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Ein Snob

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Wenn ein Snob, wie er einmal gelesen hatte, ein Mann war, der ein Mädchen in der Eisenbahn nicht ansprach, weil es ein Buch las, dessen Autor er nicht mochte, dann war er ein Snob. Irgendwie gefiel ihm dieser Gedanke, und er begann mit ihm zu spielen: Auf ferne Weise fühlte er sich dadurch verwandt mit Oscar Wilde und Beau Brummel, mit Männern funkelnden Geistes und unwiderstehlichen Charmes und ätzenden Witzes; mit Männern, die in fernen Zeiten in lilafarbenen Giletwesten, graue Zylinder auf dem Kopf und langstielige Meerschaumpfeifen schmauchend, in goldschnörkelverzierten Chaisen verächtlich lächelnder Miene zwischen dem Elend dieser Welt hindurchgerollt waren; und es erfüllte ihn mit Befriedigung, als ihm etwas aus seiner Vergangenheit einfiel, das auf schmeichelnde Weise zu bestätigen schien, daß er sich mit Recht einen Snob nennen durfte.

Er hatte in der österreichischen Kleinstadt, in der er damals, mit Anfang zwanzig, lebte – nach vielen Monaten in einem Krankenhaus und in einem Lungensanatorium – Lokalberichte für eine Zeitung der Landeshauptstadt geschrieben, für Zeilenhonorar, Berichte über Landwirtschaftsausstellungen, Stadtratsitzungen, Mordprozesse im Gericht der Kreisstadt und Kritiken über Aufführungen des Stadttheaters – letzteres, wie ihm heute bewußt wurde, mit Anfang zwanzig gestützt auf eine unerhörte Anmaßung, doch die Erinnerung brachte ihn schon wieder auf etwas, das seine Meinung, er sei ein Snob, zu untermauern schien: Er hatte einen Mimen dieses Theaters, dem einmal während einer Vorstellung der Räuber das Gebiß herausgefallen war, so daß er seinen Monolog als alter Moor, in einem Kellerverlies hockend, schmatzend und mit eingesunkenen Wangen weitersprechen mußte, und der im Sitzungssaal des Rathauses allein einen Abend mit Szenen aus dem Faust gegeben hatte, bei dem er, hin und her springend, einmal von der einen und einmal von der andern Seite her, abwechselnd den Faust, den Mephisto und, mit fistelnder Stimme, das Gretchen rezitierte – er hatte einmal, mit Anfang zwanzig, diesen in allen Theaterehren ergrauten Komödianten, der Paridam von der Mayden oder so ähnlich hieß und der zweimal im Monat in der städtischen Sauna seine Socken zu waschen pflegte, in heillose Verwirrung mit der Frage gestürzt, was er lieber sein möchte: ein lebender Paridam von der Mayden oder ein toter Gustaf Gründgens.

In den Straßen und auf den Plätzen der Stadt begegnete er damals immer öfter einem Mädchen; einem Mädchen, das kastanienbraunes Haar und graugrüne Augen hatte und dessen ungemein seelenvoll erscheinender leicht verschleierter Blick, wenn er ihn auffing, ihm durch und durch ging. Umständliche Ermittlungen anstellend bekam er heraus, daß sie Gerda hieß und vier oder fünf Jahre älter als er und Lehrerin war. Als er festgestellt hatte, wo sie wohnte, schrieb er ihr, schon damals geneigt, solche Dinge auf möglichst komplizierte Weise anzugehen, einen langen Brief, dessen Worte er sehr genau wählte; einen Brief, in dem er, denn sie war doch Lehrerin, mit feinsinnigen Anspielungen auf Dichtkunst und Philosophie, verziert mit mancherlei Zitaten aus klassischer und moderner Poesie und Prosa, schließlich und endlich den Wunsch zum Ausdruck brachte, sie kennenzulernen; auf welche Weise, ließ er offen. Wochen vergingen, doch es kam keine Antwort, und er sah sie auch nicht mehr, was in ihm die zunehmend beunruhigende Frage aufsteigen ließ, ob sie vielleicht Turnlehrerin oder Handarbeitslehrerin war und so mit seinen geistvollen Elogen gar nichts anzufangen wußte, doch dann stellte sich heraus, daß der Grund ihres Schweigens ein ganz simpler war: Er hatte den Zeitpunkt seines Briefs schlecht gewählt; es war zu Beginn der Sommerferien, und sie war über die Ferien zu ihrer Familie gefahren.

