Читать книгу Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers - Helmut Degner - Страница 13
Fragen, Fragen …
ОглавлениеEs begann damit, daß er an der Gardine vor seinem Wohnzimmerfenster zwei Fliegen auf irgendwie unanständig scheinende Weise aneinanderkleben sah. Als er sie näher betrachtete, wurde ihm klar, daß er keine Ahnung hatte, wie Fliegen sich fortpflanzten; ob männliche Fliegen einen Penis hatten und weibliche Fliegen eine Vagina, ob sie gern miteinander schliefen, warum auf Wohnzimmergardinen, und ob sie, wenn sie sich zusammentaten, wollüstige Gefühle hatten. Er ging in sich und kam zu der Erkenntnis, daß er überhaupt beschämend wenig wußte und daß es mit dem Wissen dieser Welt etwas Schreckliches auf sich hatte. Er hatte in seinem Leben sehr viel gelesen, wahrscheinlich mehr als viele andere Menschen, jeden Tag die Süddeutsche, die Abendzeitung und die Frankfurter Allgemeine, hinter der doch angeblich immer ein kluger Kopf steckte, jede Woche den Spiegel und den Stern, er hatte Shakespeare und Vicki Baum, Siegfried Lenz und Sigmund Freud gelesen und Tausende von Stunden ferngesehen, und er besaß eine Bibliothek von über tausend Bänden (von denen er allerdings viele nicht kannte, denn eine große Anzahl waren Bücher, die er in Zeitungen rezensiert, aber nicht gelesen hatte), und nun konfrontierten ihn zwei Fliegen mit einer so hintergründigen Problematik. Sein ehemaliger Schwiegervater, ein Landarzt mit einem weißen Vollbart, hatte ihn sogar einmal einen Intellektuellen genannt, was durchaus als Beschimpfung gemeint war, doch er wußte – als deutscher Mensch und als Mensch, der schrieb – nicht einmal, wann Johannes Mario Simmel geboren war. Er hatte selbst ziemlich viel geschrieben, doch er konnte ja nur schreiben, was er bereits wußte, und so hatte er dabei nichts hinzugelernt. Von Heidegger kannte er nur den einen Satz Das seiende Sein nichtet das nichtende Nichts; er hatte ihn sich gemerkt, weil er ihn irgendwie beeindruckend fand, doch er wußte nicht, warum er ihn beeindruckte und was dieser Heidegger, von dem er sonst nicht sehr viel wußte, doch auch ihm damit sagen wollte, obwohl es etwas ziemlich Wichtiges sein mußte. Sein kulturelles Interesse war erbärmlich: Er hatte sich seit Jahren kein Stück von Ionesco angesehen, und er hatte, während seine Frau das Straßburger Münster besichtigte, mit dem Dackel draußen im Regen gewartet, und manchmal kam ihm der Verdacht, daß das mit ein Grund gewesen war, warum seine Frau sich hatte von ihm scheiden lassen. Sein Auto war ihm immer wichtiger gewesen als der Rheinische Merkur, er hatte nie Hölderlins Hyperion oder Arno Schmidts Zettels Traum gelesen (doch ihn tröstete, daß er gehört hatte, das hätte noch nie ein Mensch von Anfang bis Ende), und ganz schlimm stand es mit seinen Geschichtskenntnissen. Der Satz Drei, drei, drei bei Issus Keilerei war ihm im Gedächtnis geblieben, aber er brachte immer die Alexanderschlacht mit Armin dem Cherusker und den Teutoburger Wald mit Karl dem Großen in Zusammenhang. Er war stolz darauf, zu wissen, daß Kolumbus 1492 Amerika entdeckt hatte; angeblich waren jedoch in letzter Zeit bei den Forschern Zweifel über die Richtigkeit dieses Datums aufgetaucht, und wenn sich herausstellte, daß es nicht stimmte, dann würde von seinem geringen Wissen noch ein Stückchen abbröckeln. Er hatte sechseinhalb Klassen von vier Gymnasien besucht, davon zwei zweimal, doch von der Schule hatte er, wenn er sich’s überlegte, äußerst wenig profitiert. Den Anfang von Cäsars Gallischem Krieg hatte er noch im Kopf Gallia est divisum in partes tres, quarum unam …, doch dann ging’s schon nicht mehr weiter, und er wußte nicht einmal, ob dieser halbe Satz so richtig war; aber sie hatten einen Lateinlehrer gehabt, unter dessen Augen sie ohne jede Hemmung Karten spielten, und als er darüber nachdachte, wurde ihm klar, daß er nicht mehr lateinisch deklinieren, geschweige denn konjugieren konnte. Es würde ihm, dachte er immerhin, aber auch nicht viel nützen, wenn er es könnte. Dennoch, stellte er fest, als er sie gezogen hatte, war es eine grauenhafte Bilanz, und er überlegte, wie er sie frisieren konnte. Er erwog, den Großen Brockhaus anzuschaffen oder eine Abendschule zu besuchen, aber ein Lexikon war keine Lösung, denn er fürchtete, er würde dann nur noch über dem Lexikon sitzen und darin blättern und zu nichts anderem mehr kommen, nicht zum Verdienen seines Lebensunterhalts und nicht zum Lesen der Abendzeitung und des Stern, und in eine Abendschule mochte er nicht gehen, weil er dann nicht mehr fernsehen könnte. Deshalb mußte er beschließen, seine Ansprüche herunterzuschrauben und, ein wenig bescheidener, so weiterzuleben.