wird.

Auf den Beziehungsebenen Protest, Krise und Dialog fußt auch die forschungsleitende Frage dieser Arbeit: Wann kann Dialog in Krisensituationen eine Lösung erzeugen? Hier wird bereits vorgegriffen und davon ausgegangen, dass Dialog Lösungen hervorbringen kann, welche für alle beteiligten Gruppen akzeptabel sind. Das setzt Dialog- und Kompromissbereitschaft aller Konfliktparteien voraus. Fehlen diese, findet Dialog entweder nicht statt oder hat keine krisenberuhigende Wirkung und kann sogar zur weiteren Eskalation beitragen. Das kann neben den Dialogvoraussetzungen auch durch die Dialoggestaltung geschehen, weswegen in diesem Buch ein besonderes Augenmerk auf Dialogformate gelegt wird. Mit der Beantwortung der Forschungsfrage kann das Verständnis der demokratischen Erneuerung in der Protestgesellschaft näher beleuchtet werden.

Die Beschäftigung mit Dialog ist für einige Berufsgruppen von besonderer Bedeutung, da sie mit der Bewahrung der liberalen Demokratie tagtäglich befasst sind. Das betrifft vor allem Sozialberufe, in denen die Verständigung unterschiedlicher Interessen Teil des Arbeitsalltags und des professionellen Auftrags ist. Damit sind nicht immer die medial viel beachteten großen Dialogrunden gemeint, wie z. B. die Schlichtung zwischen Gegner*innen des Bahnprojektes Stuttgart 21 und dem Bahnkonzern im Jahr 2010, welche teils live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen wurden, sondern auch alltägliche Aushandlungen, wie die Findung verbindlicher Regeln in einem Jugendzentrum. Das setzt voraus, dass Dialog in Bezug zur Krisenwahrnehmung der protestierenden Gruppen gesetzt wird. Doch auch für Politiker*innen, Menschen, die im politiknahen Umfeld tätig sind, Journalist*innen, Verbands- oder Gewerkschaftsmitarbeiter*innen soll das Buch einen Gewinn darstellen. Denn Dialog ist mehr als ein Verfahren zur Zielerreichung, es stellt die Demokratiefähigkeit aller beteiligter Akteur*innen auf die Probe und wird in einer pluralen Gesellschaft zugleich immer wichtiger, da es eine zunehmende Anzahl von Interessensgruppen gibt (El-Mafaalani 2018a).

Gesellschaftliche Krisen und Proteste

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