Die Ferien gingen zu Ende, und einige Tage danach stockte sein Atem, als er in mittäglicher Gluthitze über den Hauptplatz der Stadt ging: Sie kam ihm auf dem Bürgersteig entgegen, in einem roten und grünen Dirndlkleid mit einer weißen Schürze. In einer alle Gedanken auslöschenden Hast – sie kam immer näher – überlegte er bestürzt, was er nun tun sollte, doch es war sie, die dieses Problem mit erstaunlicher Unumwundenheit löste, denn als sie einen Meter vor ihm war, blieb sie stehen und sagte, ihn mit ihren graugrünen verschleierten Augen seelenvoll ansehend: »Da sind Sie ja.« Sie führten ein kurzes Gespräch, bei dem ihm jedoch zu seiner tiefen Verärgerung keinerlei Zitate aus Poesie und Prosa einfielen und dem er sich, obwohl er es doch so sehnlich herbeigewünscht hatte, deshalb möglichst schnell zu entziehen trachtete, und schließlich war auch wieder sie es, die vorschlug, sich am Abend in einer kleinen Konditorei in einer abgelegenen Straße der Stadt zu treffen; warum in der abgelegenen Straße, sollte er später erfahren. Benebelt und berauscht ging er nach Hause, verbrachte irgendwie den Nachmittag und begab sich am Abend, noch mehr benebelt und berauscht, in die kleine Konditorei. Sie saß bereits an einem der Marmortische, vor sich einen riesigen Eisbecher mit Früchten, und als er neben ihr Platz genommen hatte, entspann sich, nach dem Austausch konventioneller Belanglosigkeiten, ein langes Gespräch über Dichtkunst und Philosophie und klassische und moderne Poesie und Prosa. Zunehmend erlag er einer atemraubenden Verzauberung, denn sie hatte eine ihn tief verwirrende Art, den seelenvollen Blick ihrer graugrünen Augen, wenn sie von Rilke oder Hölderlin sprach, in den seinen zu versenken und den immer qualvolleren Wunsch in ihm zu nähren, mit zarter Hand ihr kastanienbraunes Haar zu streicheln. Nach zweistündigem Gespräch – hätte er nicht einen Mokka getrunken und sie einen Eisbecher gegessen, so hätte man es einen zartsinnigen literarischen Tee nennen können – beschlossen sie, sich an einem Tag der nächsten Woche wieder zu treffen; wieder in der kleinen abgelegenen Konditorei; und sie bestand darauf – er fragte sich, warum –, allein nach Hause zu geben.

Sein Wunsch mit ihr zu schlafen, war nicht sehr stark – das Ganze schien, was wohl an der Thematik ihrer Unterhaltung und am seltsam saugenden Blick ihrer langbewimperten Augen lag – auf einer höheren und sehr ätherischen Ebene stattzufinden, und so machte es ihm nicht viel aus, daß sie auch ihre weiteren Treffen, immer einmal in der Woche, in die abgelegene Konditorei verlegte, wo ganz bestimmt, obwohl sie bald nebeneinander auf einem weinroten Plüschsofa saßen, keinerlei Möglichkeit zu einer erotischen Ausweitung ihrer Beziehung bestand, und sie beharrte auch stets darauf, allein heimzugehen, so daß nicht einmal ein Kuß unter ihrer Haustür möglich war. Aus dem, was sie sprachen – bald waren es, neben ihren literarischen Exkursionen, auch ganz alltägliche Dinge, was ihn erleichterte, denn er merkte, daß sie von Poesie und Prosa viel mehr wußte als er, und ihm ging allmählich der Stoff aus – entnahm er, daß sie in allem, was sie tat oder nicht tat, ungemein abhängig war vom Urteil einiger ihrer Kolleginnen: älterer, von einem Nimbus konservierter Jungfräulichkeit umgebener Lehrerinnen, bebrillt und mit glattem grauem oder weißem und meist im Nakken zu einem Dutt zusammengestecktem Haar. Diese in strenge dunkelfarbige Schneiderkostüme gekleideten Damen, durch den lebenslangen ständigen Umgang mit Kindern in einer aus Naivität und Rechthaberei gemischten Haltung erstarrt, übten in der kleinen Stadt das Amt erbarmungsloser Sittenwächterinnen aus, und ihm wurde immer klarer, daß Gerda es sich nicht leisten konnte, sich mit ihm zu zeigen: mit ihm, einer durch und durch windigen Existenz, einem jungen Schnösel, der zwischen den rechtschaffenen Geschäftsleuten und Beamten und Handwerkern und Lehrerinnen der kleinen Stadt ohne rechten Schulabschluß offensichtlich keiner geregelten Tätigkeit nachging, ja, der sich gar immer wieder durch die Äußerung radikal linker politischer und sozialer Ansichten nicht schämte, auch in dieser Hinsicht beunruhigenden Verdacht zu erregen, das noch dazu mit empörend frecher und anscheinend bewußt herausfordernder Störrischkeit; und es hatte sich herumgesprochen, daß er sogar im Abonnement die Zeitschrift konkret bezog. Deshalb also, erkannte er, die heimlichen Treffen in der abgelegenen Konditorei und ihre konstante Weigerung, sich auf dem Heimweg von ihm begleiten zu lassen. Doch auch die Treffen in der abgelegenen Konditorei waren nach einigen Wochen nicht mehr möglich, denn eines Abends betrat – er merkte, wie sie zusammenzuckte – eine der bebrillten und bedutteten Lehrerkolleginnen das Lokal, setzte sich ihnen gegenüber an einen der kleinen Marmortische und blickte, in einer Illustrierten blätternd, immer wieder mit mißbilligender Miene durch ihre Brille zu ihnen herüber, was Gerda veranlaßte, ihn zum nächsten Rendezvous zu einer Bank im nur spärlich beleuchteten Stadtpark zu bestellen. Als er sich an dem vereinbarten Abend an der Bank einfand, regnete es jedoch in Strömen, und sie schlug ihm vor, mit ihrer manchmal zutage tretenden und so gar nicht zu ihr passenden Resolutheit, in einer halben Stunde in ihre Wohnung zu kommen, zu der sie sich also auf getrennten Wegen begaben.

