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Bericht aus einer Totenkammer

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In klaren Sommernächten stand er auf dem Balkon und hielt, eine Zigarette nach der andern rauchend, stumme Zwiesprache mit dem Mond, seinem alten Feind, der mit kaltem blauweißem Gesicht auf ihn niedergrinste. In den Häusern um ihn war nur noch hinter wenigen Fenstern Licht, und eins nach dem andern verlöschte; er kannte die Menschen dahinter und ihre Gewohnheiten aus diesen Nächten und wußte, wann jeder zu Bett ging. Manchmal trat jemand an ein Fenster und zog, weil er sich von ihm beobachtet fühlte, den Vorhang zu. Dann stieg Haß in ihm auf, weil er sich abgelehnt und ausgeschlossen fühlte. Die Namen der Sternbilder, die Woche für Woche ein Stück am Himmel weiterrückten, hatte er vergessen; als Kind hatte sie ihm sein Vater oft erklärt, vielleicht deshalb. Nur einen kannte er noch: Kassiopeia. Er wußte nicht mehr, zu welchem Sternbild er gehörte, aber der Name hatte einen schönen, tröstlichen Klang, den er mit hinüber nahm in seinen unruhigen, seichten Schlaf. Wenn er im Morgengrauen die Balkontür schloß, weil er das Gezwitscher der Vögel nicht ertrug, hing der Mond im Westen, nun gesichtlos, im Dunst über den Hausdächern, ein roter Inkamond, blutüberströmt und bedrohlich.

Die Menschen, die unten an seinem Haus vorbeigingen, hatten fast alle die Gesichter von Menschen, die ihm in seinem früheren Leben begegnet waren – meist Menschen, die kaum Bedeutung für ihn gehabt hatten und an die er in all den Jahren dazwischen nie gedacht hatte: der Schlosser einer Autowerkstatt, der seinen ersten Wagen repariert hatte, der Bademeister, der ihm als Jungen das Schwimmen beibrachte, die Verkäuferin eines Zigarettengeschäfts in der Kleinstadt, in der er vor vielen Jahren gelebt hatte, der Bruder der Frau, die ihn verlassen hatte. Er versuchte dem Grund dieser seltsamen Ähnlichkeiten auf die Spur zu kommen, doch es gelang ihm nicht. Manchmal sah er ein Gesicht, das ihm von früher bekannt war, doch ihm fiel nicht ein, wem es gehört hatte. Wenn er darüber nachgrübelte, schoben sich andere vertraute Gesichter aus der Vergangenheit davor, deren Träger ihm auch entfallen waren, vermischten sich, löschten einander aus, und er fand lange keine Ruhe.

Am frühen Morgen flatterten dicke blaugraue Tauben auf das Balkongeländer, ließen sich mit einem fetten, plumpsenden Geräusch, das ihr Gewicht verriet, darauf nieder und verfielen in ein dumpfes endloses Gurren: Ratten der Luft nannte er sie. Sie entleerten ihren Kot, und die widerliche weiße Schicht auf dem Balkonboden, die Regen nicht wegschwemmte, wurde immer dicker, doch er brachte es nicht über sich, sie abzukratzen. Einmal lag morgens auf dem Rasen vor seinem Fenster eine tote Taube mit in die Höhe gestreckten rotgeschuppten Beinen, und er mußte immer wieder ans Fenster treten und sie mit Entsetzen betrachten, bis er sich überwand, den Hausmeister zu bitten, sie zu entfernen. Das Trinkgeld, das er ihm gab, war viel zu hoch. Mit Bangen dachte er an den letzten Winter, in dem monatelang jeden Tag krächzend und kreischend riesige Schwärme von Krähen über den Himmel gezogen waren: frühmorgens der aufgehenden Sonne entgegen nach Osten, abends mit der untergehenden Sonne nach Westen. Er konnte sich nicht entsinnen, dieses Phänomen schon früher in seinem Leben einmal beobachtet zu haben; er fragte sich, woher die Krähen kamen und wohin sie flogen, wo sie die Nacht verbrachten und wo den Tag und warum man im Sommer keine Krähen sah, und es machte ihm große Angst, daß er keine Antwort darauf fand. An einem trüben Wintermorgen hörte das schon gewohnte Krächzen der Krähen nicht auf, und als er aufstand und ans Fenster trat, sah er, daß sich ein riesiger Schwarm über seinem Haus versammelt hatte: Hunderte schwarzer Vögel bedeckten den grauen Himmel, flatterten kreischend über ihm im Kreis, bildeten wirbelnde Strudel. Erst als sie endlich weiterzogen, ging er wieder zu Bett. Er konnte nicht mehr einschlafen und war sicher, an diesem Tag sterben zu müssen.

