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Der Sonntag bei dem Onkel

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Der Onkel war, als sie vor vielen Jahren, mit zehn oder elf, einmal die Ferien bei ihm und seiner Familie verbrachte, sehr nett zu ihr gewesen, und als sie am Sonntagmorgen den Vorhang aufzog und sah, daß es von einem grau verhangenen Himmel in Strömen regnete und sie das Gefühl überkam, sie würde diesen Tag nicht überstehen, wenn sie nicht jemanden sah, der sie mochte, fiel ihr dieser Onkel ein, und sie beschloß, ihn zu besuchen. Es war eine lange ermüdende Fahrt mit einem Personenzug, der an jeder Station hielt, und die Straße, die vom Bahnhof der kleinen Stadt eine Anhöhe hinauf zu der Siedlung führte, in der der Onkel wohnte, nahm kein Ende. Trotz des Regens war es an diesem Augusttag drückend schwül, und der Schweiß ließ ihre Bluse widerlich an der Haut kleben. Als sie auf die Klingel an der Gartentür drückte und der Onkel aus dem Haus kam, erklärte sie ihm stotternd, wer sie war. Er breitete die Arme aus, ließ sie aber gleich wieder erschrocken sinken, als überfalle ihn Angst davor, sie an sich zu drücken.

Der Onkel war ein kleiner, drahtiger Mann mit schütterem, weißem Haar. Seine mageren Wangen waren von feinen roten Äderchen durchzogen, und auf seiner Hakennase saß eine Nikkelbrille mit runden funkelnden Gläsern, die seine Augen auf seltsame Weise vergrößerten und ihnen einen ständig erstaunten Ausdruck verliehen. Er trug einen karierten Pullover und eine graue Kniehose, die in braunen Strümpfen steckte. Er führte sie in die Wohnküche, half ihr aus dem Perlonmantel, zog für sie einen Stuhl unter dem Tisch in der Sitzecke hervor, setzte sich ihr gegenüber und zündete sich eine Pfeife an. Nachdem er sich nach ihrer Mutter, seiner Schwester, und ihrer Familie erkundigt hatte, begann er von sich und seinem Leben zu erzählen, unentwegt paffend und in leisem hastigem Ton; wie jemand, der lange mit niemandem gesprochen hat. Der Onkel bewohnte allein das kleine Siedlungshaus, seit ihn seine Frau vor einigen Jahren, als er schon Mitte sechzig war, eines anderen Mannes wegen verlassen hatte, und seine Kinder lebten in der Schweiz und in Südamerika und schrieben nur selten. Nach einer Weile brach er plötzlich mitten im Erzählen ab, und nach einem Moment verlegenen Schweigens stand er auf und ging mit ihr hinaus, um ihr den großen Garten vor dem Haus zu zeigen. Sie gingen im Regen über die glitschigen Wege zwischen den Gemüsebeeten und Obstbäumen, und er pflückte ihr, als wolle er ihr damit seine Freude über ihren Besuch zeigen, ein paar große Erdbeeren, die sie, obwohl sie Erdbeeren nicht ausstehen konnte, in den Mund steckte und kaute, um ihn nicht zu verletzen. Danach war ihr Mund voll Sand, den sie verstohlen hinunterschluckte. Er führte sie in den kleinen Anbau, in dem er eine Ziege und ein paar Kaninchen hielt, für die er, wie er stolz berichtete, auf Ausstellungen eines Kleintierzuchtvereins schon öfter Preise gewonnen hatte. Er erzählte ihr, daß er Haus, Garten und Stall selbst in Ordnung hielt – um etwas zu tun zu haben, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das ihr herzzerreißend traurig erschien.

Sie gingen in die Wohnküche zurück, und er band sich eine Schürze um und briet für sie zum Mittagessen auf dem Herd zwei kleine Schnitzel, wobei er pausenlos von sich und seinem Leben und den Schicksalen aller möglichen Verwandter sprach, die sie fast alle nicht kannte. Sie sah ihm zu, wie er einen Salat aus in Scheiben geschnittenen Tomaten und kleingehackten Paprikaschoten und Zwiebeln bereitete und Essig, Öl und Salz hinzutat, und dann setzten sie sich an den Tisch und aßen. Sie lobte seine Kochkunst, was ihn so freute, daß die roten Äderchen in seinem Gesicht noch roter anliefen. Als sie fertig waren, entschuldigte er sich, erklärte, er käme gleich wieder und kam aus einer Konditorei um die Ecke mit einer großen Platte, auf der sechs oder sieben Tortenstücke lagen, und einer riesigen Schüssel voll Schlagsahne zurück. Er kochte Kaffee, und während sie ihn tranken, zeigte er ihr umständlich Fotos der Verwandten, von denen er ihr erzählt hatte und die sie nicht kannte. Sie mochte Süßes nicht, sondern viel lieber Scharfes und Saures wie Würstchen mit viel Senf oder Essiggurken, aber obwohl das Ganze – Buttercremetorte mit Schlagsahne – schrecklich süß und fett war, stopfte sie die Torte ihm zu Gefallen in sich hinein. Sie brachte es aber fertig, ein zweites Stück abzulehnen. Er blickte durch seine Nickelbrille ratlos auf die liegengebliebenen Tortenstücke und den Berg Schlagsahne, überlegte eine Weile schweigend vor sich hinstarrend und stand dann auf und ging zu einem Schrank, aus dem er etwas merkwürdig Geformtes, metallisch Glänzendes nahm. Sie wußte zuerst nicht, was es war; dann erkannte sie darin eine Posaune. Er stellte einen Stuhl in die Mitte der Wohnküche, stieg darauf, räusperte sich und begann auf der Posaune zu spielen. Wenn ihm ein Ton mißriet, schüttelte er ärgerlich den Kopf und begann wieder mit dem Stück von vorn. Er spielte »Da ging der liebe Herrgott durch den Wald« und »Der fröhliche Landmann« und schließlich, nachdem er seinen Pullover ausgezogen hatte, »La Paloma«. Über die Fensterscheiben rannen Regentropfen wie große Tränen, und die nassen Geranien davor ließen die Köpfe hängen. Sie fühlte eine unsägliche Traurigkeit in sich aufsteigen, denn der Onkel war noch viel einsamer als sie, doch für ihn würde es nie mehr etwas anderes geben als seine Kaninchen und seine Posaune, und als er die Posaune sinken ließ, von dem Stuhl stieg, von einem Regal über der Sitzecke eine Balaleika nahm, sich zu ihr an den Tisch setzte und russische Volksweisen zu klimpern begann, wobei er ihr mit leiser, monotoner Stimme erklärte, er habe das Instrument vor vielen Jahren in sibirischer Gefangenschaft spielen gelernt, hielt sie es nicht länger aus.

Sie sprang auf, rannte ohne ein Wort aus dem Zimmer, ließ ihren Mantel hängen und lief durch den prasselnden Regen die steile Straße hinunter zum Bahnhof. Die Tränen, die aus ihren graugrünen Augen über ihr Gesicht liefen, vermischten sich mit den Tropfen auf ihren Wangen, ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar war strähnig von dem Regen, und das Schluchzen, das aus ihr hervorbrach, schüttelte ihren ganzen Körper. Später im Zug – ihr war übel von der fetten Torte, und sie mußte während der ganzen Fahrt stehen – tat sie etwas, was sie nicht getan hatte, seit sie zehn oder elf Jahre alt war: Sie steckte einen Finger nach dem andern in den Mund und kaute ihre Nägel bis zu den Kuppen ab.

Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers

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