Ihre Wohnung erwies sich als ein Einzimmerappartement, in dessen Wohn- und Schlafzimmer sie beiderseits eines kleinen Glastisches in tiefen grünen Fauteuils Platz nahmen, er mit einem etwas unbehaglichen Gefühl, denn an der Wand gegenüber stand, mit provokanter Direktheit, ein riesiges rosa Baldachinbett, zwischen dessen zugezogenen Vorhängen blümchenverzierte Bettwäsche hervorlugte, und er mußte während ihres wieder zweistündigen Gesprächs, wie magisch angezogen, ständig den Kopf zu dem Bett wenden, was, wie er fürchtete, von ihr nicht unbemerkt bleiben konnte. Es geschah jedoch nichts, was ihn mit ihr quer durchs Zimmer in die Richtung dieses Bettes zog, besser gesagt, er ließ mit sich nichts dergleichen geschehen, aber als er sich nach zwei Stunden in der Wohnungstür von ihr verabschiedete, entsann er sich nun doch seiner mehr männlichen als literarischen Neigungen, senkte seinen Kopf zu ihr hinab und drückte einen Kuß auf ihre Lippen, die geschlossen blieben, den Kuß aber auf ganz zarte hauchhafte Weise erwiderten. Dann ging er, ohne ein weiteres Wort.

Der Kuß und der leicht bittere Geschmack ihres Lippenstifts hinterließen in ihm ein nagendes Verlangen, sich mehr und Deftigeres von ihrem Mund zu holen, doch als er sie bei seinem nächsten Besuch gleich an sich zu ziehen versuchte, machte sie sich lächelnd und kopfschüttelnd von ihm los, und sie ließen sich wieder in den grünen Fauteuils nieder, zwischen denen, mit unüberwindlicher Konkretheit, der Glastisch stand. Ähnliches wiederholte sich bei seinen zwei oder drei nächsten Besuchen, und ihre ständige Verweigerung ließ in ihm immer mehr einen quälenden Drang wachsen, mit ihr von den grünen, durch den Glastisch getrennten Fauteuils auf das so einladend lustvolle Vereinigung verheißende rosa Baldachinbett überzusiedeln. Als seine wiederholten Versuche, dies zu tun, nichts fruchteten und es bei hauchhaften, von ihr stets gleich wieder abgebrochenen Küssen blieb, entsann er sich eines erprobten Mittels, das bei einigen andern Mädchen überraschende, ganz in seinem Sinn liegende Wirkung gezeitigt hatte. Er hatte im Lauf der letzten Jahre einige Gedichte geschrieben; Gedichte, in denen die Rede war von verwelkten Astern, nächtlich leeren Straßen, zersprungenen Kristallschalen und weiß verschneiten Winterwäldern. Er hatte die Gedichte – nachdem er Ähnliches bei Hesse gelesen hatte – ziemlich kühl und überlegt und meistens bereits in der Absicht geschrieben, irgendeinem Mädchen zu imponieren und in ihm seinen frevelhaften Absichten entgegenkommende Gefühle zu erzeugen, was ihm, wie gesagt, in einigen Fällen mit ihn selbst erstaunendem Erfolg gelungen war. Ein paarmal hatte er sogar, wenn ihm selbst nichts einfiel, Gedichte anderer Dichter, die ihm gefielen, abgeschrieben, Texte, die er mit Bedacht wählen mußte, denn die Gedichte und die Dichter durften natürlich nicht zu bekannt sein, damit er sich keine unsterbliche Blamage einhandelte; und er hatte diese abgeschriebenen Gedichte, welche sich, wie er feststellte, zuweilen als ebenso wirksam wenn nicht wirksamer erwiesen, den Mädchen gegenüber als seine eigenen Werke ausgegeben – etwas, dessen er sich in späteren Jahren, wenn er daran dachte, zutiefst schämte; vor allem, wenn ihm einfiel, daß er einmal Christine Lavant, nicht nur eine Dichterin, sondern auch eine Frau, und überdies eine schon ältere, mißbraucht hatte, um sich bei einem Mädchen eine erotisch sehr erlebnisreiche Nacht zu verschaffen; ein geradezu ungeheuerlich obszönes Vergehen.

