Читать книгу Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers - Helmut Degner - Страница 19
Fünfzehn Jahre
ОглавлениеMit Anfang zwanzig, vor fünfundzwanzig Jahren, als einige Leute, die etwas davon verstanden, ihn einen vielversprechenden jungen Autor nannten, hatte er diese Geschichte geschrieben:
Herr Brickelmann redet nicht mehr
Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wann Herr Brickelmann mit dem Sprechen aufhörte; zumindest die genaue Stunde und der eigentliche Anlaß sind nicht bekannt, und wenn Herr Brickelmann sich nicht doch eines Tages wieder entschließt zu reden, so sieht es ganz danach aus, als würden wir es nie erfahren.
Eines Tages geschah es, ganz ohne Vorbereitung. Als Herr Brickelmann nach Büroschluß heimkam, hängte er seinen Hut an den Haken im Vorzimmer. Er tat dies wie immer, er hängte den braunen Hut, den er sommers wie winters nie auf das leicht schüttere Haupthaar zu setzen vergaß, an den für ihn bestimmten dritten Haken von links, neben die Mütze seines Sohnes Wilhelm Brickelmann, vierzehn Jahre alt, und neben das dunkelblaue Filzmodell seiner Frau Elisabeth Brickelmann, geborene Eiselstädt, die noch zwei andere ganz ähnliche Kopfbedekkungen besaß, die sich wesentlich nur durch die Farbe – schwarz und dunkelgrün – voneinander unterschieden. Gekauft waren alle diese Hüte von dem nicht übermäßig hohen, doch gerade ausreichenden Gehalt, das Herr Brickelmann für seine Tätigkeit als Kalkulant einer Exportfirma am Ersten jedes Monats nach Hause brachte. Mit dem Vornamen heißt Herr Brickelmann Albert.
Er kam also, vor beinahe drei Jahren trug sich dies zu, heim und hängte seinen Hut an den Haken. Nichts Außergewöhnliches war an der Art, wie er dies tat, und nichts, was darauf hätte schließen lassen, es wäre an jenem Tag etwas geschehen, was ihn aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. Seine Frau, sie hatte das Zuschnappen der Wohnungstür gehört, trat aus der Küche.
»Du wolltest heute die Badewanne reparieren«, sagte sie leise, aber nicht wenig vorwurfsvoll. »Seit zwei Wochen hast du es dir vorgenommen, heute ist wieder alles überschwemmt.« Sie hatte in der Hand eine Schürze, die sie Herrn Brickelmann umband, was dieser widerspruchslos geschehen ließ. Er begab sich sogleich ins Badezimmer. Zum Abendessen war er mit seiner Arbeit fertig. Er setzte sich an den Tisch, nahm die Abendzeitung vor und begann zu essen, wobei er die Zeitung gegen die Teekanne lehnte und sie jedes Mal wieder geduldig zurechtrückte, wenn Frau Brickelmann Tee nachgegossen hatte. »Ich geh ins Kino«, sagte sein Wohn Wilhelm und stand auf, bevor noch die Eltern fertig waren. »Ich muß gehen, sonst komme ich zu spät«, rief er, als er die Tür hinter sich zumachte. Wilhelm, genannt Willy, erschien nur zu den Mahlzeiten in der Wohnung, den restlichen Teil des Tages war er unsichtbar, und niemand machte sich Gedanken über seinen Verbleib. Herr Brickelmann schob das letzte Stück Sardinenbrot in den Mund, spülte mit dem Rest Tee nach, nahm die Zeitung und setzte sich in den Sessel am Rauchtisch neben dem Radio. Er schaltete es ein, ohne sich weiter darum zu kümmern, las die Zeitung zu Ende und anschließend ein paar Kapitel aus einem Kriminalroman, den er am Nachmittag nach dem Büro aus der Leihbibliothek geholt hatte. Dann stand er auf und ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Als er ins Schlafzimmer kam, lag Frau Brickelmann bereits im Bett, im Haar die Lockenwickler und im Mund ein Praliné. Er zog sich aus, legte die Kleider sehr sorgfältig auf einen Stuhl zusammen und sich selbst ins Bett daneben. Frau Brickelmann knipste mit dem Mittelfinger ihrer rechten Hand die Nachttischlampe aus. Gute Nacht, sagte sie und drehte sich auf die andere Seite. Herr Brickelmann sagte nichts. Er lag noch etwa eine dreiviertel Stunde lang auf dem Rücken und starrte in die finstere Luft.