Er konnte seine Wohnung, außer zu den lebensnotwendigen Einkäufen in den umliegenden Geschäften, von denen er jedes Mal nicht zurückzukehren fürchtete, seit zwei Jahren nicht verlassen: aus Angst, auf der Straße tot umzufallen, und aus Angst vor dieser Angst. Die Stunden, in denen er allein in seiner Wohnung auf der Couch lag, summierten sich zu Tausenden und Tausenden, und in diesen Stunden bevölkerte er, weil das Alleinsein wie ein schwarzer Schlund war, in den er immer tiefer zu stürzen drohte, seinen Kopf mit Namen – zahllosen Namen: von Filmschauspielern, von Markenartikeln, Buchtitel, Firmennamen, Namen von Menschen, die er gekannt hatte. Er gruppierte die Namen in seinem Kopf zu dritt oder zu fünft oder zu sechst und sagte sie in den Stunden auf seiner Couch unausgesetzt hintereinander auf. Fiel ihm ein Name nicht ein, dann ergriff ihn Todesangst, und er lag Stunden schweißüberströmt in Panik und grübelte darüber nach, wobei Horden anderer Namen über ihn herfielen und völlig von ihm Besitz ergriffen. Jeder neue Name, der hinzukam, drohte ihn zu vernichten – ein weiterer Grund, die Straße zu meiden, denn von überall her stürzten sich dort Namen auf ihn: von vorüberfahrenden Lastwagen, von Firmentafeln, von Plakaten, Straßenschildern. Er aß seit langem nur gebratenes Fleisch und Obst, denn Konserven, Nahrungsmittel, Tiefkühlkost konnte er sich nicht kaufen, weil auf jeder Packung oder Dose ein Name stand, den er sich merken mußte, ein neuer Name, der zu Hunderten von Namen in seinem Kopf hinzukam, den er mit anderen neuen Namen in Gruppen von fünf oder sechs immer wieder memorieren mußte, der ihn, fiel er ihm nicht ein, in Todesqualen versinken ließ. Er konnte seit zwei Jahren nicht lesen, nicht fernsehen, nicht arbeiten, denn in jedem Fernsehspiel, in jedem Zeitungsartikel, in jedem Buch gab es Namen – neue Namen von Schauspielern, von Politikern, von Orten und Ländern. Irgendwo, aus Gesprächen von Leuten in Geschäften oder auf der Straße, denen er nicht ausweichen konnte, hatte er aufgeschnappt, daß es seit vorigem Jahr in Amerika einen neuen Präsidenten gab und daß die SPD die letzten Wahlen wieder gewonnen hatte, doch er wußte nicht, wer der neue Präsident war oder wie er hieß und ob die Minister der SPD noch die gleichen waren wie vor zwei Jahren, als er noch Zeitung lesen konnte. Er hätte es brennend gern erfahren, wie alles andere, was inzwischen auf der Welt geschehen und nicht zu ihm gedrungen war, und zugleich fürchtete er maßlos, auf irgendeine Weise Kenntnis davon zu erlangen, denn es würde für ihn neue Namen bedeuten. Manchmal dachte er, daß das Aufsagen der Namen eine Ersatzreligion war, zur Abwehr der Angst, ähnlich dem Beten eines Rosenkranzes. Seine Ängste versammelten sich zu einer neuen Angst: daß die Namen seinen Verstand zerfressen würden, und er fand immer neue Anzeichen dafür, daß sie es bereits taten. Elektrischer Strom war ihm ein unlösbares Rätsel, ihm fiel nicht die Hauptstadt von Kolumbien ein, und er fragte sich, ob er auch früher schon nicht gewußt hatte, wie ein Telefon funktionierte, und ob auch andere Menschen mit durchschnittlicher Bildung so etwas nicht wußten. Daß die Entstehung von Äpfeln und Kirschen mit Blütenstaub und Bienen zu tun hatte, war ihm noch in Erinnerung, doch wie pflanzten sich Mohrrüben fort, bei denen es doch – wenn er sich richtig entsann – keine Blüten gab? Ein Mechaniker, dem die Reparatur eines Fernsehapparates gelingen konnte, erschien ihm als Genie, und wie merkte sich ein Kellner, oft ein Mensch ohne sonderliche Verstandesgaben, was jeder einzelne Gast bestellt und verzehrt hatte; woher nahm er immer wieder das passende Kleingeld zum Herausgeben? In ihm wuchs eine weitere Angst: er werde den Rest seines Lebens im riesigen Schlafsaal eines Irrenhauses, in grauer Anstaltskleidung, betäubt von Medikamenten, welche die Angst, aber auch jedes Gefühl und jede Phantasie zudeckten, dahindämmern müssen, zwischen Schizophrenen und Manikern. Sein Psychotherapeut, ein bärtiger kleiner Mann mit flinken Bewegungen und klugen, guten Augen, für ihn manchmal ein Pan und manchmal ein Sokrates, dem alles klar zu sein schien, was auf der Welt und zwischen den Menschen vor sich ging, und noch einiges mehr – er fuhr zweimal in der Woche mit dem Taxi zu ihm, mit gesenktem Kopf, damit sein Blick nicht auf Straßenschilder und Autoaufschriften und Reklametafeln fiel – hatte ihm gesagt, dies sei sein unbewußter Wunsch, denn was man fürchte, wolle man: eine ungeheure Selbstbestrafung – wofür, müsse man herausfinden. In der Nacht danach war ihm seine erste Kindheitserinnerung eingefallen: Er lag, mit zwei oder drei Jahren, in seinem Gitterbett – welch schreckliche Assoziation: Gitterbett – und sah an der Wand – er wußte nicht, ob es ein Tapetenmuster war oder Phantasie – einen weißbärtigen, seinem Großvater ähnelnden Petrus, der kleine nackte Engel übers Knie legte und verprügelte, und er hatte dabei ein angenehmes Gefühl empfunden.

