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Die Rolle des Staates
ОглавлениеAber nicht nur die komplizierte und kriegerische Geschichte macht das Zusammenleben in Europa schwer, auch der Blick der Bürger auf den Staat und andere Autoritäten unterschiedet sich massiv zwischen Palermo und dem Polarkreis, zwischen Lissabon und Limassol. Viele Italiener sehen den Staat als Einrichtung, gegen die man sich zur Wehr setzen muss, zumindest, indem man ihm die Steuern vorenthält. Deutsche wollen korrekt sein, Österreicher neigen mit der Habsburger-DNA im Blut zu einer beachtlichen Hörigkeit gegenüber Obrigkeiten. In Ländern des ehemaligen Ostblocks reagieren Menschen auf Anweisungen aus Brüssel skeptisch, weil sie früher von einer anderen, fernen Zentrale gesteuert wurden. Franzosen wehren sich gegen Präsidenten, denen sie aber eine fast imperiale Ausstattung zugestehen, und in Großbritannien ist persönliche Freiheit traditionell ein wichtigerer Wert als in den anderen europäischen Staaten. Das klingt klischeehaft, ließ sich aber auch in der Corona-Krise verfolgen, wobei Boris Johnson mit seiner freizügigen Strategie gegen das Virus erfolglos blieb.
Überall haben Politikerinnen und Politiker ein Gespür, die nationalen Emotionen anzusprechen. Und wenn es einen Außenfeind gibt, dann sind plötzlich auch Grenzen willkommen. Nationale Grenzen helfen allerdings nicht gegen ein Virus, regionale Blockaden schon eher.
Der britische Historiker Ian Kershaw nennt in seinem 2018 erschienenen Buch Achterbahn – Europa 1950 bis heute die Europäische Union eine „Kompromissfabrik“. Ihre Schwungräder und Kurbelwellen bewegen sich langsam. Kershaw: „Das System ist nicht für Tempo und Dynamik gemacht, sondern dafür, zu verhindern, dass eine Macht die Vorherrschaft erreicht.“ Andere verglichen die EU mit der Springprozession im luxemburgischen Echternach: zwei Schritte vor, einer zurück. Viele Krisen wurden aber so bewältigt, und dass kein Land in Europa die anderen dominiert, ist das Erfolgsgeheimnis. Im Vertrag von Maastricht haben sich die damals zwölf Mitgliedsländer verpflichtet, die Gemeinschaft zu einer politischen Union auszubauen. Alle Staaten, die seither beigetreten sind, haben diese Verpflichtung übernommen. Die Europäische Union hat also alle Grundlagen, um gemeinsam durch diese Krise zu kommen, wenn die Nationalstaaten nur wollen. Und wenn diese so entschlossen sind, wie sie es im Vertrag von Maastricht vereinbart haben.