Читать книгу Trugbild der Schatten - Helmut Aigner - Страница 28
Kapitel 23
ОглавлениеDer Gipfel war schnell passiert, die Felswand dahinter würden sie aber selbst mit den besten Kletterkünsten nicht so leicht überwinden.
Tregardis musste sich entscheiden und er überlegte angestrengt: rechts oder links?
Dann entschied er sich für eine Biegung nach Westen.
Sie waren mittlerweile kurz vor dem steinernen Durchgang, dem einzigen Einlass nach etlichen Kilometern. Spätestens jetzt merkte Etaila, dass dieser Ort gigantische Ausmaße besaß und nicht von der Natur entworfen war. Sie glaubte allerdings auch nicht, dass der Ring von menschlichen Händen erbaut war.
Eher nichtmenschliche Händen oder Pranken, die sich nicht auf schöne Bauwerke verstanden.
„Venya hatte sich bewusst zur Nähe zu dem Friedhof entschlossen. Sie nahm an, dass kein noch so gerissener Kirchenmann uns dort vermuten würde. Seit Jahrhunderten legen sich die Zyklopen auf den Erdhügeln zu ihrer letzten Ruhe. Der Ort ist selbst für normale Menschen gefährlich, denn von überall kommen die versklavten, überalterten Einäugigen her, um hier zu sterben. Wir müssen schnell sein und beten, dass sich nicht irgendeiner, den seine Zeit ereilt hat, jetzt einfindet.“
Er überprüfte das gesamte erhöhte Massiv, versuchte es kurz zu überspähen, aber Treagdis konnte nicht alles einsehen und musste auf sein Glück hoffen und zugleich zynisch schnauben bei diesem Glücksspiel.
„Wenn wir den Friedhof überqueren und einen Durchgang hinaus finden, können wir es vielleicht sogar noch vor den Kirchenmännern nach Sturmfels schaffen oder wenigstens aus dieser Ebene hinaus.“
Er wollte ihr Mut machen, doch die Söldnerin zeigte nur ein kaltes, gefühlloses Gesicht, das ihre Angst verbarg.
Sie stoppten vor dem Torbogen, holten Atem. Wieder prüfte Tregardis die Gegend vor ihren Füßen. Er ging auf Nummer sicher, sah aber nicht viel mehr als davor. Ein leichter Nebel lag über den Erdhügeln in dem großen Steinkreis. Obwohl ihnen beiden unbehaglich war, durften sie keine Zeit verlieren. Sie hetzten durch die Öffnung mit Platz für zwei bis drei Personen. Einige Runen an den Pfeilern verrieten, wem dieser Ort seit Ewigkeiten geweiht war.
Es gab allerdings nur noch wenige der Riesen in den Diensten der Kirche, was einzig daran lag, dass sie sich selten fortpflanzten und nur schwer von Menschen zu zähmen waren.
Ein bescheidener Pfad führte auf die ersten Hügel zu. Alte rostige Waffen ragten aus den Erdhaufen heraus, rostzerfressene riesige Schwerter, auch einfache, zerschundene Knüppel von einem Gewicht, dass sie der Soldat nicht im Traum anheben könnte. Etaila wurde bewusst, dass sie in ihrem bisherigen Leben noch nicht einmal einen Zyklopen zu Gesicht bekommen hatte und es sich auch keinesfalls wünschte. Sie kannte Zeichnungen, hatte Geschichten in ihrer Kindheit gehört, unheimliche Geschichten von Riesen, die mit unglaublicher Kraft ausgestattet in den Schlachten der versunkenen Völker in vorderer Reihe kämpften. Berserker, die Krieger töteten viele mit einem Schlag. Außerdem besaßen sie eine Haut, die wie zähes Nietenleder vor vielen Waffen Schutz bot. Sie erinnerte sich an das markante Maul, das diese Kreaturen auszeichnete, umrahmt von gelblichen astdicken Zähnen wie die eines fetten Nilpferdes. Es gibt düstere Sagen, denen kein Mensch auf den Grund gehen möchte. Zyklopen waren rar geworden. In einigen Landstrichen auf dem Kontinent kannte man sie nur aus solchen Geschichten, als Kinderfresser oder noch Schlimmeres.
