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KAPITEL 1 IDENTITÄT AUF DER SUCHE NACH DER EUROPÄISCHEN IDENTITÄT

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„Es geht Deutschland auf Dauer nur gut,

wenn es Europa gut geht.“

Angela Merkel, 2020

Diesen Satz hat Angela Merkel Anfang April 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, gesagt. Er war die knappe Antwort auf die Frage, ob und wie die reicheren Länder der Europäischen Union den ärmeren beim Aufarbeiten der Wirtschaftskrise helfen würden. Die Langzeitkanzlerin ließ keinen Zweifel daran, dass das Schicksal der Deutschen eng mit dem aller anderen Europäer verbunden ist, ja die Deutschen sogar vom Wohlergehen der anderen europäischen Staaten abhängig sind. Ihre Aussage klang wie ein Appell an die eigene Bevölkerung, jetzt nicht nur an Deutschland zu denken, sondern auch an diejenigen Länder, für die der Weg aus der beginnenden Rezession noch mühsamer werden würde. Der Satz steht auch symbolisch als Antwort auf die schon während der Krise gestellte Frage, ob die EU im Angesicht der großen Herausforderungen eher zusammenwachsen würde oder ob einige nationale „Führer“ die Chance nützen würden, sich und ihre jeweilige Regierung zu stärken und aus der EU wieder eine lose Wirtschaftsgemeinschaft ohne gegenseitige Verantwortung zu machen. Und schließlich wusste Angela Merkel, dass ihre Ansprache nicht irgendeine Sonntagsrede zu Europa sein konnte, weil die anderen Mitgliedstaaten der EU sehr genau darauf achten würden, was und wie viel die Deutschen zum Wohlergehen aller Europäer beizutragen bereit sein würden.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat noch während der Krise geschrieben: „Unsere Europäische Union – davon bin ich überzeugt – kann aus dieser Situation gestärkt hervorgehen, so, wie sie es nach jeder Krise in unserer Geschichte getan hat.“ Ein interessanter Hinweis, der Mut machen sollte, und ein realistischer noch dazu. Die EU hat wahrlich bereits einige bewegte Jahrzehnte hinter sich. Jean-Claude Juncker, der in über 30 Jahren in der Politik, vor allem als luxemburgischer Premierminister und als Präsident der EU-Kommission, viele politische Stürme erlebt hat, gab sich mitten in der Krise optimistisch: „Nach der Krise werden wir bessere Europäer sein.“

Aber wie definieren wir das Europäer- oder Europäerin-Sein? Wer verspürt eine europäische Identität, und kann diese durch eine Krise gefördert werden? Kann man nur als Staatsbürger eines EU-Landes Europäer sein? Sicher nicht.

Oft hilft ein Blick von außen. Der britische Banker Stephen Green, geboren 1948, hat im Jahr 2015 ein Buch geschrieben: The European Identity. Green hat unter anderem in Asien gearbeitet und war zwischen 2011 und 2013 Handelsminister in der konservativen Regierung von David Cameron. Ausgerechnet ein Brite hat uns – und seiner Nation – noch vor dem Brexit-Referendum dargelegt, was uns alle in Europa ausmacht: „Europa hat gemeinsame Interessen und wesentliche Werte, die durch die Jahre der Geschichte hart erobert wurden. Diese gemeinsamen Werte sind Teil der europäischen Botschaft. Andere Schichten der Identität, die auf Geschichte, Kultur und Sprache beruhen, werden weiter national, regional oder lokal definiert werden, und sie sind auch fundamental für das Selbstverständnis der Europäer. Diese gemeinsamen Werte der Europäer sind das Erbe von Ideen, die so überragende Persönlichkeiten wie Galileo, Erasmus, Descartes, Locke, Hume, Kant, Hegel, Darwin und viele andere erdacht haben. Aus den unterschiedlichen Perspektiven und ausgehend von vielen schmerzhaften Fehlentwicklungen und falschen Abzweigungen, die wir Europäer über Generationen gemacht und genommen haben, ist etwas grundsätzlich Bedeutendes für die Welt des 21. Jahrhunderts entstanden: eine Verpflichtung zu Rationalismus, Demokratie, individuellen Menschenrechten und Verantwortungsbewusstsein, Rechtsstaat, sozialem Mitgefühl und einem Verständnis für die Geschichte als dynamisch, offen und fortschrittlich. Und das verdient unsere Loyalität, das ist die Basis für einen europäischen Patriotismus.“ (Übersetzung durch den Autor) Wie recht er hat. Seine Definition eines „europäischen Patriotismus“ könnte uns über so manche Streitereien innerhalb der EU hinweghelfen.

