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Graugrün und Kastanienbraun I

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Er hatte sich verliebt; als Mann von Ende vierzig in ein Mädchen, das Mitte zwanzig war, ein zierliches, kleines Mädchen mit graugrünen Augen und schulterlangem kastanienbraunem Haar und sehr weißer Haut, das so aussah wie die Mädchen, die in seiner Phantasie, warum wußte er nicht, in Irland Flachs spinnend an tintenblauen, seerosenübersäten Teichen saßen, die Maureen oder Sheila hießen und in Sturmnächten auf halbgezähmten Ponies über endlos weite Ebenen jagten, unter einem schwarzen Himmel, an dem zwischen zerfetzten Wolken ein gelber Vollmond hing. Er war verliebt auf eine rauschhafte, atemraubende Weise, so daß er sich fühlte wie ein Primaner, oder noch schlimmer: wie eine Primanerin; ein Zustand, der ihn zugleich erschreckte und tief beglückte, der ihn quälte und den er genoß und – welch ein Stachel – seinem Alter als überaus unangemessen und lächerlich machend empfand: Entsetzt sah er sich, in gar nicht mehr so vielen Jahren, als läppischen, zahnlosen Greis, einen Priem kauend auf einer Parkbank sitzen und immer noch zierlichen, kleinen Mädchen mit graugrünen Augen und schulterlangem kastanienbraunem Haar und sehr weißer Haut nachglotzen.

Je länger er sie kannte, um so mehr wuchs in ihm ein wildes Verlangen, zärtlich mit ihr zu sein, und allmählich wurde es noch stärker als der sehr starke Wunsch, mit ihr zu schlafen, eine Erkenntnis, die ihn erschrocken in seinen Vorstellungen innehalten und sie bremsen ließ, denn in ihm stieg der Verdacht auf, was er für sie empfand, könnte mehr väterlich als männlich sein, was ihm durchaus nicht paßte. Er konnte seine Gefühle ihr gegenüber nur überaus vorsichtig andeuten, denn er wie sie hatten sehr große andere Probleme, sie vielleicht noch größere als er, und sie lebten beide unter komplizierten Umständen, die im Moment nicht mehr zuließen als eine schwebend unentschiedene Beziehung. Was ihre Gefühle für ihn betraf, so war er auf chiffrierte, schwer entzifferbare Botschaften von ihr angewiesen, doch schon das wenige, das er ihr über sich und seine Empfindungen zu sagen wagte, schien sie mit großer Angst zu erfüllen und in tiefe Ratlosigkeit zu stürzen, was er gut verstand, denn er wußte einiges über die Erfahrungen ihres bisherigen Lebens mit menschlichen Beziehungen, die nicht anders als gräßlich genannt werden konnten. Aber Verständnis machte das Ganze nicht leichter, und der schwebend unentschiedene Zustand, der sie zugleich verband und trennte, wurde immer quälender: er nagte seelisch ständig an einem Hungertuch.

Die komplizierten Umstände, unter denen sie und er lebten, brachten es mit sich, daß sie sich in einer sehr langen Zeit nur einmal gesehen hatten, und bei diesem einen Mal hatte er peinlich darauf geachtet, ihr nicht zu nahe zu kommen oder sie gar zu berühren, obwohl sein Verlangen, gerade das zu tun und ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar zu streicheln, so überwältigend war, daß es ihn manchmal körperlich schmerzte. Sie führten, und auch das nicht sehr oft, ausgedehnte Telefonate, meist spät abends, doch schließlich komplizierten sich ihre Umstände so sehr, daß er sie auch nicht mehr anrufen konnte. Er mußte sich darauf beschränken, ihr dann und wann Blumen zu schicken und dazu ein paar Zeilen zu schreiben, was sehr schwierig war, denn er durfte damit nicht zu viel und nicht zu wenig sagen. Er hoffte, sie verstand, was zwischen den Zeilen stand, aber er fürchtete auch, sie verstand zu viel und das würde ihr noch mehr Angst machen. In einem seiner Briefe hatte er ihr geschrieben, daß er von ihr keine briefliche Antwort erwarte, denn das war etwas, wovor er Angst hatte: er könnte in seinem Postkasten morgens einen Brief von ihr finden, ihn öffnen und darin lesen, daß alles aus sei, daß sie keine Briefe und keine Blumen mehr von ihm wolle und er solle sich zum Teufel scheren mit seinen umständlichen Empfindungen und verwikkelten Gefühlen und zarten Andeutungen. Dann würde er sie nicht anrufen können, sondern er müßte ihr wieder einen vorsichtigen Brief und einen noch größeren Blumenstrauß schikken, um sie umzustimmen, was er flehentlich wünschen, ihr aber nicht so deutlich sagen dürfte, denn sonst würde sie noch mehr Angst vor ihm bekommen; und er würde dann Tag für Tag auf einen weiteren Brief von ihr warten, den er wieder erwidern müßte, weil sicher etwas darin stand, was ihn quälte und verzweifeln ließ, und er würde jeden Tag auf einen neuen Brief von ihr warten, der ihn beruhigte, und so würde das endlos weitergehen. Telefongespräche waren etwas anderes: da konnte er auf das, was sie sagte, gleich das Richtige antworten, konnte die verzweifelten Schläge, mit denen sie sich in ihrer Angst wehrte, abwehren, konnte allen Charme, den er hoffentlich besaß, und all seine Überzeugungskraft aufbieten, um wenigstens den schwebend unentschiedenen Zustand aufrechtzuerhalten.