Aber es blieb ruhig, besser totenstill. Es gab keine Anzeichen dafür, dass man sie verfolgte. Kein Abfeuern der Gewehre, kein Lärm von Pferden, nur noch Stille und eine leichte Note von Grabgeruch, die sich wie eine Glocke über den Friedhof legte. Kein Gestank, sondern etwas, das man nur nebensächlich wahrnahm. Auf Dauer störte es in der Nase, irgendwann wurde es jedoch nagend.
Ihr Instinkt sagte Etaila, dass sie das Gebiet schleunigst durchqueren sollten - jetzt.
Sie sah die ersten großen Erdhügel vor sich aufragen, welche nicht so aussahen, als wären sie frisch aufgetürmt worden.
„Was ist, wenn der, durch den wir gekommen sind, der einzige Durchgang ist? Dann stecken wir mehr in der Falle als im Wald.“ Sie flüsterte und wusste nicht, weshalb. Sollte es jemanden geben, der ihre Worte hören konnte, war es doch absurd. Zyklopen kannte man nur aus Schauermärchen.
„Keine Ahnung, ich hielt mich bisher nicht auf dem Gräberfeld auf. Wahrscheinlich gibt es wirklich nur diesen Eingang. Zyklopen, die her gelangen, brauchen keinen weiteren. Wir durchqueren den Friedhof und suchen uns ein Übergang, den man gut überklettern kann. Ich hörte früher Geschichten von diesem Ort. An einigen Stellen soll er schon halb verfallen sein, denn niemand hält diese Grabmäler instand.“
Besser für uns , dachte sich die Söldnerin und: „Hoffentlich ist er kein Dummkopf, sonst werde ich mich noch nach den Ordenskriegern zurücksehnen.“
Tregardis lief voran.
Nebenbei betrachtete er einen mit Dreck und Laub überwucherten Haufen, in dem sich Schmuck und weitere Kostbarkeiten verbargen. Ein Kettenhemd mit Goldverzierungen fiel ihm ins Auge, welches wohl einst einem Menschen gehört hatte. Ein Riese hatte es einem anderen für die letzte Reise geschenkt. Tregardis konnte sich nicht zurückhalten und begann in den aufgehäuften Grabbeigaben zu wühlen.
Er fand einen vergoldeten Kamm, halb verrottet, aber trotzdem ansehnlich für den Wert des Gegenstandes. Er entdeckte sogar noch Münzen aus Silber mit der Prägung des Stadtrates von Dyphon, aus dem Zentrum der Zivilisation des Festlandes, Hunderte Jahre alt. Die glanzvollen Mauern dieser Weltstadt waren längst zu Staub zerfallen.
Er hörte hinter sich ein übertriebenes Räuspern.
Und der Soldat musste sich schwer beherrschen, nicht die Finger nach den Schätzen auszustrecken. Er legte das Kettenhemd über die Kleinode und überließ es wieder der Witterung.
Er entdeckte viel mehr Kostbarkeiten und das nur bei der Ansicht der nahen Gräber auf dem Feld vor dem Eingang. Was erst noch in den grob behauenen Felskrypten unter einer Schicht Staub verrottete, wollte er nicht erfahren. Der Ort löste wohl auch bei den Bürgern von Sturmfels Angst aus, die nahe dieser Stätte siedelten. Anders konnte man es sich nicht erklären, dass diese Schätze bisher nicht gestohlen wurden. Zum Glück für die Zyklopen waren die Einwohner abergläubisch bis zum Äußersten. Tregardis beschleunigte sein Tempo und bestieg einen der Hügel in der Nähe, wobei er die Wurzeln einer knorrigen Eiche und später deren Äste als Kletterhilfe benutzte. Dann stand er mit unsicheren Beinen auf der Hügelkuppe. Er drehte sich von links nach rechts und zurück. Der Thärde versuchte, durch den Dunst zu schauen. Er hatte einerseits richtig getippt: soweit das Auge reichte, gab es diesen Ring aus Stein, der alles umschloss.
Auf der anderen Seite aber schien es keine Möglichkeit zu geben, diesen Ring zu überwinden. Jedenfalls konnte er keine ausmachen.
