Читать книгу Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers - Helmut Degner - Страница 14
Schreiben, leben …
ОглавлениеEr hatte nach einer langen Zeit, die er in einem Zustand verbrachte, der schlimmer war als Totsein, wieder begonnen zu schreiben. Mit Anfang zwanzig, vor fünfundzwanzig Jahren, hatte er ein paar Geschichten geschrieben, und einige Leute, die etwas davon verstanden, hatten ihn wohlwollend einen vielversprechenden jungen Autor genannt, doch dann hatte er geheiratet und keine einzige Zeile mehr geschrieben, sondern nur Bücher anderer Schriftsteller aus einer fremden Sprache übersetzt, und ihm war jetzt, während einer psychotherapeutischen Behandlung, klar geworden, daß er seither auch nicht gelebt hatte, sondern nur übersetzt, was andere geschrieben hatten, und ferngesehen. Nun hatte er in einem Monat zehn Geschichten geschrieben; an manchen Tagen saß er von vormittags bis ein oder zwei Uhr nachts und schrieb, und manchmal wurde ihm dieses Schreiben unheimlich, und er bekam Angst davor. In den fünfundzwanzig Jahren, in denen er nichts schrieb, hatte er sich, wenn er daran dachte, daß er einmal ein vielversprechender junger Autor gewesen war, darauf hinausgeredet, er könne ja nicht schreiben, weil er nichts erlebe, doch seit er wieder begonnen hatte, sich dem Leben und den Menschen zuzuwenden, wurde er überschwemmt von einer Flut von Problemen und Verwicklungen, eigenen und fremden, von eigenen Erlebnissen und von Schicksalen anderer Menschen, die sich in seinem Kopf zu Geschichten zusammenspannen, nein, die schon Geschichten waren und die er nur aufzuschreiben brauchte, die er, wurde ihm immer klarer, aufschreiben mußte, um mit ihnen und mit sich selbst und seinem Leben fertig zu werden. Viele Monate hatte er den ganzen Tag auf der Couch gelegen, unfähig, irgend etwas zu tun und ohne Kontakt mit irgendeinem Menschen außer seinem Psychotherapeuten; er war alle zwei Stunden aufgestanden, um eine Zigarette zu rauchen oder um nachmittags seine Wohnung sauberzumachen und das Geschirr abzuspülen, was ihn, wenn er Glück hatte, eine Stunde beschäftigte, und um sich etwas zu essen zu machen, das er appetitlos hinunterschlang, denn weil er nichts tat, hatte er keinen Hunger, und dann hatte er sich wieder auf die Couch gelegt, und er hatte nachts nicht schlafen können, weil er ja bei dem vielen Liegen nicht müde wurde, und sein Bauch war dabei, weil er nur lag und aß und seine Wohnung saubermachte, immer dicker geworden. In diesen Tausenden Stunden auf der Couch, das Gesicht zur Wand und der Welt den Rücken zugekehrt, war sein ganzes Leben noch einmal an ihm vorbeigezogen, nein, er hatte, was er erlebt hatte, noch einmal erlebt, aber verbunden mit unerträglich starken Gefühlen, auch Dinge, die ihm früher gar nichts ausgemacht hatten, wenn er daran dachte oder sie in den vierzehn Jahren seiner Psychoanalyse immer wieder seinen sechs oder sieben früheren Psychotherapeuten erzählte; Gefühlen, die ihn umgeworfen hätten, wenn er nicht schon gelegen hätte, und er hatte alles, was er in seinem Kopf noch einmal erlebte, wieder seinem jetzigen Therapeuten erzählt, und schließlich war ihm bewußt geworden, daß er diese Zeit mit sich allein auf der Couch, dieses völlige Zurückgeworfensein auf sich selbst, gebraucht hatte, um sich klar zu werden über sich und das, was das Leben aus ihm gemacht hatte.
