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Schreiben

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Er war Schriftsteller, ein Mann mittleren Alters, der vom Schreiben lebte, dem das Schreiben ein auskömmliches Einkommen sicherte, denn seine Geschichten erschienen in den Feuilletons der großen Tageszeitungen, und die Belegexemplare seiner Romane und Erzählungsbände füllten fast schon ein ganzes Regal seines Bücherschranks. Was er schrieb, hatte einen von den Rezensenten vielgerühmten human touch, und so wurde es nicht nur von Lehrerinnen und Buchhändlern gern gelesen, sondern auch von Abteilungsleitern großer Kaufhäuser, von Psychotherapeuten und Zahnärztinnen, ja sogar von andern Schriftstellern.

Seit vielen Jahren schrieb er sich so durchs Leben, seine eigene Existenz und die seiner Mitmenschen in Romane und Erzählungen und Aphorismen umsetzend und dabei stets gelassen über den Dingen stehend, doch seit einiger Zeit nahm er an sich etwas wahr, was ihn zunehmend zugleich beunruhigte und faszinierte. Wenn er etwas tat oder dachte, trat er aus sich heraus neben sich und beschrieb, sich selbst wie durch eine sehr scharfe Brille zusehend und beobachtend, in seinem Kopf, was er tat oder dachte. Er ging morgens frisch rasiert und pfeifend die Treppe hinunter, um sich im Zigarettengeschäft nebenan die Tageszeitung zu holen, und dachte: Er ging morgens frisch rasiert und pfeifend die Treppe hinunter, um sich im Zigarettengeschäft nebenan die Tageszeitung zu holen. Strich er dem Mädchen, das er liebte, über das schulterlange kastanienbraune Haar und sah in ihren graugrünen Katzenaugen ein leises Glimmen, dann dachte er: Er liebte sie, und wenn er über ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar strich, sah er in ihren graugrünen Katzenaugen ein leises Glimmen.

Mehrere Wochen fühlte er sich diesem Zustand, für den er einen Namen – literarische Schizophrenie – fand und der ihn teils amüsierte und teils quälte, hilflos ausgeliefert; dann durchblitzte ihn, als er eines Morgens beim Frühstück sein weichgekochtes Ei aufklopfte – er dachte dabei: Er klopfte sein weichgekochtes Ei auf – eine Idee. Er war ein Mensch, der schrieb, und deshalb mußte er, um von dieser seltsamen Doppelexistenz Befreiung zu finden, aus der Not eine Tugend machen und sich zu ihr bekennen. Er würde alles, was er tat und dachte, vom morgendlichen Sockenanziehen bis zum abendlichen Ausknipsen der Nachttischlampe, aufschreiben, um sich, so schreibend und sich dazu bekennend, davon zu distanzieren; er mußte den gordischen Knoten mit dem Damoklesschwert zerschlagen – ein Bonmot, das er sich sogleich notierte. Während er das Ei auslöffelte, wuchs in ihm ein grandioser Plan, der die Bemühungen seines Kollegen James Joyce als harmlose Kinderei erscheinen ließ. Er würde, mit akribischer Genauigkeit, ein unbestechlicher Chronist seiner selbst, schreiben, wie er sich rasierte und rauchte, wie er las und dachte und schrieb, wie und was er aß und trank, wie er das Gegessene und Getrunkene wieder von sich gab, von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag bis an sein Lebensende: Er würde schreibend leben und lebend schreiben. Als er sich Orangenmarmelade aufs Brot strich, nahm sein Plan phantastische Dimensionen an. Er würde einen Verlag finden, der das von ihm täglich Gelebte und Geschriebene jeden Tag druckte, laufende Bulletins seines menschlichen und schriftstellerischen Seins, und so würde er einem Heer von Menschen viele Jahre Arbeit und Brot geben – Lektoren und Setzern und Druckern, Papierfabrikanten, Stenotypistinnen, Verlagsdirektoren, Lastwagenfahrern und Kantinenpächtern –, und Millionen würden es Tag für Tag lesen, würden lesend leben und lebend lesen. Literaturkritiker würden über das, was er schrieb, schreiben, würden es ein tief unter die Haut gehendes document humaine nennen und eine monumentale erschütternde Epopöe menschlicher Entfremdung; sie würden hingerissen sein, denn es würde ihr eigenes tiefstes inneres Bedürfnis stillen: jeden Tag derartige Wendungen zu erfinden und sich damit Milionen Menschen zu präsentieren. Als er mit einem Schluck Kaffee den letzten Bissen Marmeladebrot hinunterspülte, überlief ihn ein Schauder: Er würde, so schreibend, den eigenen Tod bewältigen, würde, den Kugelschreiber in der Hand, schreibend hinüber schreiten ins dunkle Nebelreich und dort weiterschreiben, vielleicht auf einer Wolkenbank, hinein in eine Ewigkeit, die nun nichts Bedrohliches mehr hatte. Ganz erfüllt von diesem überwältigenden Ausblick stand er auf, ging ins Badezimmer und trat ans Waschbecken. Er nahm die Zahnbürste, drückte ein Stück Zahncreme darauf und begann, die Zähne zu putzen, wobei er dachte: Er nahm die Zahnbürste, drückte ein Stück Zahncreme darauf und begann, die Zähne zu putzen. Er blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und dachte: Als er in den Spiegel blickte, sah er darin einen Mann mittleren Alters, der vom Schreiben lebte, dem das Schreiben ein auskömmliches Einkommen sicherte …

Nachdem er die Zähne geputzt und sich rasiert und gewaschen und angezogen hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er holte tief Luft, und als er einen Moment innerlich Anlauf genommen hatte, beugte er sich über ein blütenweißes Blatt Papier und begann zu schreiben. Ein Blatt füllte sich nach dem andern; er schrieb bis zur Mittagszeit und, ohne etwas zu essen, weiter den ganzen Nachmittag; er erwiderte nicht einmal den Gruß der Putzfrau, die kam und putzte und ging. Er aß nichts zu Abend und schrieb, ohne zu Bett zu gehen, die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Am Nachmittag kam die Putzfrau wieder und sah, daß er nichts gegessen hatte und nicht zu Bett gegangen war, und als er auf ihre besorgten Fragen hin nicht einmal den Kopf wandte, verständigte sie seinen Arzt. Als der Rettungswagen kam und zwei Männer in weißen Kitteln ihn unter den Armen packten, raffte er Schreibblock und Kugelschreiber an sich und schrieb während der ganzen Fahrt im Rettungswagen weiter, den Block auf den Knien.

Er saß in der Männerabteilung der städtischen Nervenklinik auf seinem Eisenbett und schrieb von morgens bis in die Nacht hinein, eine Seite nach der andern, und wenn der Pfleger alle paar Stunden zu ihm trat und ein Blatt von seinem Schoß nahm und einen Blick darauf warf, sah er, daß darauf, Zeile für Zeile, immer wieder nur der eine Satz stand: Er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb.

Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers

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