„Wir müssen eine Anhöhe nahe der Felswand finden.“
Er zeigte landeinwärts auf einen unsichtbaren Punkt dem Wall folgend. An jener Stelle lag die Hafenstadt und weiter dahinter das Kernland und wiederum dort, im Schutz der Berge, das alte Lager der Hexe. Es musste einfach eine Möglichkeit geben, über diese Brocken aus Fels zu gelangen. Sie durften jetzt nicht umkehren und aufgeben.
Ich wusste es doch, ein Dummkopf, genau das hatte ich geahnt.
Die Söldnerin konnte sich diesen bissigen Gedanken nicht verkneifen.
Sie stapften durch matschige Erde weiter.
Beide hörten von vorne und hinten ein lautes Gekrächze. Auch Krähen liebten diesen Ort und versammelten sich gleich in Scharen.
Tregardis betrachtete kurz eine Stele, die - überzogen mit verwitterter Schrift, achtlos in eine der zahlreichen Erhebungen zur Hälfte versenkt - auseinanderfiel. Es gab so vieles, was überhaupt nicht hierhergehörte.
Der Soldat führte sie nun an und erklomm einen weiteren Hügel, der noch größer war als der vorherige. Waffen und Rüstungsteile ragten von Ruß und Dreck beschmiert heraus. Er fragte sich, welcher Narr die Toten mit Erde bedeckte, ihre Gräber aushob. Diese einfache Frage zermarterte ihm den Verstand. Dies war kein Tempel, es gab weder Messen noch Diener. Keine Angestellten begrüßten die Ankommenden und begruben die Toten, wenn es so weit war. Es wirkte sehr seltsam auf ihn, dass alle paar Schritte ein Grabhügel vor ihnen auftauchte, der sich in mehr oder weniger gutem Zustand befand. Vielleicht gab es auch bei Riesen Artgenossen, die sich solcher Arbeiten verpflichtet fühlten, die diese freiwillig übernahmen und sich dann friedlich in den Wald verzogen. Er wollte daran glauben, dass es eine derartige Gilde unter den Einäugigen gab, aber er musste darüber den Kopf schütteln. Zyklopen kämpfen einsam und geschickt in einer Schlacht. Sie leben allein. Wenn der Orden sie noch gebrauchen kann, werden sie in einzelnen Verschlägen gehalten und so sterben sie auch. Man betrauert sie nicht und erst recht umsorgt sie keine Sippe an diesem düsteren Ort. Sie gehen isoliert auf ihre Reise. Aber er hoffte jedenfalls, keinem Grabwächter zu begegnen -gleich von welcher Art.
Er hätte sich für die Dummheit, nicht mit Venya über einen sorgsamen Fluchtplan gesprochen zu haben, selber ohrfeigen können. Doch nun war es zu spät dafür. Ein Blick auf die Person, die er zu schützen hatte, verriet ihm, dass Etaila sich nicht von der trügerischen Stille täuschen ließ. Sie begann, so wie er auch, sich zu ängstigen.
Etwas stimmte hier nicht und je weiter sie in die Begräbnisstätte hinein marschierten, desto schwieriger wurde es für sie bei einer Flucht hinauskommen. Sie wollten den Hauptausgang nicht ein weiteres Mal benutzen.
Noch konnte es möglich sein, dass dies ein verlassener Ort war. Wenn jemand diesen Ort zum Sterben aufsuchte, dann geschah es alle hundert Jahre oder vielleicht sogar seltener.
Sie gingen weiter, bahnten sich einen Weg durch die Nebelschwaden.
Ein einziger Blick geradeaus unterbrach Tregardis Überlegungen. Der Anblick war seltsam, sodass er laut ausatmen musste. Vor ihm lag eine größere Anzahl Leichen. Sorgsam in einer Mulde ruhten mehrere Körper riesenhafter Kreaturen. Vielleicht ein Dutzend dieser Bestien, die man nicht lebend vorfinden wollte, wenn man noch bei klarem Verstand war. Sie waren alle in ihre Rüstungen gekleidet und mit Waffen verschiedenster Art ausgestattet, denn nur das besaßen sie, falls überhaupt, zu Lebzeiten in rauen Mengen.