Er hatte gemerkt, daß er immer öfter mit dem Rücken zur Wand und dem Gesicht zum Zimmer und zur Welt lag – vorher hatte er, wenn er das tat, unerträgliches Sodbrennen und Magenschmerzen gekriegt, und dann – nicht früher – waren die ersten Anrufe gekommen, Anrufe von Menschen, mit denen er in der psychotherapeutischen Klinik zusammen gewesen war, in der er fast eineinhalb Jahre verbracht hatte. Zuerst hatte er gedacht, um Gottes willen, ich kann das nicht, was wollen diese Menschen von mir, was habe ich mit ihnen zu reden, und wenn er mit ihnen sprach, weil er nicht einfach den Hörer auflegen konnte, hatte er Herzklopfen und Magenschmerzen und Sodbrennen bekommen, doch dann hatte er begonnen, von sich aus Menschen anzurufen, alles Menschen, die er aus der Klinik kannte und mit denen er über seine Probleme reden konnte, weil sie ja davon wußten und selbst ähnliche hatten, was die Vermutung in ihm aufsteigen ließ, man könne nur Umgang mit Menschen haben, deren Leben so gewesen war, daß sie psychotherapeutische Kliniken und Sitzungen bei Psychotherapeuten und Therapiegruppen mit andern Menschen brauchten, um damit fertig zu werden. Was da vor sich ging, hatte er gemerkt, wenn er seine Telefonrechnungen bekam. Im ersten Monat nach der Klinik hatten acht Gespräche darauf gestanden, denn er hatte nur telefoniert, um Taxis zu bestellen, mit denen er zweimal in der Woche zu seinem Psychotherapeuten fuhr – mit Taxis deshalb, weil er aus Gründen, die mit seiner Krankheit zusammenhingen oder mit dem, was er als seine Krankheit ansah, nicht mit der Straßenbahn fahren und seine Wohnung nur zu den notwendigsten Besorgungen in der nächsten Umgebung verlassen konnte –, und im dritten Monat waren es siebenunddreißig Gespräche gewesen und im fünften neunundsechzig.
Die Menschen, mit denen er telefonierte, hatten ihn besucht, und aus den Gesprächen, die er mit ihnen hatte, zuerst stockend und schwitzend und unter Anfällen von Übelkeit, waren Beziehungen geworden, die ihn hoffen ließen, diese Menschen könnten seine Freunde werden; die ersten wirklichen, war ihm zu seinem Schrecken bewußt geworden, die er in seinem Leben haben würde: George, ein bei Film und Fernsehen viel beschäftigter Regisseur; Carla, eine Frau, die einige Jahre älter war als er; Christine, eine verheiratete junge Frau, mit der er nur telefonieren konnte, weil sie in einer andern Stadt lebte; Iris, ein Mädchen, das er aber vorläufig privat nicht mehr sehen durfte, weil es in die gleiche Therapiegruppe wie er gekommen war; und Marion, ein Mädchen mit graugrünen Augen und schulterlangem kastanienbraunem Haar. Als er mit ihnen sprach und ihnen zuhörte, erkannte er immer mehr, daß das, was sie von ihrem Leben erzählten und was er erlebte, Geschichten waren; Geschichten, die er nur aufzuschreiben brauchte, wie er sie gehört hatte, und er begann das zu tun, mit Herzklopfen und Magenschmerzen und Sodbrennen, wie unter einem unerklärlichen Zwang; zuerst in Abständen von einigen Tagen, dann jeden Tag, und an einem Tag hatte er von elf Uhr vormittags bis elf Uhr abends geschrieben und sich dann hingelegt, doch nach einer halben Stunde mußte er aufstehen, weil ihm wieder eine Geschichte durch den Kopf ging, die er aufschreiben mußte, denn er mußte das sofort tun und sie zu Ende schreiben, weil die Geschichte sonst immer weiter in ihm umging und ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, und er schrieb bis zwei Uhr morgens und konnte danach die ganze Nacht nicht schlafen, denn in ihm spann sich schon zusammen, was er am nächsten Tag schreiben würde; und sein Zigarettenkonsum wurde immer größer. Er hatte immer gedacht, was er erlebte und hörte, von menschlichen Problemen und Schicksalen und Verwicklungen, gebe es nur in Theaterstücken und Romanen, in Romanen von Fontane und Günter Grass und in Stücken von Tennessee Williams und Strindberg und Arthur Miller, doch nun baute sich das, was er bisher nur im Theater und im Fernsehen gesehen und in Romanen gelesen hatte, um ihn selbst herum in seinem eigenen Leben auf, und viel Ionesco und Beckett war auch dabei. Ihn überkam Angst, daß dieser Zwang, alles aufschreiben zu müssen, völlig von ihm Besitz ergreifen könnte; aber so konnte man nicht leben; man konnte nicht von morgens bis abends und halbe Nächte lang Geschichten schreiben, und in ihm wuchs die Furcht, die Geschichten und sein Leben könnten sich vermischen zu einem unentwirrbaren Geflecht, so daß er nicht mehr würde unterscheiden können, was Leben und was eine Geschichte war, und vielleicht war es so, daß alles, was er in seinem Leben erlebt und von andern Leben gehört hatte, wie durch einen Filter durch ihn hindurchgegangen war und nun aus ihm hervorsprudelte in einer letzten Aufbäumung seines Geistes, und eines Tages würde es versiegen, und er würde leer sein und nicht mehr schreiben und nicht mehr leben können und in Wahnsinn fallen oder sterben. Er mochte kein Balzac sein und sein restliches Leben schreibend an seinem Schreibtisch verbringen, und manchmal sehnte er sich zurück nach den Stunden auf der Couch, das Gesicht zur Wand und der Welt den Rücken zugekehrt, aber er ertrug es jetzt nicht mehr, sich bei Tag hinzulegen, und für die Wohnung würde er sich eine Putzfrau nehmen müssen, denn er kam nicht mehr dazu, sie sauberzumachen.