Er brachte also zu seinem nächsten Besuch einige seiner Gedichte mit; durchwegs eigene, denn von andern Dichtern abgeschriebene traute er sich Gerda bei ihren erstaunlichen Literaturkenntnissen nicht zu präsentieren; und las sie ihr vor, nachdem sie zu beiden Seiten des Glastischs in den grünen Fauteuils Platz genommen hatten, mit bedeutungsvoll gesenkter Stimme, eins nach dem andern, und als er alle vorgetragen hatte, ließ er seine Augen über das gegenüberstehende Baldachinbett gleiten und sah sie erwartungsvoll an. Sie saß mit gesenktem Kopf, hob dann den Kopf, schaute ihn mit einem fast flehentlichen Blick an und senkte ihn wieder und schwieg. Nachdem er eine Weile gewartet und innerlich ein wenig verdaut hatte, daß sie nicht aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen war, raffte er sich zusammen und fragte mit belegter Stimme, was sie zu den Gedichten meine. Sie hob wieder den Kopf, und diesmal glaubte er Mitleid in ihrem Blick zu sehen, und dann sagte sie leise, sie müsse, wenn sie ganz ehrlich sei, und er solle ihr aber nicht böse sein und ihre Offenheit verzeihen, aber wenn sie ganz ehrlich sei, müsse sie sagen, sie finde die Gedichte schlecht. Er ging, diesmal ohne Kuß, mit einem Gefühl tiefer Verzweiflung und schlief die Nacht danach nicht.

In den Tagen und Nächten vor seinem nächsten Besuch gelangte er endlos grübelnd zur Überzeugung, daß nun nichts anderes blieb als die auch schon einige Male von ihm angewandte Methode unverhüllter Überrumpelung, und so versuchte er bei seinem nächsten Besuch gleich, nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, ohne ein Wort und ohne sich erst in einen der Fauteuils niederzulassen, sie in Richtung des riesigen rosa Baldachinbettes mit der geblümten Bettwäsche zu drängen, doch sie stieß ihn, als er ihr Sträuben nicht beachtete und nicht nachgab, schließlich mit einer wütenden Heftigkeit, die einen Moment sein Herz aussetzen ließ, zurück. Dann sank sie in den einen Fauteuil, schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Sein Herz schmolz; er beugte sich über sie und versuchte, voll Reue über seine unfaßbare Gefühllosigkeit, sie zu beruhigen, wobei er mit der Hand über ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar strich, wovon er jedoch bald abließ, denn die Berührung ließ – und er begann sich selbst zu hassen – neuerliche Begierde in ihm aufsteigen. Endlich nahm sie die Hände vom Gesicht, hob den Kopf, wischte mit einem bestickten kleinen Taschentuch die Tränen ab und deutete auf den Fauteuil auf der andern Seite des Glastischs. Er setzte sich, und nachdem sie ihn einen Moment angesehen hatte, mit einem herzzerreißend traurigen Blick, begann sie stockend und mit leiser Stimme zu erzählen: Sie habe seit drei Jahren eine Beziehung zu einem viele Jahre älteren, in der Öffentlichkeit sehr bekannten Mann mit einer hohen Position in der siebzig Kilometer entfernten Festspielstadt, der verheiratet sei und zwei Töchter in ihrem Alter habe; sie könne ihn nur alle paar Monate über ein Wochenende sehen, das sie immer in einem Hotel im nahen Gebirge verbrächten, doch ihre Gefühle für ihn seien so, daß sie nicht von ihm loskäme und ließen keine Beziehung zu einem andern Mann zu; sie habe sich, trotz aller Ausweglosigkeit, damit abgefunden. Dann bat sie ihn, der mit starrer Fassungslosigkeit zugehört hatte, zu gehen; er solle aber nächste Woche wiederkommen, sie könnten doch Freunde sein; und er ging, schwankend und benommen.