Unbeirrt ging der Soldat näher auf sie zu. Er las den leblosen Ausdruck in ihren Gesichtern, ausladende steinerne Fratzen zeichneten dieses Volk aus, die doch zaghaft zu sein schienen, jetzt, da sie nicht mehr lebten. Sie waren friedlich und leer. Einige von ihnen trugen eiserne Masken, die ihr großes Auge bedeckten. Bei anderen konnte man die Narben des Blendens deutlich erkennen oder das Augenlid war zugenäht worden. Aber der Geruchssinn des mächtigen Riesenzinkens reichte hervorragend aus, um sich zurechtzufinden. Beweis genug war ja, dass sie es bis hierhergeschafft hatten.
„Irgendjemand war zu faul, seine Arbeit zu Ende zu bringen“, meinte der Soldat tonlos und hoffte gleich, dass dieses unvollendete Werk ewig zurücklag und der Friedhof unbewohnt blieb.
Sein Blick fiel auf das einzige dieser riesigen Geschöpfe, dass es im Sitzen dahingerafft hatte. Ein mieser fetter Sack, wie Tregardis erkannte, der vor einer der Gruben saß, gestützt auf einen Speer von gewaltiger Länge, gehüllt in eine Rüstung aus grobem Leder mit beschlagenem Eisen.
Und der Kerl stank erbärmlich zum Himmel, so sehr, dass dem Thärden die Tränen flossen.
Er wusste nicht, wieso, aber er musste diese Person unbedingt näher untersuchen. Er sorgte dafür, sich leise fortzubewegen. Schritt für Schritt achtete er darauf, nicht in feuchter Erde stecken zu bleiben, die sich zu den Köpfen der Leichen türmte. Ebenso achtete er darauf, nicht auf Steinen auszurutschen. Beim Hinabsteigen begab er sich auf seine Knie und tastete sich langsam hervor. Er schaute einmal zurück und sah Besorgnis in den Augen von Etaila, die aber ebenfalls herankam. Es war seltsam, denn die wichtigste Aufgabe lag darin, die Söldnerin aus dieser Grabanlage zu führen. Doch das Einzige, woran er dachte, war, einen alten Zyklopen innig zu betrachten. Nachzuschauen, wie ein Riese wirklich von Nahem aussah. Und das Wort Kadaver war gar nicht so weit hergeholt, denn der Leichnam sah furchtbar mitgenommen aus. Aschgrau und aufgedunsen wirkte er und der Gestank wurde immer schlimmer, je kürzer der Abstand zu dem Toten wurde. Aber er konnte nicht anders handeln, er musste wenigstens einmal die Waffe begutachten, die der gewaltige Kerl in seiner Rechten hielt, sie anfassen und das Gewicht prüfen.
Eine Lanze von solch einer Größe dürfte es nicht zweimal geben. Tregardis war jetzt so nah, dass er die schuppige, steinharte Haut der Kreatur voller Sorgfalt begutachtete.
Da hörte er leise, doch deutlich das Flüstern der Söldnerin: „Schaut Euch die Gefallenen an, seht genau hin. Sie wurden alle umgebracht.“
Er folgte ihrer Aufforderung. War er wirklich so blind gewesen? Er blickte auf die noch nicht begrabenen Körper und erkannte, dass sie mit einer Schneide hingerichtet worden waren. Sie waren nicht hergekommen, um friedlich in eine andere Welt zu gelangen, man hatte sie mit Gewalt dorthin befördert. Jedem der Liegenden war fein säuberlich die Kehle durchgeschnitten worden und Tregardis fragte sich ein zweites Mal, wieso er es nicht sofort gesehen hatte.
Er war nun vor dem stummen Wächter angelangt und reckte sich. Etaila war knapp hinter ihm. Der Zyklop musste sie alle umgebracht haben, bevor er selber durch eine Verletzung dahingeschieden war. Jedenfalls klebte getrocknetes Blut an seiner ungeschützten Seite. Nun bemerkte der Thärde auch, dass ein Schwert im Bauch des Riesen steckte, das im Verhältnis Mensch zu Gigant wie ein Dolch wirkte. Er sah eine beachtliche Menge geronnenes Blut, wie es von der Schneide hinunter getropft und dann im Laufe von Tagen getrocknet war. Aus dieser Entfernung nahm er noch mehr Verwesungsgestank wahr. Er wollte sich wirklich nicht länger hier aufhalten. Er hatte vor, die Söldnerin an dem Sitzenden vorbei zu führen, geradewegs weiter zu einer nächsten Anhöhe, als er ungewollt zusammenzuckte.