Etwas anderes war, daß man vom Schreiben von Geschichten nicht leben konnte: die Süddeutsche, der er zwei seiner Geschichten schickte, hatte sie ihm nach einer Woche zurückgesandt, mit einem Vordruck, in dem stand, man sei nicht in der Lage, die Ablehnung zu begründen und die eingeschickten Geschichten zu beurteilen, und bedaure, sie in dieser unpersönlichen Form zurückgeben zu müssen. Er war ziemlich enttäuscht gewesen, doch er nahm an, daß die Geschichten in der Redaktion, in der er niemanden kannte, gar nicht gelesen worden waren, vor allem, weil das Ganze nur eine Woche gedauert hatte, und er wußte aus seinen früheren Erfahrungen, daß Redakteure nicht so schnell dazu kamen, eingesandte Geschichten zu lesen; oder es hatte sie nur ein Volontär gelesen, der natürlich das, was er da zu Papier gebracht hatte, überhaupt nicht einschätzen konnte. Er konnte sich aber auch nicht vorstellen, wieder Bücher zu übersetzen, denn er hatte das Gefühl, das war etwas, das dazu beigetragen hatte, ihn dahin zu bringen, wohin er in seinem Leben gekommen war: in die Haut eines andern Schriftstellers zu schlüpfen, manchmal für viele Monate, und in seiner eigenen Sprache nur wiederzugeben, was jener erlebt und in seiner Sprache geschrieben hatte, denn es hatte mit ihm selbst und seinem Leben nichts zu tun, und manchmal war es schlecht und interessierte ihn überhaupt nicht, doch er mußte sich monatelang damit herumschlagen, jeden Tag von morgens bis abends, ohne zu seinem eigenen Leben zu kommen und nun dazu, darüber zu schreiben.
Das war ein Problem, für das er keine Lösung sah und das ihn schon in der Klinik beunruhigt hatte: Auf seinem Bankkonto lag noch eine nicht mehr sehr hohe Summe erspartes Geld, und er wußte nicht, wann er durch Übersetzen oder durch das, was er jetzt selbst schrieb, neues Geld dazuverdienen würde, um weiter leben zu können; das Ganze wuchs sich zu einem furchtbaren Wettlauf zwischen seiner Therapie und dem aus, was er seine Krankheit nannte, und eines Tages würde das Geld zu Ende sein, und er würde seine Therapie nicht mehr bezahlen können und nicht seine Wohnung und seine Krankenkasse und seine Zigaretten und die Rechnung für das Telefon, das ihn mit einigen andern Menschen verband, und die Rechnung für das Licht, das er zum Schreiben brauchte. Manchmal sah er sich: nachts auf einem Eisenbett im städtischen Männerasyl zwischen Wermutbrüdern und Pennern, neben sich einen Plastikkoffer mit Unterwäsche und Seife und Zahnbürste und mit den Manuskripten der Geschichten, die er über sein Leben und das Leben anderer Menschen zu schreiben begonnen hatte; und tagsüber in der Großmarkthalle, Obstkisten schleppend. Auf schreckliche Weise Nahrung hatte diese Vorstellung bekommen, als er noch in der Klinik war. Die Angst vor dem Männerasyl war damals schon in ihm gewesen, und an einem Sonntag hatten er und die andern Patienten den Tierpark besucht. Er hatte den Namen der Straße gewußt, in der sich das Männerasyl befand, doch er hatte keine Ahnung gehabt, wo diese Straße war und war noch nie dort gewesen, und dann hatte der Fahrer des Autobusses, mit dem sie zum Tierpark fuhren, vor einer Haltestelle über den Lautsprecher den Namen dieser Straße ausgerufen. Ein eisiger Schreck hatte ihn durchzuckt, und er hatte den Kopf gesenkt und starr zu Boden geblickt, damit er das Haus nicht sah. Die Straße war sehr lang, und dann hob er plötzlich, wie unter einem Zwang, den Kopf und schaute aus dem Fenster, und da fiel sein Blick auf ein großes Ziegelhaus, auf dem Städtisches Männerasyl stand und vor dem ein paar alte unrasierte Männer in abgewetzten Anzügen herumlungerten. Daß so etwas geschehen konnte, hatte eine unheimliche Vermutung verstärkt, die schon lange in ihm war: daß doch eine höhere Macht, die immer unbegreifbar bleiben würde, das Leben der Menschen lenkte, und das seine auf ganz besonders entsetzliche Weise, und er hatte während des ganzen Nachmittags im Zoo, zwischen Gazellen und Schimpansen und Pinguinen, an nichts anderes denken können.