Doch es kam kein Anruf von ihr. Er wartete Tag und Nacht darauf und legte, wenn er fortging, um eine Besorgung zu machen, den Telefonhörer ab, damit sie, wenn sie anrief, annehmen mußte, er telefoniere mit jemand anderem, und nach kurzer Zeit noch einmal anrief. Manchmal überfiel ihn die schreckliche Vermutung, es gebe eine ganz einfache Erklärung für ihr Verhalten: Sie empfand überhaupt nichts für ihn, außer Gereiztheit darüber, daß er sie nicht in Ruhe ließ und ihr immer wieder Briefe und Blumen schickte, und sie wäre froh und zutiefst erleichtert, wenn er wieder aus ihrem Leben verschwände; doch das war so unvorstellbar, daß er es sofort verwarf, und ihm fiel zum Glück auch ein, daß sie ihm doch immer wieder gesagt hatte, ihr läge sehr viel an ihrer Beziehung, sie sei sich nur noch nicht klar darüber, und er müsse ihr Zeit lassen; und einmal hatte sie sogar gesagt, wenn ihre anderen Probleme, die sie so völlig in Anspruch nahmen, einigermaßen gelöst seien, käme er mit an erster Stelle – eine Erinnerung, die ihn beseligt aufatmen ließ, denn sie hatte niemanden außer einer Freundin und ihm, und er wagte gar nicht, so weit zu gehen und sich vorzustellen, was dieses »mit an erster Stelle« also bedeuten mußte.

Als er eines Abends auf ihren Anruf wartete, kam ihm der Gedanke, Faszination, also auch Liebe auf den ersten Blick, müsse etwas mit dem zu tun haben, was die Tiefenpsychologen Projektion nannten: mit der Übertragung von Gefühlen, die man früher einmal für einen Menschen empfunden hat und die nicht ausgetragen wurden, auf einen andern Menschen, dem man in seinem späteren Leben begegnet. Er spann diesen Gedanken weiter, und als er nachts im Bett lag und nicht schlafen konnte, weil er immer noch auf ihren Anruf wartete, fiel ihm etwas ein, woran er all die Jahre, die dazwischen lagen, nicht gedacht hatte:

