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VORWORT

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Sommer 2020. Ein Virus bestimmt das Leben überall auf der Erde, es bedroht unsere Art des freien und grenzenlosen Lebens und es beschleunigt die globale Machtverschiebung in Richtung China. In Europa wird darüber gestritten, ob und wie wir gemeinsam aus der größten Wirtschaftskrise seit den verhängnisvollen 1930er Jahren kommen.

Sommer 1990. Überall im ehemaligen Sowjetblock entstehen Demokratien, für die in vielen Ländern schon jahrelang gekämpft wurde. Die Deutschen handeln mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs die Details ihrer Wiedervereinigung aus. Am 3. Oktober tritt die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. Der Ost-West-Konflikt scheint für immer beendet. Manche träumen vom ewigen Frieden und immerwährender Demokratie.

Diese 30 Jahre zwischen 1990 und 2020 haben Europa grundlegend verändert, aber nicht unbedingt so, wie wir uns das nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erhofft hatten. Der Beitritt von acht ehemals kommunistischen Staaten zur Europäischen Union im Jahr 2004 und drei weiteren 2007 und 2013 verlief plangemäß, auch die Wirtschaftskrise nach dem Lehman-Crash im Jahr 2008 überstanden EU und Euro mit Mühe, aber letztlich sehr ordentlich. Aber in einigen ehemals kommunistischen Ländern funktionierte die Metamorphose der Funktionäre zu Dienern des Rechtsstaats nur vorübergehend. Der Versuchung, mit zusehends autoritären Methoden zu regieren, erlagen vor allem die polnische Führungsschicht und Viktor Orbán in Ungarn.

Bei einem Besuch in Budapest Ende Februar 2020 erklärte mir der Politologe Ágoston Sámuel Mráz, Direktor des Orbánnahen Think Tanks „Perspective Institute“, warum der ehemals liberale Viktor Orbán den starken Staat will: „Ungarn muss nationale Kapitalisten erziehen, öffentliche Verträge sollen in erster Linie Ungarn bekommen. Im Westen gab es auch lange Vorteile für nationale Kapitalisten, die heimische Wirtschaft zu entwickeln.“ Und Mráz weiter: „Die Ungarn wollen eine schützende Hand des Staates.“ Ich traf damals aber auch die liberale EU-Abgeordnete Katalin Cseh, die mir von Orbáns Kampagne gegen unabhängige Journalisten erzählte und forderte, dass EU-Gelder verstärkt in die Gemeinden gehen müssten, wo sie kontrolliert werden können, anstatt zu Orbáns Freunden.

Der Besuch in Budapest sollte der Beginn von Gesprächen werden, um den Wandel der jungen Demokratien zurück zu autoritären Gesellschaften zu verstehen. Und ich wollte den Balkan bereisen, um zu sehen, wie diese Länder auf die Aufnahme in die EU vorbereitet sind. Dass alle Staaten des Westbalkan zu Europa und in die EU gehören, davon war und bin ich überzeugt, aus historischen und sicherheitspolitischen Gründen.

Anfang März dieses Jahres war ich in Tirana, wo ich noch einige begeisterte Europäerinnen und Europäer treffen konnte, dann wurden die Grenzen geschlossen. Die weitere Recherche fand mittels vieler Gespräche per Video-Call statt.

Die Pandemie änderte den Schwerpunkt des Buches. Es geht nicht mehr nur um die Geschichte der letzten 30 Jahre, um den auch in Westeuropa verbreiteten Rechtspopulismus und die Gefahr des Rückfalls in autoritäre, korrupte Strukturen. Nach dem Ausbruch von Covid-19 habe ich mich stark auf die Zukunft der EU konzentriert: Schaffen wir es, gemeinsam aus der Krise zu kommen? Verstärkt die Bekämpfung des Virus womöglich die Lust der Regierenden, den Rechtsstaat zu umgehen, auch im Westen? Wie soll der Aufnahmeprozess der Balkanstaaten weitergehen? Welche Gefahren drohen von außen, gibt es gar die Gefahr eines neuerlichen Krieges in Europa? Wie wird sich das im Juli in Brüssel beschlossene 1,8-Billionen-Euro-Paket der Europäischen Union auf den Zusammenhalt eines zusehends integrierten Staatenverbundes auswirken, der erstmals gemeinsame Schulden aufnimmt? Wird die EU Bestand haben, gar zu Vereinigten Staaten von Europa führen? Und wie wirkt die vielfältige Geschichte Europas nach, die die Menschen oft genug geteilt, durch den Nationalismus gegeneinander aufgehetzt und in Kriege geführt hat?

Auch hier spielt Ungarn eine besondere Rolle. In keinem anderen Land ist man so schnell beim Ersten Weltkrieg und dessen Folgen. Der starke Orbán spielt gerne das Opfer der Folgen von Trianon. Durch diesen Friedensvertrag hat Ungarn große Teile seines Gebietes verloren. Die Kleinen in Mitteleuropa müssten zusammenhalten, nicht nur die Visegrád-Gruppe mit Polen, Tschechien und der Slowakei, auch Österreich und einige Balkanstaaten sieht der Ungar als Teil einer Art „Mitteleuropäische Union“ autoritär regierter Länder gegen Frankreich und Deutschland. Feindbilder spielen in Europa plötzlich wieder eine große Rolle, nicht nur innerhalb der Nationalstaaten.

