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Die glücklichste Generation – in Westeuropa
ОглавлениеIch verfolgte diese Entwicklungen beruflich als Journalist – bis Jänner 1991 als Korrespondent in Deutschland und anschließend als Chef der politischen Magazine und Dokumentationen im ORF in Wien –, aber im Herzen vor allem auch als glückliches Nachkriegskind.
Meine Generation ist aufgewachsen mit dem Erlebnis des ständig zunehmenden, unbeschränkt scheinenden Wachstums. Alles wurde mehr, zunächst einmal der Wohlstand. Auch in Mittelklassenfamilien waren in meiner Kindheit Süßigkeiten noch eine Besonderheit, etwa, wenn jemand zu Besuch kam. Oder Fleisch, das es meistens nur am Sonntag gab. Eine Woche Ferien am Faaker See waren ein Ereignis, zwei Wochen in Lignano Luxus. Aber im Rückblick waren nicht die materiellen Erfahrungen so wichtig, sondern der spürbare Zuwachs an persönlicher Freiheit. Wir waren die erste Generation, die an den Universitäten mitbestimmen durfte, nach dem Universitätsorganisationsgesetz der SPÖ-Alleinregierung im Jahr 1975, damals zum großen Ärger der Professoren. Dabei war es der junge ÖVP-Unterrichtsminister Alois Mock gewesen, der schon im Jahr 1969 die Mitbestimmung in den Studienkommissionen eingeführt hatte. Ausgerechnet die schwarz-blaue Regierung Schüssel hat im Jahr 2000 die Mitbestimmung zurückgenommen. Dazu kam, dass meine Generation leichter im Ausland studieren konnte. Und schließlich waren wir dabei, als sich die Freiheit in ganz Europa ausbreitete. Was für ein Erlebnis für uns, was für eine Chance für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger!
Die neue Freiheit führte zur Öffnung der Grenzen, und die EU war und soll Garant dafür sein, dass die Europäer nicht mehr gegeneinander Krieg führen werden. Diese Hoffnung bewegt mich bis heute. Was für ein Glück haben wir gehabt, dass wir nach dem schrecklichsten aller europäischen Kriege geboren wurden. Doch das bringt eine riesige Verantwortung mit sich, die niemals selbstverständliche Errungenschaft der Freiheit und des Friedens für die nächsten Generationen zu erhalten.
Jedes Volk muss mit seiner Geschichte leben, deshalb ist es so wichtig, dass wir sie kennen. Die Lehren der Geschichte strahlen stets länger in die Politik und das Zusammenleben in der Gegenwart aus, als den Nachgeborenen lieb sein kann. Denn es ist nicht immer einfach, die Traumata und Verwundungen, die aus der Vergangenheit herüberstrahlen, zu verstehen. Wir Österreicher wissen um die manchmal noch spürbaren Auswirkungen unseres Bürgerkriegs des Jahres 1934. Die oft zum Hass gesteigerte Abneigung zwischen „Schwarzen“ und „Roten“ macht sich zum Teil bis heute bemerkbar. Dazu kommt, dass viele unserer Vorfahren wenig heldenhaft und sicher auch verblendet ihre Grenzen, Plätze und Herzen öffneten, als Adolf Hitler am 12. März 1938 einmarschierte und sich die Opportunisten aller Lager mit den braunen Horden verbrüderten. Aus dem bereits latenten widerlichen Antisemitismus des Alltags in Österreich wurde der mörderische in der Ostmark. Carl Zuckmayer schildert in seiner Autobiografie, dass er sowohl die ersten Tage der Nazi-Herrschaft in Berlin Ende Jänner 1933 als auch den Einmarsch Hitlers in Wien erlebte und wie er den Unterschied zu Berlin sah: „Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. […] Was hier in Wien entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“ Die 1930er Jahre hatten Not und Armut gebracht, auch in Österreich, aber es waren nicht nur die Hungernden und Arbeitslosen, die ihre jüdischen Nachbarn plötzlich quälten, verhöhnten und schließlich ermordeten. Es waren auch Juristen und Ärzte dabei, die zunächst auf den Straßen Wiens Juden erniedrigten und dann in den Konzentrationslagern über Leben und Tod entschieden.
Österreich hat nach Krieg und Shoah länger gebraucht als Deutschland, um sich zu den Verbrechen der Hitlerzeit zu bekennen. Dort wiederum zeigte die AfD in den letzten Jahren ganz offen, dass sie die bisherige Einigkeit der deutschen Politik, den Holocaust als einmaliges Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zu sehen und zu verurteilen, nicht mittrug. Nein, die Nazi-Zeit war kein „Vogelschiss der Geschichte“, wie AfD-Chef Gauland bewusst verharmlosend meinte.
Wir haben unsere Freiheit – sowohl in Deutschland als auch in Österreich – von den Alliierten geschenkt bekommen. Oder, um es ganz menschlich zu sagen: von den Soldaten, die für unsere Befreiung gekämpft haben. An dieser Stelle muss ich an den wunderschönen Strand in Rayol – Canadel-sur-Mer unweit von St. Tropez denken. Dort kann man einen herrlichen Urlaub verbringen. Aber wer mit offenen Augen über die kleine Landstraße oberhalb des Strandes geht, sieht dort eine Gedächtnisstelle für die Gefallenen des Afrika Kommandos, das am 15. August 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni, den Süden Frankreichs befreite. Dort wird mit weißen Kreuzen einiger christlicher französischer Soldaten gedacht, die bei der Landung am Strand gefallen sind, aber maurische Figuren erzählen auch von muslimischen Uniformierten in den Reihen der Befreier.