Ihre Geschichte beschäftigte ihn die nächsten Tage unausgesetzt, und als er eine Woche später einen Tag in der Bundeshauptstadt zu tun hatte, beschloß er – schon damals – einen Psychotherapeuten aufzusuchen und sich Rat zu holen. Der Psychotherapeut sah ihn, während er den Fall vortrug, von der andern Seite seines Schreibtischs her durch seine Brille auf, wie ihm schien, unangenehm bohrende Weise an, und als er fertig war und ihn um seine Meinung bat, sagte er, was ihm vor allem auffalle, sei seine erstaunliche Unfähigkeit, sich zu konzentrieren. Und als er darauf beharrte, seine Ansicht zu hören, und ihn fragte, ob das Mädchen nicht einen Ödipuskomplex habe und was er dagegen tun solle, erwiderte der Psychotherapeut, ein Ödipuskomplex sei es bei dem Mädchen sicherlich nicht, aber vielleicht ein Elektrakomplex, doch er habe den Eindruck, nicht das Mädchen sei einer psychotherapeutischen Behandlung bedürftig, sondern er selbst. Er ging, nachdem er ein ungeheuerliches Honorar entrichtet hatte, in kalter Wut: Er dachte nicht daran, sich in eine solche Behandlung zu begeben, und das war auch nicht möglich, denn er konnte nicht dazu jedes Mal in die Bundeshauptstadt fahren und hatte auch gar nicht das nötige Geld dafür, aber andererseits konnte er bei Gerda und deren Neigung für viel ältere Männer nicht warten, bis er sechzig war, und das war auch keine Lösung, denn dann würde sie vierundsechzig oder fünfundsechzig sein und sich vielleicht zu Männern hingezogen fühlen, die über hundert waren.

Er wußte nicht ein noch aus, doch in den Tagen bis zu seinem nächsten Besuch wurde ihm zunehmend bewußt, teils zu seinem Schrecken und teils zu seiner Erleichterung, daß er allmählich die Lust an der ganzen Sache verlor, und er hatte inzwischen auch von ihr erfahren, daß sie sehr stark kurzsichtig war, und ihr seelenvoller, leicht verschleierter Blick war, wie er annehmen mußte, eine Folge davon. Er beschloß jedoch, einen letzten Versuch zu unternehmen und nahm, halben Herzens, Rilkes Cornet mit, um ihn ihr vorzulesen; durchaus nicht, um Gottes willen, in der Absicht, ihn als sein eigenes Werk auszugeben, doch in der schon so oft bestätigten Annahme, daß Schönes und Bedeutendes, das aus seinem Mund kam, seine Wirkung nicht verfehlen würde, auch wenn es nicht von ihm selber war. Immer noch halben Herzens, las er ihr, skandierend und in eindringlichem Rhythmus, den Cornet vor, und als er geendet hatte, schwiegen sie beide eine Minute, und dann sprang sie aus ihrem grünen Fauteuil auf und lief um den Glastisch herum zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und sah ihn mit graugrünen Augen und halb offenen Lippen erwartungsvoll an, und er spürte ihre festen Brüste an seiner Brust, und sein halbes Herz darin wuchs wieder zu einem ganzen wild pochenden Herzen, und noch etwas anderes wuchs an ihm, und dann sagte sie, das sei eine Sternstunde gewesen, und da schrumpfte sein Herz ganz schnell wieder zusammen und ihm fiel innerlich und auch äußerlich alles herunter, denn Sternstunde war ein einfach unfaßbar und unsäglich kitschiges Wort, das ihm einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Er räusperte sich, machte sich los und ging mit einer schnell ausgedachten Entschuldigung und sah sie nicht wieder; und Rilkes Cornet war ihm von da an verleidet.

Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers

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