In der Garage, deren Miete unnütz sein Budget belastete, stand seit zwei Jahren sein Wagen: auf dem Tachometer die Kilometerzahl seiner letzten Fahrt, die Reifen ohne Luft. Den Boden der Garage bedeckte eine glitschige Schicht ausgetropften Öls, das bei seinem ersten und einzigen Besuch vor mehreren Monaten an seinen Schuhsohlen haften geblieben war, was er erst bemerkt hatte, als er die Flecken auf dem Teppich seiner Wohnung sah. Er sperrte die Tür des Wagens auf, setzte sich hinter das Lenkrad und strich mit der Hand über den geflochtenen Bezug. Plötzlich packte ihn Angst, er könne ersticken in dem kleinen, engen Raum, doch er kurbelte das Fenster herunter und hielt der Angst stand, und im gleichen Moment hörte er, daß die elektrische Uhr im Armaturenbrett tickte. Er schaltete die Scheinwerfer ein, und ihr gleißendes Licht fiel auf die weißgetünchte Wand der Garage. Daß die Batterie des Wagens zwei Winter überstanden hatte, ließ eine, wie ihm schien, unsinnige Hoffnung in ihm aufsteigen, doch er hatte es in der Zeit seither nicht über sich gebracht nachzusehen, ob sie immer noch intakt war.

Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers

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