Beim viertägigen EU-Gipfeltreffen vom 17. bis 21. Juli 2020 war Orbán dann auch noch stolz darauf, dass die Einhaltung der Prinzipien des Rechtsstaats keine Auswirkungen auf Hilfszahlungen haben dürfe. Das war entlarvend, aber hier wird der Druck auf Orbán hoffentlich noch erhöht. Denn welches Signal sendet das an Balkanstaaten, die aus wirtschaftlichen Gründen der EU beitreten wollen, wo aber zum Teil Politiker regieren, die ihre alten, zum Teil korrupten Strukturen zum ewigen Machterhalt nutzen wollen? Und welches Signal geht davon aus, dass am Tag nach dem Gipfel der Chefredakteur der Website index.hu gefeuert wurde, einer der letzten Kritiker Orbáns? Die Pressefreiheit ist in mehreren Staaten in Gefahr, und damit die Demokratie. Auch das gehört zur Analyse Europas im Jahr 2020.

Die EU hat schon beim Zerfall Jugoslawiens wenig Verständnis für die besonderen historischen Bedingungen des Balkan gezeigt, diese Fehler dürfen nicht noch einmal gemacht werden. Albanien und die noch nicht in der EU angekommenen Staaten Ex-Jugoslawiens gehören zu Europa, ihre Führungsschicht muss aber die Regeln und Werte anerkennen, wenn sie ihre Länder in die Union führen will. Das Europäische Parlament wird hier hoffentlich noch ein kräftiges Wort mitreden, auch bei der Verteilung des Wiederaufbaufonds, die an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gebunden werden muss. Die Europäische Union wird mit ihren Werten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten überleben, oder sie wird nicht überleben.

Und wir werden die massiven Veränderungen der Weltordnung nur gemeinsam, als wirtschaftlich starker und militärisch sicherer Kontinent überstehen. Die USA sind auf dem Rückzug aus Europa, eine Entwicklung, die ein Präsident Biden höchstens verlangsamen würde. Daraus ergibt sich, dass sich Europa selbst mehr um seine Sicherheit kümmern muss. China ist auf dem Weg zur Nummer eins, und zwar mit allen wirtschaftlichen, politischen und militärischen zur Verfügung stehenden Mitteln. Diese wirken oft freundlich, wie das Projekt der „Neuen Seidenstraße“, aber die Führung in Peking will damit auch Europa spalten. Russland soll unser Partner werden, aber nur zu klaren Bedingungen der Einhaltung des Völkerrechts, dazu gehört auch das Respektieren von Staatsgrenzen.

Die Briten sind aus der EU ausgetreten, weil sie wieder souverän sein wollen. Wie wenig sie das wirklich sind, zeigt uns das Verhalten Pekings in Hongkong und die Hilflosigkeit Londons. Premierminister Boris Johnson kann die Faust ballen und böse Briefe schicken, aber die Chinesen nehmen ihn, den Chef eines großen Landes mit Atomwaffen, nicht ernst. Ein vereintes Europa, das wirtschaftlich, politisch und militärisch wie eine Großmacht agiert, müssten sie akzeptieren.

Leider ist das eine Erkenntnis der Gespräche für dieses Buch. Krieg wird wieder möglich sein, und er wird wohl nicht mit einem Ansturm von Panzern oder Flugzeugen beginnen, sondern als hybrider Krieg mit Nadelstichen gegen demokratische Einrichtungen oder wichtige Infrastruktur. Dagegen können wir uns nur gemeinsam rüsten. Die Souveränität eines Nationalstaates ist pure Illusion, wahre Souveränität gibt es nur in einem starken, also einigen Europa.

Deshalb dieser Weckruf: 75 Jahre nach dem Ende des Zeiten Weltkriegs haben allzu viele Menschen in Europa, auch einige in den Staatskanzleien, nicht verstanden, dass alles auf dem Spiel steht: Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat.

Meine Kinder sind 15, 30 und 31 Jahre alt, ihnen und ihrer Generation ist dieses Buch gewidmet. Sie sollen in Frieden und Freiheit leben, so wie wir das durften. Und es ist gerade auch den jungen Leuten in den Staaten des Balkan gewidmet, deren Eltern und Großeltern noch das Trauma der grausamen Kriege der 1990er Jahre verarbeiten müssen, wo aber viele Jugendliche bereits über die Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Dabei brauchen sie mehr Unterstützung durch die EU. Das Bewusstsein dafür, dass wir auch eine gesunde Natur erhalten müssen, hat diese Generation viel stärker, als wir das hatten. Das EU-Programm ERASMUS hat viel geleistet, seit über 30 Jahren wurden über 4 Millionen Stipendien vergeben. Seit sieben Jahren gibt es auch ERASMUS+ für Lehrlinge, das leider noch zu wenig genutzt wird. Im Herbst 2019 wurden etwa 150 von rund 110.000 Lehrlingen ins Ausland geschickt. Vier Wochen Inter-Rail für alle 18-Jährigen würden viel zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Immerhin finanziert die EU auf Initiative des Parlaments seit 2018 20.000 kostenlose Interrail-Tickets, die nach einer Ausschreibung vergeben werden.

Die Jugend Europas wird viel für den Zusammenhalt tun müssen, weil die Gefahren und Herausforderungen größer geworden sind. Die Populisten predigen Hass und Spaltung, weil sie davon profitieren, und nicht von funktionierenden Strukturen und wachsendem Wohlstand. Der Blick zurück zeigt ein Europa der Konflikte und Kriege, diese Geschichte müssen wir kennen. Dann wird der Blick nach vorne umso reizvoller, in ein Europa, in dem eine gemeinsame Identität immer selbstverständlicher wird.

Helmut Brandstätter, im August 2020

Letzter Weckruf für Europa

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