Читать книгу Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers - Helmut Degner - Страница 15
Goldene Schuhe
Оглавление»Hilf mir«, sagte Carla, als sie ihn anrief: »Bitte, hilf mir, Helmut, ich habe wieder getrunken. Mir ist so schlecht, es war nur ein dreiviertel Liter, aber am liebsten möchte ich mich hinlegen und sterben, so schlecht ist mir. Es ist schon am Morgen immer so furchtbar, wenn ich aufstehe und in die Küche gehe und die Kaffeemaschine einschalte, und die Wohnung ist leer und kein Mensch da, und geregnet hat es heute morgen auch noch. Wie ich dann am Vormittag zum Fleischer gegangen bin, um mir mein Kotelett zu holen, hab ich mir automatisch im Lebensmittelladen nebenan eine Flasche Rotwein gekauft, und wie ich zurückgekommen bin in die leere Wohnung, hab ich gleich einen Viertelliter getrunken. Ich denke immer, es hilft, und die Kopfschmerzen werden auch ein bißchen besser davon, aber dann kommt diese schreckliche Übelkeit, und alles ist viel schlimmer, als wenn ich nichts getrunken hab, aber das nützt nichts, ich tu’s immer wieder. Jetzt bin ich schon neunmal in der Nervenklinik gewesen, und die Depressionen gehen von den Tabletten auch immer wieder weg und ich schaff’s wieder für ein Jahr, aber dann geht alles wieder von vorn los. Mittags wollte mein Sohn zum Essen kommen, aber wie er um halb zwei immer noch nicht da war, hab ich Viktor in seiner Firma angerufen, und er hat gesagt, mein Gott, Mammi, ich hab’s verschwitzt, aber ich komm ganz bestimmt übermorgen. Nachdem ich aufgelegt hatte, hab ich gleich noch einen viertel Liter getrunken und mich dann hingesetzt und ihm einen Brief geschrieben, er soll mir die 50 Mark zurückgeben, die ich ihm vor zwei Wochen geliehen hab, ganz abgesehen von den 3000, die ich ihm voriges Jahr geborgt hab, wie er sich seinen neuen BMW gekauft hat. Ich muß jetzt wirklich ganz energisch einen Schlußstrich ziehen bei den Kindern, anscheinend bin ich für sie nur ein lästiges Anhängsel, und sie sind bloß nett, wenn sie was von einem brauchen. Übrigens hab ich seit gestern wieder diese Nierenschmerzen; es wird doch um Gottes willen hoffentlich nicht diese Nieren-Tb sein, die ist doch vor vier Jahren mit Medikamenten ausgeheilt worden. In der Nervenklinik haben sie mir mal gesagt, die Depressionen können von den vielen Tuberkulostatika kommen, aber das kann ich nicht glauben, nach so langer Zeit. Mein Gott, mir graut schon jetzt vor heute abend, da sitz ich wieder vor der Röhre, und ich glaub, heute ist nicht mal ein anständiges Programm, aber ich kann mich sowieso nicht darauf konzentrieren, und oft sitz ich noch und merk gar nicht, daß es schon aus ist und schau auf das Geflimmer auf dem Bildschirm. Aber es ist immer so furchtbar, zu Bett zu gehen, und das Bett neben einem ist leer, und dann kommt wieder diese entsetzliche Nacht, und ich bring’s nicht fertig, keine Schlaftabletten zu nehmen. Ich muß jetzt endlich mal das Schild von der Wohnungstür abmachen, auf dem Richards Name steht, schließlich ist er schon sieben Jahre tot. Manchmal, wenn ich mich hinlege und die Tabletten genommen hab, werde ich ganz ruhig und alles ist mir egal, und das ist fast so schön wie Sterben, aber die Tabletten wirken höchstens vier Stunden, und dann ist es drei oder vier Uhr nachts, und ich steh auf und schau aus dem Fenster, aber wenn ich die leere Straße seh, deprimiert mich das noch mehr und ich leg mich wieder ins Bett und kann nicht mehr einschlafen, und mir ist schlecht von den Schlaftabletten, und wenn ich morgens in die Küche geh und die Kaffeemaschine einschalte, geht alles wieder von vorne los. Mit Christa hab ich auch solchen Ärger, am Sonntag vor zwei Wochen war ich bei ihnen draußen, die Ehe scheint nicht in Ordnung zu sein, ich glaube, er geht fremd. Wir sind dann am Nachmittag zum Tennisplatz gefahren, und Christa hat mir zum erstenmal erlaubt, ihr beim Tennisspielen zuzusehen, aber sie war so kalt und lieblos, daß ich mir gedacht hab, sie tut das ja nur, weil man seine Mutter hin und wieder mal abspeisen muß, und dann werde ich wieder für drei Wochen abgeschoben. Da möchte man sich doch am liebsten in einen Sarg legen und den Deckel von innen zumachen. Ich hab gehofft, sie werden sagen, ich soll den Abend bei ihnen verbringen und ich kann dabeisein, wenn sie Uschi zu Bett bringt, die fängt