Читать книгу Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers - Helmut Degner - Страница 6
Ende eines Kapitels
ОглавлениеAls ihm das Mädchen ihre Geschichte erzählt hatte und gegangen war, trat er ans Fenster und schaute durch die trübe Scheibe hinaus in den Regen. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, hier eine Vase zurecht rückend, dort mit dem Finger den Staub von einem Buch wischend, doch seine Unruhe wurde immer stärker. Er ging ins Vorzimmer, streifte seinen Mantel über, fuhr mit dem Lift hinunter und lief in den Park auf der andern Seite der Straße. Unter seinen Schuhen knirschte der nasse Kies. Er schlenderte eine Weile kreuz und quer über die schmalen Wege; dann setzte er sich auf eine zerschrammte Bank, deren grüne Farbe von Sitz und Lehne abgeblättert war. In den Büschen rauschte der Regen, hoch oben in einem der Bäume, deren dunkle Stämme über ihm mit der noch schwärzeren Finsternis verschmolzen, kreischte ein Nachtvogel. Hinter einigen Fenstern des Hauses gegenüber zuckte das blaue Licht von Fernsehapparaten, aus einem Radio plärrte Schlagermusik. Sein Blick fiel auf die Kirchturmuhr, die er auch von seiner Wohnung aus sehen konnte und deren Zeiger seit einigen Wochen zur Reparatur abmontiert waren. Er starrte auf das leere Zifferblatt und spürte mit seltsamer Distanziertheit, wie ihn Entsetzen packte. Mit der Zungenspitze fuhr er über die Zahnlücken in seinem Mund. Er war Ende vierzig, und seine Zähne faulten wie feuchtes Holz; alle paar Monate mußte einer gezogen werden. Manchmal stand er morgens im Bad vor dem Spiegel und starrte voll Haß das verkniffene Gesicht mit der Lücke im linken Mundwinkel an, das ihm hämisch entgegengrinste. Sein Friseur hatte ihn schon vor Jahren bei jedem Besuch darauf aufmerksam gemacht, wie seine grauen Haare sich vermehrten, und ihm irgendein Färbemittel empfohlen. Seit einigen Wochen ließ er nachts das Licht an und stellte seinen Wecker immer wieder so, daß er ihn alle zwei Stunden aus dem Schlaf riß, denn er fürchtete, sonst nie mehr aufzuwachen.
Der Vogel war verstummt, und das Plärren des Radios hatte aufgehört. Das einzige Geräusch war das Schnurren der Autoreifen auf dem nassen Asphalt der Straße hinter den Häusern. Die mondlose Dunkelheit umhüllte ihn wie ein nasser erstickender Mantel, und ihn überkam das Gefühl, allein zu sein auf einer Welt ohne Menschen, als einziger zurückgeblieben auf einem Planeten, auf dem alles Leben erstorben war. Sein Mund füllte sich mit schaumigem Speichel, doch er war nicht fähig, ihn hinunter zu schlucken, und er rann über sein stoppliges, seit zwei Tagen unrasiertes Kinn. Es kam sich vor wie ein sabbernder Idiot, doch es machte ihm nichts aus. Sein Magen war eine Grube voll Eis, und die Kälte breitete sich von ihm über seinen ganzen Körper aus, kroch den Rücken hinauf und ließ seine Glieder starr und steif werden. Mit einer Gleichgültigkeit, die ihm selbst unerklärlich war, ließ er zu, daß diese Starre ganz von ihm Besitz nahm, und als er aufhörte, sich gegen den Tod zu wehren – er war es, dessen war er sicher –, ergriff ihn plötzlich ein Gefühl schwebender Leichtigkeit, dem er sich ganz hinzugeben vermochte. Jeder Sinn für Zeit und Raum schwand, und als die Kirchturmuhr die volle Stunde schlug und ihr Dröhnen seinen Kopf füllte und ihn wieder zu sich kommen ließ, wußte er nicht, wie lange dieser Zustand völliger Leere gedauert hatte.
Er hob die Hand zum Mund und grub die Zähne mit aller Kraft in den Ballen seines Daumens. Verwundert blickte er auf das dunkle Rinnsal, das sich langsam über seine Hand ausbreitete. Er genoß den Schmerz und den salzigen Geschmack in seinem Mund. Dann stand er auf und ging über die Straße zurück in seine Wohnung, um sich zu rasieren und das Geschirr abzuspülen und die Geschichte aufzuschreiben, die ihm das Mädchen erzählt hatte.