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Eine neue Generation von „starken Männern“
ОглавлениеJa, es geht – fast – nur um männliche Politiker. Wenn man von Wien in einige Staaten des Balkans blickt, dann entdecken wir Parallelen. Und es stellt sich immer stärker die Frage, was heute Menschen dazu bewegt, in die Politik zu gehen. In der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg war das klar: Männer wie Adenauer oder De Gaulle wussten, dass ein neuerlicher Krieg den Kontinent und ihre beiden Länder endgültig zerstören würde. In Österreich hatten Leopold Figl oder der spätere ÖGB-Chef und Innenminister Franz Olah erlebt, wohin Hass führte. Im Konzentrationslager Dachau hatten sie Zeit, darüber zu reden. Das änderte nichts daran, dass sie einen klaren Kompass für ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen hatten und, ihrem inneren Kompass folgend, nach dem Krieg mit vielen anderen eine erfolgreiche Demokratie mit einem funktionierenden Rechtsstaat aufbauten.
Nun sind die Ausgangslagen am Balkan und in Österreich grundsätzlich verschieden, haben aber ähnliche politische Player hervorgebracht.
In Österreich ist mit Sebastian Kurz und seinem ihm ergebenen Umfeld, bestehend überwiegend aus jungen Frauen und Männern, eine ideologie- und ideenbefreite Generation angetreten, für die ein politisches Projekt lediglich die Funktion hat, eine Botschaft zu produzieren – und diese hat nur einen Zweck: Sie soll den Anführer in das bestmögliche Licht zu rücken. So lud der junge Kurz zum „24-Stunden-Verkehr“ mit der U-Bahn ein, weil das lässig klingt. Vor dem EU-Gipfel im Juli warnte er vor einer EU als „Schuldenunion“, um bestehende Ressentiments gegen Europa zu mobilisieren. Die ÖVP setzt eben auf die versprengten FPÖ-Wähler.
Fazit: Weder war in Wien ein verkehrspolitisches Konzept zu erkennen, noch zeigte die ehemalige Europapartei ÖVP bisher eine Überzeugung oder gar Ideen, wie die Institutionen der EU zum Vorteil aller besser funktionieren könnte. Das Foto von heute und die Schlagzeile von morgen sind das ganze Programm. Als Integrationsstaatssekretär ließ sich Kurz gerne beim Fastenbrechen mit Muslimen fotografieren, es schien ihm opportun. Als später viele Flüchtlinge kamen, bot das „Schließen der Balkanroute“ eine publicity-trächtige Schlagzeile. Das Prinzip ist dasselbe geblieben, aber jetzt geht es um etwas: um unsere Zukunft in Europa, um Frieden, Freiheit und Wohlstand.
Filip Radunović, österreichischer Politologe mit montenegrinischen Wurzeln und großer Analysefähigkeit, denkt auch an Österreich, wenn er vom Balkan und der Gemeinsamkeit der Erben Titos spricht: „Der montenegrinische Ministerpräsident Ðukanović, der serbische Präsident Vučić, der albanische Regierungschef Rama und andere haben die Fähigkeit, sich durch mehrere politische Metamorphosen immer dem politischen Momentum anzupassen. Sie haben noch die Ausläufer des Titoismus erlebt, dann aber ab den frühen 1990er Jahren den Zeitgeist aufgenommen, der ja zunächst frei von Werten war. Da war und ist absolute Loyalität wichtig, das beobachte ich auch in Österreich, dazu kam ein dubioses Verständnis von Rechtsstaat und eine Art ‚Orwellismus‘. Damit meine ich, dass diese Politiker die Sprache verwenden, um zu verschleiern. Vor allem der serbische Präsident Milošević konnte überzeugt Dinge formulieren, wenn er deren Gegenteil meinte.“ Wollen diese Politiker in den Balkanstaaten ihre Länder überhaupt in die EU führen, wohl wissend, dass sie Macht abbauen und Rechtsstaatlichkeit aufbauen müssten? Darum wird es in den Kapiteln Balkan und Kandidaten (ab S. 145) gehen, aber sicher ist, dass politisches Personal mit klaren Überzeugungen und historischem Bewusstsein seltener wird, in der EU und außerhalb. Zum Zusammenhalt trägt das nichts bei.