Es begann mit einem tiefen Schnauben, es klang so rau wie das Schaben einer Axt an hartem Stein. Nur lauter.
Ein Rasseln setzte ein, verwandelte sich in ein Brummen, das laut genug war, um selbst Etaila hinter ihm den Atem zu rauben. Im gleichen Moment beobachtete Tregardis mit einem Blick auf den Kerl, wie dessen Oberkörper sich hob und senkte. Das Ding hatte wieder begonnen zu atmen.
Wie dumm nur, dass kaum ein Mensch noch wusste, dass verletzte todesnahe Zyklopen über Wochen in einem Todesschlaf ruhen konnten und äußerst dumm nur, dass die Regeneration gerade in diesem Augenblick beendet war.
Die Oberarme des Zyklopen zitterten leicht und sein Haupt fing schon jetzt an, ein Ziel zu suchen.
Es ist nicht tot, das verfluchte Vieh ist nicht tot! Es wird uns an Ort und Stelle zerstückeln und ich habe alles falsch gemacht, was ich nur konnte , hämmerte es dem Kämpfer durch den Kopf. Eine schreckliche Erkenntnis für ihn. Behäbig streckte sich der Gigant von doppelter Größe eines Menschen gen Himmel. Gleichzeitig zog eine klauenbewehrte Hand das Schwert aus der Seite. Es verblüffte den Soldaten, wie leicht der Krieger seine Verletzung wegsteckte - eine Gabe dieses Volkes, die nicht zu verachten war. Der Riese drehte sich in einer fließenden, langsamen Bewegung zu seinen Betrachtern um, ein glühendes Auge schaute auf Etaila, in der Farbe von dunklem Kristall, undurchsichtig und doch im Ausdruck voller Abscheu.
Es gab also Unwürdige in seinem Reich, die sein Werk stören wollten, seine heilige Pflicht unterwandern wollten.
Der Wächter presste eine Pranke auf die vernarbte Wunde und stellte fest, dass die Verletzung fast ganz genesen war. Er verzog sein Gesicht in Hass, sodass es wie eine alte gegerbte Lederhaut wirkte. Mit Schrecken fragte sich Tregardis, wie er einen solchen Fehler machen konnte. Der Totenwächter, der seit Jahrzehnten die Ankömmlinge in den Tod schickte, würde keine Gnade kennen, bei Menschen erst recht nicht. Die Hand des Soldaten tastete hinunter zu seinem Schwert, fand den Griff, zog aber die Schneide nicht heraus. Fast regungslos stand Etaila daneben und wartete ab. Sie blieb selbst dann noch, als sie den Riesen verächtlich schnaufen hörte. Schnaufen mit einer Feindseligkeit auf sämtliche Menschen und vor allem auf so dreist dumme, durch deren Blut Magicka floss.
„Dreckiges Magierweib, wie könnt Ihr es wagen, diesen Ort zu entweihen? An Euch haftet der Fluch so stark, dass Ihr für meinesgleichen auf mehrere Kilometer zu erkennen seid und doch kommt Ihr hierher.“ Die tiefe Stimme des Giganten zerschnitt die Luft zwischen den Gesprächspartnern. Etaila antwortete nicht und wertvolle Sekunden verstrichen, in denen man immerhin hätte versuchen können, Zeit zu gewinnen. Denn ganz in Gegensatz zu seinem Äußeren wirkte der Wächter sehr gesprächsbereit.