Aber das war schon wieder eine Geschichte, die er nun aufgeschrieben hatte, und er wußte nicht, wie das weitergehen würde. Sein ganzes Leben und das Leben der Menschen, die er kannte, verwob sich zu einem Geflecht von Geschichten, die ineinander verwickelt und verzahnt waren, die er schreiben mußte, um dieses seltsame halbe Leben, das er führte, zwischen seinem Schreibtisch und dem Telefon, zwischen seiner Couch und der Praxis seines Psychotherapeuten weiterführen zu können. Diese Geschichten schienen zusammenzuwachsen zu einem ungeheuren Roman, an dem er bis ans Ende seines Lebens schreiben würde: Er würde schreibend leben und lebend schreiben, und er fürchtete, wenn er nicht schrieb, würde er nicht leben können; und er würde nicht schreiben können, ohne zu leben. Einen Roman würde er aber nie schreiben können; das war etwas, wovor er immer Angst gehabt hatte, schon damals, als er ein vielversprechender junger Autor war und Leute, die etwas davon verstanden, ihm gesagt hatten, er solle es tun: Er fürchtete sich davor, sich immer tiefer hineinzuschreiben in dieses schreckliche und schöne Gewebe, welches das Leben war und von dem er bis jetzt nichts gewußt hatte, und nicht mehr dazu zu kommen, selbst zu leben; da war es ihm noch lieber, zu übersetzen, hineinzukriechen in das, was andere gelebt und geschrieben hatten. Doch sein Gefühl wurde immer stärker, daß seine Geschichten sich schon zusammenfügten zu einem Roman, ohne daß er etwas dazu tat, daß er – und seine Angst wuchs – mitten darin war und ihn schon schrieb. Vielleicht würde er ihn schreiben müssen, um frei zu werden und weiter leben und schreiben zu können. Ihm war, als sei er schon freier geworden, seit er schrieb, und vor ein paar Tagen war er am Abend auf seinen Balkon getreten, als die Sonne unterging, mitten hinein in einen Mückenschwarm, der flirrend seinen Kopf umschwirrte, und hatte in dem Mückenschwarm gestanden, plötzlich erfüllt von einem ganz und gar unvernünftigen euphorischen Gefühl, das er noch nie gehabt hatte, und dann schwirrte der Mückenschwarm über einer Wiese inmitten eines dunkelgrünen duftenden Tannenwaldes, und auf der Wiese, die übersät war mit gelben Dotterblumen und Iris und Schlüsselblumen, tanzte er, ein achtundvierzig Jahre alter Faun, bekleidet nur mit einer Unterhose und um die Stirn einen Kranz aus Gänseblümchen, Ringelreihn mit drei Elfen, die alle graugrüne Augen hatten und schulterlanges kastanienbraunes Haar, und auf einem Baumstumpf saß ein bärtiger Pan und blies auf einer Flöte, und als er ihn ansah, war es sein Psychotherapeut, der ihm aufmunternd zunickte.
Dies alles schien das Leben zu sein, das Männerasyl und die Waldwiese, und anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als doch noch anzufangen zu leben; demnächst.