Er war, mit neunzehn Jahren, von der Schulbank weg, mit einer offenen Tuberkulose in das Krankenhaus einer Stadt unweit der kleinen Stadt an der österreichisch-deutschen Grenze eingeliefert worden, in der er damals lebte, und lag, zusammen mit sieben oder acht anderen Patienten, in einer offenen, loggiaartigen Liegehalle Tag und Nacht im Freien. Die Vormittage und Nachmittage waren endlos lang, und man vertrieb sich die Zeit mit Lesen, Kartenspielen und Radiohören, aber dennoch herrschte eine fast nicht zu ertragende Langeweile. So war es eine willkommene Abwechslung, daß an einem Fenster der Augenabteilung im gegenüberliegenden Krankenhaustrakt immer wieder ein Mädchen mit einem Baby auf dem Arm erschien und, offenbar ebenfalls gelangweilt, herüberschaute. Das Mädchen trug immer einen roten Morgenrock, und es war klein und hatte graugrüne Augen und schulterlanges kastanienbraunes Haar und sehr weiße Haut. Schon damals stets bereit, solchen Verlockungen widerstandslos zu erliegen, winkte er ihr, und nachdem sie die ersten Male nicht reagiert hatte, winkte sie schließlich zurück, was für ihn damals, mit neunzehn Jahren, schon ein großes Abenteuer war. So ging das tagelang; alle paar Stunden trat das Mädchen mit dem Baby auf dem Arm ans Fenster, und sie winkten einander zu; er mit stockendem Atem und einem mulmigen Gefühl im Bauch und unter den spöttischen Bemerkungen der andern Patienten, die in den Betten neben ihm lagen. Am Sonntag wurde in der Krankenhauskirche vormittags immer ein katholischer Gottesdienst abgehalten, und obwohl er evangelisch war, ging er am nächsten Sonntag hin, denn er hatte gehört, daß das Mädchen in dem roten Morgenrock oft daran teilnahm. Die Kirche war so voll, daß er im Mittelgang zwischen den Gebetbänken stehen mußte, und einige Meter links von ihm, auf einer Empore neben dem Altar, stand zwischen andern Patienten das Mädchen. Ihre Blicke gingen hin und her, unter dröhnenden Orgelklängen und der leiernden Stimme des Geistlichen und Glöckchengebimmel, und jedes Mal, wenn der Blick ihrer graugrünen Augen ihn traf, spürte er einen beängstigenden und doch unendlich wohligen Stich im Herzen. Als der Gottesdienst zu Ende war, verließen sie die Kirche, er durch die hintere Tür und sie durch die vordere, doch als er sich draußen auf dem Gang in dem Gewühl nach ihr umsah, war sie schon verschwunden. Eine Stunde später tauchte sie mit dem Baby an ihrem Fenster auf und winkte ihm, diesmal als erste, was seinen Atem stocken ließ wie nie zuvor. Mehrere Tage vergingen wieder so mit gegenseitigem Zuwinken; dann mußte er Mitte der Woche an einem Vormittag ins Krankenhausbüro, um etwas zu erledigen, und als er im gegenüberliegenden Trakt die Treppe hinaufstieg, sah er plötzlich über sich einen roten Morgenrock: Die Treppe herunter kam ihm das Mädchen entgegen. Eine Stufe über ihm, so daß ihr Kopf in gleicher Höhe mit dem seinen war, blieb sie stehen, und er blieb auch stehen, sie in ihrem roten Morgenrock und er in seinem blaugestreiften Pyjama, und er blickte in ihre Augen, die ganz nah vor ihm waren, und ihm war, als versinke er in einem graugrünen Meer. Sie sagte nichts, und er konnte nichts sagen, denn sein Atem stockte so sehr, daß er zu ersticken glaubte, und dann legte das Mädchen ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf seinen Mund und schob ihre Zunge zwischen seine Zähne und ließ sie dazwischen spielen und grub ihre Zähne in seine Lippen, so fest und wild, daß er fast aufschrie vor Schmerz und fast weinte, weil der Schmerz so süß und so brennend war, daß er außer ihm nichts mehr spürte und sich ganz fallen ließ in dieses Brennen und diese Süße, und dann ließ ihn das Mädchen los und rannte die mit grünmarmoriertem Linoleum belegte Treppe hinauf und verschwand oben um die Ecke. Schwindlig und benommen blieb er eine Weile auf der Treppe stehen und ging dann, ohne das Krankenhausbüro aufzusuchen, zurück in seine Abteilung. Er hatte damals schon eine Beziehung zu einer mehrere Jahre älteren Frau hinter sich und oft mit ihr geschlafen, doch es schien ihm, als sei dies der erste Kuß seines Lebens gewesen, und obwohl er ihn nicht einmal erwidert hatte, war und blieb es der süßeste und aufwühlendste und schönste Kuß, den er je in seinem Leben bekommen hatte.

Er sah das Mädchen nicht wieder; es wurde, wie er hörte, am gleichen Tag aus dem Krankenhaus entlassen, und er wußte nicht ihren Namen und ihre Adresse und konnte ihr nicht schreiben, und irgendwie wollte er das auch gar nicht.

Durch einen unwahrscheinlichen Zufall erfuhr er später, daß das Baby des Mädchens von einem amerikanischen Besatzungssoldaten war und daß sie mit ihm in der Augenabteilung gelegen hatte, weil sie von dem Soldaten nicht nur das Baby bekommen hatte, sondern auch einen Tripper, den sie bei der Geburt auf die Augen des Kindes übertrug.

Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers

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