„Ich hoffe, Ihr habt ein wenig gelernt, mit euren Kräften umzugehen. Ihr werdet Euch doch wenigstens hinweg befördern können.“ Sprach der Zyklop und schritt langsam, da seine Geduld nun aufgebraucht war, auf die Eindringlinge zu. Wie auf ein Signal hin zog der Thärde neben der Magierin sein Schwert, fast zu spät für jede Art der Gegenwehr. Der Grabwächter keuchte nur verächtlich, sie wussten alle, dass dieser nicht zurückschrecken musste. Ein wenig geschliffener Stahl würde den Koloss nicht aufhalten.
Ein Zischen, das die Luft durchschnitt, eine blitzschnelle Angriffsbewegung, ausgeführt von einem zentnerschweren Hünen.
Das stumpfe Ende des Speers beförderte Tregardis mit einem gut gezielten Schlag zu Boden. Mit einer erneut schnellen Bewegung, die der Soldat nicht erwartet hatte, katapultierte der Zyklop seine Waffe gegen den Oberkörper des Kämpfers und schleuderte ihn auf einen Haufen Knochen, die als Hindernis herumlagen. Sofort versuchte er aufzustehen, es gelang ihm aber nicht. Er keuchte und würgte Blut hervor, ein guter Treffer.
Die Söldnerin machte das Einzige, das sich in solchen Situationen als richtig erwies:
Sie versuchte zu entkommen.
Sie nahm die Beine in die Hand. Sie hetzte zu dem bisher größten Grabhügel, der ihr vor die Augen kam, und bestieg ihn mit der Schnelligkeit purer Verzweiflung. Sie wusste, dass sie Tregardis nicht beistehen konnte, und versuchte, nur noch ein Versteck zu erreichen oder sich wenigstens notdürftig zu verteidigen. Mit hastigen Bewegungen beförderte sie sich auf die Hügelkuppe. Etaila stand auf einem beeindruckenden, mit Gold überzogenen Schild und hielt Ausschau nach einem geeigneten Gegenstand. Ein Krummsäbel lag ganz in der Nähe auf einem Haufen verrosteter Waffen, aber ihr geübter Blick erkannte sofort, dass die Klinge stumpf und unbrauchbar war. Eine Axt steckte noch in der gewaltigen Ausbuchtung eines Helms. Sie zog an der Hiebwaffe und stellte fest, dass ihre Kräfte nicht genügten, die Waffe nur anzuheben. Aus Stahl bestand dieses Ding jedenfalls nicht, es musste ein schwereres Material sein.
Sie hörte unter sich deutlich ein Schnaufen und etwas, das nach dem Geknurre eines großen Hundes klang, nur lauter und bedrohlicher. Es fuhr ihr in Mark und Bein.
Ein Bogen, es muss doch hier irgendwo einer herumliegen. Kennen diese Tiere so etwas etwa nicht?
An dem Erdhaufen, der voll mit verwittertem Metall war, wurde gerüttelt. Es kam ihr vor wie ein Beben, gleichzeitig wurde ihr klar, dass er mit ihr spielte. So rasant, wie der Angreifer war, hätte er längst ihren Ausguck erklettern können, um sie zu töten.
Und tatsächlich, sie hörte deutlich ein tiefes glucksendes Gelächter unter ihr.
Nur wollte sie keine leichte Beute sein, vor allem nicht wie ihr Beschützer. Dann setzte der Lärm ein. Es klang so, als grub sich der Riese mittendurch die bloße Erde. Tregardis, der langsam zu Kräften fand und sich immer noch bemühte, auf die Beine zu kommen, sah, wie eine Kreatur, die nur aus Muskeln und Pelzharnisch zu bestehen schien, sich durch eine Masse Knochen und Dreck nach oben kämpfte. Einige Körperlängen über dem Monstrum stand Etaila, wegen eines grauen Schleiers vom Nebel abgesetzt. Er sah die Frau, wie sie vorbereitet mit einem Schild und einer Lanze auf den Angreifer wartete. Sie sah gefasst aus, doch bloße Angst verzehrte ihr Gesicht und legte es in Falten.
Er erinnerte sich an das Schwert, das er gezogen hatte. Es lag nur eine Handbreit neben ihm, eine einfache Fertigkeit für ihn, es benötigte nicht einmal eine große Portion Kraft und Konzentration. Viele Male hatte er im Feldlager aus Langeweile mit Dolchen auf Ziele geworfen. Solche Kunststücke verlernt man nie ganz, wenn man in Übung blieb. Und seltsam, Angst verspürte er keine mehr.