jetzt schon zu laufen an, aber dann haben sie gesagt, sie wollen abends ins Kino gehen, und ich bin mit der S-Bahn heimgefahren, sie haben mich nicht mal nach Hause gebracht. Mein Gott, wenn nur diese furchtbaren Depressionen nicht wären, ich war schon vor acht Jahren deshalb bei einem Psychotherapeuten, aber der hat gleich in der ersten Stunde gesagt, meine Mutter war bestimmt lesbisch, weil sie nie wieder geheiratet hat, und da bin ich nicht mehr hingegangen. Außerdem halt ich überhaupt nichts von diesen Seelenkramern, die haben doch selber alle einen Knall. Und wenn ich dran denke, ich soll in meinem Alter noch anfangen, das alles auszupacken, nein, mir graut davor, kommt gar nicht in Frage, deshalb bin ich ja damals auch aus der Klinik weg. Aber manchmal frag ich mich, ob das vielleicht doch alles damit zusammenhängt, daß mein Vater mich vergewaltigt hat, wie ich achtzehn gewesen bin. Er war damals doch schon fünf Jahre von meiner Mutter geschieden, und ich hatte ihn seither nicht gesehen, und wie er geschäftlich in Rom zu tun hatte und wir uns getroffen haben und zusammen mittagessen gegangen sind in seinem Hotel, hat er gesagt, ich soll mit raufkommen in sein Zimmer, er will mir Fotos zeigen, und da ist das dann passiert. Meine Mutter hat sich ja nie um mich gekümmert, schon nicht, wie ich noch klein war. Sie hat immer bis spät abends im Konsulat gearbeitet, wo sie Sekretärin war, und ich war den ganzen Tag bei der Hausmeisterfamilie und hab mit den Kindern gespielt. Jetzt muß ich mir eine Zigarette anzünden, obwohl mir dann bestimmt noch schlechter wird, und mein Arzt hat gesagt, ich soll nicht rauchen wegen dem Magengeschwür, aber darauf kommt’s auch schon nicht mehr an. Sag mal, die Leute in meinem Haus sehen mich immer so komisch an; ob die’s merken, wenn ich was getrunken hab, aber das gibt’s doch nicht, ich bin noch nie in meinem Leben betrunken gewesen, ich bin doch keine Alkoholikerin, da wären ja alle Franzosen Alkoholiker, die trinken doch schon zu jeder Mahlzeit einen halben Liter. Mein Gott, jetzt seh ich gerade, es ist schon halb sieben, und um halb sieben ruf ich jeden Mittwoch Mario an, ich muß Schluß machen, bist mir nicht böse, nein? Du lieber Himmel, dieser Mario, wie das werden soll, weiß ich auch nicht. Er ist doch dreizehn Jahre jünger als ich, diese komischen dreizehn Jahre, mein Vater war auch dreizehn Jahre jünger als meine Mutter, was das doch für merkwürdige Zufälle sind im Leben. Das mit Mario hat schon angefangen, wie Richard noch gelebt hat, vor achtzehn Jahren, und wie Richard dann starb, war er der einzige, den ich hatte, und so ist das dann immer weitergegangen. Wir können uns nur alle paar Monate sehen, aber ich kann doch nicht wegen Mario nach Turin ziehen, ich mach mich ja lächerlich in meinem Alter, und wenn er eine Jüngere kennenlernt, und manchmal glaub ich, er hat schon eine, dann sitz ich allein in Turin. Übrigens, um auf Richard zurückzukommen, er war doch Architekt und hat Tankstellen und Schwimmbäder gebaut, und ich hab ihn die ganzen Jahre gequält und ihm zugesetzt, er hätte keinen Ehrgeiz, und warum er keine Wohnanlagen und Hotels und Kinos baut; ich mach mir heute solche Vorwürfe, daß ich ihn damit ins Grab gebracht hab. Er ist an einem Darmverschluß gestorben, und ich weiß noch, wie sie aus dem Krankenhaus angerufen haben und Viktor ist ans Telefon gegangen und hat geschrien: Nein, nein, da hab ich gleich gewußt, was passiert ist. Ich wollte den Ärzten damals einen Prozeß anhängen, aber die Kinder haben mich davon abgebracht, hätte ja auch keinen Zweck gehabt. Aber stell dir vor, dieser Mario: bevor ich vorigen Freitag nach Turin gefahren bin, hat er mich am Donnerstagabend extra nochmal angerufen und gesagt, ich soll meine goldenen Schuhe mitbringen, die hat er so gern an mir. Das ist doch ein ungeheures Kompliment für mich, aber die Italiener sind ja Beinfetischisten, le gambe, le gambe, sagen sie immer, und ich mußte dann die ganzen zwei Tage diese goldenen Schuhe anhaben, auch im Bett, es sind geflochtene Sandaletten mit dünnen goldenen Schnüren, und irgendwie ist mir das auch peinlich gewesen, aber es war doch ganz süß, wie er das am Telefon gesagt hat, und irgendwie hält mich sowas immer wieder aufrecht. Aber ich muß jetzt wirklich Schluß machen, tschüs dann also, tschau, bis morgen.«