Europa und die Europäische Union sind nicht Dasselbe. Europa ist der Kontinent, auf dem wir leben; die EU ist das erstmalige und deshalb so faszinierende Projekt, nach dem ewigen Kriegsgeschehen, das in zwei Weltkriegen gipfelte, eine Zone des Friedens zu gründen. Dennoch werden die EU und Europa im Folgenden manchmal synonym gebraucht werden, weil die EU bestimmend für die Zukunft Europas ist und sich auch Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz an der Union und ihrem Binnenmarkt orientieren. Übrigens: Der Schweiz ist der Zugang zum Binnenmarkt der 27 EU-Länder viel wert. Sie zahlt rund 2 Milliarden Euro jährlich an die EU. Das ergibt sich aus Verträgen, die der Eidgenossenschaft Zugang zum EU-Binnenmarkt erlauben. Ein Zusammenhang ist völlig klar: Wenn die EU zerstört wird, dann wird das Leben in Europa wieder unsicherer und der Wohlstand wird in allen europäischen Ländern schrumpfen, nicht nur in den EU-Mitgliedstaaten. Das wissen auch die Schweizer Politikerinnen und Politiker, die der EU nicht beitreten wollen, aber auf eine starke Union setzen.

Auch innerhalb der EU sind die Unterschiede groß: Der Luxemburger Juncker glaubt an einen Lernprozess, an dessen Ende die europäischen Staaten geeinter auf künftige Herausforderungen reagieren werden. Sie könnten das gemeinsam besser als die Nationalstaaten allein, wie er im April 2020 in einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard sagte. Es gab und gibt aber auch die zu erwartenden gegenteiligen Stimmen, wonach die EU an allem schuld sein musste, was nicht funktioniert. Als in der ersten Märzwoche an der deutsch-österreichischen Grenze Lastwagen mit medizinischer Schutzausrüstung festgehalten wurden, protestierte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz und meinte, die EU müsse sich nach der Krise „eine kritische Auseinandersetzung gefallen lassen“. Derselbe Kurz, der zuvor selbst Grenzschließungen angeordnet hatte.

Die Europäische Union wird sich in den kommenden Jahren verändern, so viel steht fest. Aber wie? Werden wir mehr Solidarität und Gemeinsamkeit erleben – oder den Weg zurück zu den Nationalstaaten gehen? Diese können dann im besten Fall eine mehr oder weniger erfolgreiche Zollunion etablieren. Vielen, die jetzt den neuen Nationalismus herbeireden wollen, mit recht platten Worten, aber sehr tiefgehenden Emotionen, ist hoffentlich nicht bewusst, dass sie mit dem Feuer künftiger Konflikte oder gar Kriege spielen, sonst wäre ihr Bemühen noch schlimmer. Das Szenario, das die Folge des neuen Nationalismus wäre: ein zersplittertes Europa, in der Mitte das ökonomisch starke Deutschland mit mehr als 80 Millionen Einwohnern, dazu im Osten Europas Länder mit einer verblassenden Demokratie, viele junge Menschen in den Balkanstaaten ohne Perspektive, eine verstärkte Verarmung nicht nur in den südlichen Ländern, überall steigende Arbeitslosigkeit, ein aggressiver türkischer Präsident, dazu Islamisten, die auf dem Balkan immer aktiver werden und schließlich ein global engagiertes China, das zunehmend die Infrastruktur der EU kontrolliert und dadurch die Union spaltet. Dieses explosive Gemisch wäre eine Traumkonstellation für politische Zündler. Das wäre der Anfang vom Ende des friedlichen Europas, wie wir es kennen. Das und nicht weniger steht auf dem Spiel.