Er sah zu, wie seine rechte Hand das Schwert ergriff, es ausbalancierte, am spitzen Ende festhielt und in einer wuchtigen Bewegung auf den Rücken des Angreifers warf. Er sah weiterhin zu, als die Klinge sich im Flug mehrfach überschlug und dann mit einem mächtigen Aufprall in die Schulter des Hünen eindrang. Grünes Blut spritzte aus der Wunde und ein Aufschrei zeigte deutlich, dass Tregardis seinen Gegner wirklich ernsthaft verletzt zu haben schien. Aber wie ein wildes Raubtier machte ihn das nur noch rasender. Der Thärde staunte und musste zusehen, wie das Geschöpf sich schnell wieder regenerierte. Bevor das Blut getrocknet war, lag eine Schicht Schorf über der Ausbuchtung am Rücken des Zyklopen. Zum Schluss wuchs Pelz auf dem verheilten Körperteil, hässlich, primitiv, jedoch funktionierte es.
Man brauchte mehr, um diese Kreaturen zu töten, mächtige Waffen, die schnell tödliche grobe Hiebe verteilen konnten, oder Elementarangriffe höchster Zauberkunst. Die Riesen haben ein langes Gedächtnis und erinnern sich noch heute daran, wie sie vor Urzeiten von Magiern stark dezimiert wurden. Ein Hass, der seit Jahrhunderten überdauert, entstand.
Auch die Söldnerin sah, dass sie mit primitiven Waffen nicht weiterkam, hatte sie doch die beste Aussicht auf das Geschehen. Sie musste mitverfolgen, wie der Koloss die wenigen Hindernisse zu ihr überwand und Geifer vor Mordlust aus seinem Maul rann. Die Kunst des Sprechens hatte er nun komplett verloren. Etaila hörte nur noch das Knurren, das von ihm kam.
Da endlich hatte die Erschütterung des Grabens eine vergrabene Waffe freigelegt.
Etaila umklammerte eine Lanze und zielte mit der Spitze auf den ungemein großen und hässlichen Schädel vor ihr, der alles zu überragen schien. Dann sprang das Ding sie an, die Eröffnung des Kampfes traf sie unvorbereitet. Sie hielt ihm blitzartig ihren Schild entgegen. Ein Reflex, der ihr das Leben rettete. Eine wuchtige Attacke, ein Schlag mit einer Pranke zerbrach das Metall, laut quietschend, als wäre es aus dickem Papier. Dabei wurde die Söldnerin zurückgedrängt, sie stolperte über ihre eigenen Füße und fiel hin. Ein weiteres Brüllen zerriss die Luft. Und in dieser Sekunde fragte sich die Kämpferin, wieso man sie mit einem solchen Hass bekämpfte. Der Fluch der magischen Aura machte ihren Gegner blind vor Zorn, glaubte sie jedenfalls.
Dann, seltsamerweise, schreckte der Wächter mehrere Schritte zurück.
Nein, das Ding witterte eine neue Gefahr. Es wollte jetzt nicht die Söldnerin umbringen, sondern wandte sich hin und her und versuchte, zu erfahren, was da gerade sein Reich erneut unerlaubt betrat.
Ganz unerwartet hörte die Frau hinter sich einen Pfiff. Kurz darauf lauschte sie einer menschlichen Stimme. Sie klang freundlich gelaunt und ein wenig heiter, also komplett unpassend für diese Domäne und diesen Moment.
„Ihr habt beileibe einen miesen Tag, nicht wahr? Wolltet eigentlich nur den Schlummer zu Ende bringen, nachdem einige Eurer Brüder Euch angegriffen haben. Wollten wohl nicht durch das Schwert auf die andere Seite befördert werden. Wirklich ein schlimmer Tag für Euch. Wenn man feststellt, dass jetzt schon Menschen ungefragt Euer Refugium betreten“.
Der Mann im Umhang sprach eindeutig zu dem Grabwächter, der sofort von Etaila abließ und mit noch mehr Wut auf den Neuankömmling starrte. Sie schaute auf Tregardis, der wiederum kaum verdaut hatte, dass sein Wurf keinen dauerhaften Schaden verursacht hatte und gleichzeitig erstaunt war über den Auftritt des Fremdlings. Aber das war kein Fremder. Der Thärde, der alles mitbekam, seufzte, weil er genau den einen Menschen erblickte, von dem er sich nicht retten lassen wollte. Nie und nimmer.
Und der Neuankömmling ließ sich nicht davon abbringen, die Anwesenden zu belehren, und redete weiter auf Etaila ein: „Ihr müsst nämlich wissen, dass diese unfreundliche Erscheinung einer miesen Bestrafung ausgesetzt ist. Ein mächtiges Oberhaupt oder Ähnliches wird ihn dazu verflucht haben, seine eigenen Brüder umzubringen, sobald sie das passende Alter erreicht haben und zu ihren Gräbern her spazieren. Das machen sie so, wie wir manchmal im Schlaf unsere Betten verlassen und dann im Traum durch die Häuser marschieren. Sie tun es also nicht freiwillig.
In der Folge ist meistens auch ihre enorme Regenerationsfähigkeit erloschen und er befördert sie ins Grab. So ist die Tradition und der Kerl hier verrichtet seine Aufgabe seit tausend Jahren nehme ich an.“ Der Magier blieb nur wenige Meter vor der gestürzten Söldnerin stehen und schaute besorgt auf sie herab. Im gleichen Moment machte der Riese einen Satz und sprang zwischen Etaila und den unbekannten Eindringling. Selbst der dümmste Mensch - und die Frau aus Courant hielt den Fremden für diesen - musste verstanden haben, dass der Wächter über keine Geduld verfügte. Der Mann mit Umhang registrierte wiederum den Zyklopen, wenn auch nur mit wenig Bedacht. Er streckte seine Hände aus als Beweis dafür, dass er unbewaffnet war, die anderen konnten sehen, dass Coldwyn wirklich keine Waffe besaß, außer er versteckte einen schmalen Dolch oder Ähnliches in seinen Ärmeln.
„Wie lange macht Ihr das jetzt schon, mein Freund, und welche Schandtat habt Ihr begangen, dass Ihr zu so etwas auserkoren seid?“
„Kaum etwas, das Euch etwas angeht“, wurde ihm gepresst vor Zorn geantwortet.
„Ihr verfügt immer noch über eine Wahl. Ich muss heute niemanden töten. Ihr seid alt genug, um zu wissen, dass ich mehr Zauberkraft besitze als die beiden zusammen. Wir könnten alle einfach verschwinden, und Ihr macht weiter mit Eurem Werk, als wäre nichts gewesen, oder Ihr legt Euren Leib friedlich für ein paar Jahrzehnte schlafen.“
Seine Antwort kam prompt und kompromisslos.
Die Pranke des Wächters schoss hervor und Coldwyn wich mit einer Leichtigkeit aus, als hätte er kein anderes Vorgehen erwartet. Als wüsste er genau, was nun passierte. Er hatte noch vor dem Schlag sein Gewicht zur Seite verlagert und entglitt dem folgenden Hieb mühelos, fast gelangweilt. Während der Unbekannte zurückwich, nutzte Etaila, nah herangeschlichen, die verbliebene Chance. Ein Stoß mit der Lanze versetzte dem Ding eine neue Wunde an der Schulter, sorgte für Verwirrtheit in seinem dicken Schädel aber auch nicht viel mehr.
Die Söldnerin drehte sich nach rechts und sah, wie Tregardis ihr erneut zur Hilfe eilen wollte. Später vernahm sie ein klirrendes Geräusch, als würden sich Eis und Frost rasch auf einer ebenen Fläche ausbreiten.
Es klang wie das Knacken eines harten Winters, der Eiszapfen zum Bersten brachte.
Sie hatte nicht unrecht, ihr Blick starrte auf den Hinterkopf der Kreatur. Sie hörte das letzte Schnauben der Bestie, dann stürzte es ungebremst nach hinten. Der ganze Fleischberg voller Muskeln und Narben brach über ihr zusammen und begrub sie mit Waffe und Schild.
Ein wirklich mieser Tag für die Söldnerin.