Um die drohenden Konsequenzen einer solchen Konstellation zu verstehen, muss man bei jener Generation nachfragen, die das alles tatsächlich erlebt hat: den übersteigerten Nationalismus gefolgt vom Hass, den Krieg mit mehr als 60 Millionen Toten und erst danach den gemeinsamen Aufbau eines erstmals friedlichen Europas.

„Nationalismus heißt Krieg. Krieg, das ist nicht nur

Vergangenheit. Er kann auch unsere Zukunft sein.“

François Mitterand, 1995

„Unsere Zukunft ist Europa –

eine andere haben wir nicht.“

Hans-Dietrich Genscher, 2015

Diese beiden Staatsmänner haben erlebt, wie schnell aus Abwertung Hass und aus Drohung Krieg werden kann. François Mitterand wurde 1916 in der Nähe der Stadt Cognac geboren, kam als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft, ging als Mitarbeiter der Vichy-Regierung in den Widerstand, dann zu Charles De Gaulle, dem Präsidenten der Exil-Regierung, nach London und war zwischen 1981 und 1995 Staatspräsident. Das Bild, auf dem er und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl am 22. September 1984 über den Kriegsgräbern von Verdun einander die Hand reichen, steht ikonografisch für die historische Tiefe der deutsch-französischen Freundschaft.

Diese beeindruckende Szene wirkte völlig spontan und war es auch, wie der Fotograf später erzählte. Beide Staatsmänner hatten in diesem Moment persönliche Erinnerungen: Bei der Schlacht von Verdun, im Nordosten Frankreichs, war Mitterand im Juni 1940 verletzt worden. Kohls älterer Bruder Walter war im Krieg gefallen.

Hans-Dietrich Genscher aus Halle an der Saale, einer Stadt, die im Lauf der Geschichte immer wieder zu einem anderen Reich oder Staat gehörte, trat im Jahr 1944 der NSDAP bei, war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, verließ 1952 die DDR und verhandelte im Jahr 1990 als Außenminister gemeinsam mit Helmut Kohl die deutsche Einheit. Schon Monate davor, am 30. September 1989, also vor dem Fall der Mauer, konnte ein sichtlich bewegter Genscher den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft mitteilen, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Auch ein Bild für die Geschichtsbücher.

Diese beiden Männer stehen für eine Generation, die alles erlebt hat: Diktatur, Krieg, Frieden, Wiederaufbau, Wohlstand und ein Europa, wie es zuvor nicht existiert hat. Beide Zitate stammen aus dem jeweils letzten Lebensjahr von Mitterand und Genscher. Da werden auch politische Alphatiere pathetisch, oder sie spüren, dass Frieden und Freiheit in Europa auf Dauer eben nicht selbstverständlich sein werden. So sind diese Sätze auch eine ebenso kurze wie präzise Bilanz des 20. Jahrhunderts.

Kriege wurden in Europa immer geführt, seit dem Entstehen der Nationalstaaten wurden diese immer blutiger und mit immer mehr Emotionen aufgeladen. Der Westfälische Friede von 1648 brachte immerhin erstmals die formale Gleichberechtigung der Staaten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erkannten die Staaten einander als Träger politscher Herrschaft an. Otto von Bismarck erklärte das Deutsche Reich, das er nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 zu einem späten Nationalstaat machte, für saturiert, doch Kaiser Wilhelm II. reichte das nicht. Er wollte ein Weltreich mit einer großen Flotte. Dieser Traum ging im Ersten Weltkrieg unter, Hitler setzte mit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die ganze Welt in Brand, sondern zerstörte mit seinem Wahnsinn auch die mühsam erreichte Einheit der Deutschen in einem Staat.

Letzter Weckruf für Europa

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