Am nächsten Morgen, nach dem Aufstehen und Rasieren, las Herr Brickelmann beim Frühstück die Morgenzeitung, die er an die Kaffeekanne gelehnt hatte. Frau Brickelmann hatte sich nach Zubereitung des Frühstücks wieder ins Bett gelegt, Willy frühstückte auf dem Weg zur Schule in einem Milchgeschäft. Herr Brickelmann legte die Morgenzeitung zusammen, ging ins Vorzimmer, nahm seinen Hut vom dritten Haken von links und ging zur Straßenbahn, Linie 36, mit der er ins Büro fuhr. Der Schaffner kannte ihn. Er beachtete ihn nicht, Herr Brickelmann hatte eine Monatskarte. Das Fräulein im Büro legte ihm einen Stoß Papier auf den Schreibtisch, sie war neu, und er betrachtete ihre Beine, als sie wieder hinausging. Der Stoß Papier gab Herrn Brickelmann Anlaß zu intensiver Beschäftigung bis in den späten Nachmittag. In der Mittagspause ging er in das kleine Lokal um die Ecke, wo der Ober ihm wortlos das Menu und das kleine Bier auf den Tisch setzte, wie jeden andern Tag auch. Als er damit fertig war, legte er das Geld abgezählt auf den Tisch und ging wieder ins Büro.
Herr Brickelmann hatte am vorangegangenen Abend, nachdem er etwa eine dreiviertel Stunde lang in die finstere Luft starrte, nach sechsundzwanzig Jahren Beruf und fünfzehn Jahren Ehe, den Entschluß gefaßt, nicht mehr zu reden.
Das war, wie gesagt, vor drei Jahren. Frau Brickelmann hat sich in der Zwischenzeit noch zwei Hüte angeschafft, einen gelben aus Stroh und noch einen blauen mit sehr dezenter Blumengarnierung; sie hängen, je nach Jahreszeit, entweder am zweiten Haken von links im Vorzimmer oder liegen im oberen Regal des Kleiderschranks. Willy steht ein Jahr vor dem Abitur und geht jeden Abend ins Kino, seit drei Monaten mit einer Freundin. Herr Brickelmann legt jeden Monatsersten ein Kuvert mit Geld in die Schublade des Küchenschranks, der Schaffner der Linie 36 knipst am Morgen des gleichen Tages seine Monatskarte, das Fräulein im Büro legt jeden Morgen einen Stoß Papier auf seinen Schreibtisch, zur intensiven Beschäftigung bis in die späten Nachmittagsstunden. Herr Brickelmann hat sich an ihre Beine gewöhnt, sie sind ein wenig dicker geworden, und er sieht sie nicht mehr an. Der Kellner mittags im Lokal kommt und geht wieder.
Vor einigen Tagen suchte Herr Brickelmann den Zahnarzt auf, den gleichen wie ich. »Ein eigenartiger Mensch«, sagte der Zahnarzt, als er Herrn Brickelmann hinausgelassen hatte und ich im Stuhl saß. »Letztes Mal, beim Bohren, es war nur ein ganz kleiner Schaden am Zahnschmelz, es konnte gar nicht wehtun, da schrie er plötzlich los, derart laut, daß zwei Patienten aus dem Wartezimmer liefen. Als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet, einmal schreien zu können. Geredet hat er noch nie ein Wort.«
Mein Zahnarzt ist ein scharfer Beobachter. Er trägt eine randlose Brille mit mindestens sechs Dioptrien beiderseits.
Sonst ist es noch keinem Menschen aufgefallen, daß Herr Brickelmann seit drei Jahren nicht mehr gesprochen hat.
Die Geschichte war in einigen Zeitungen und Zeitschriften erschienen; in der Bundeshauptstadt des Landes, in dem er damals lebte, hatte sie an einem Leseabend, bei dem junge Autoren vorgestellt wurden, ein Burgschauspieler vorgetragen; er selbst hatte die Geschichte bei einer Tagung junger Autoren gelesen; sie war in einer Anthologie von Geschichten junger Autoren abgedruckt worden; und danach hatten ihn noch ein paar Leute einen begabten jungen Autor genannt. Eine Tante, die in der Bundeshauptstadt den Leseabend besuchte, hatte ihm bald danach geschrieben, im Feuilleton einer dortigen Zeitung sei eine Geschichte von einem andern Autor erschienen, die fast Wort für Wort seine Geschichte sei; nur die Namen seien geändert. Er hatte einen zwei Jahre langen Prozeß um das Honorar gegen diesen Autor geführt, der behauptete, er hätte offenbar die Geschichte von ihm abgeschrieben, obwohl seine eigene Geschichte lange vor jener des andern Autors erschienen war; er hatte diesen Prozeß gewonnen, doch dann war der andere Autor, übrigens ein sehr begabter Autor, den er schätzte, völlig mittellos gestorben, und sein Rechtsanwalt hatte ihn gebeten, zugunsten seiner kleinen Tochter auf das Honorar und die Erstattung der Prozeßkosten, die höher als das Honorar waren, zu verzichten, was er getan hatte. Und die Geschichte war in einem Lesebuch für den Deutschunterricht an amerikanischen Colleges veröffentlicht worden, nach dem Gedicht »Liebeslied« von Rilke und mit einem Anhang, in dem den amerikanischen Schülern diese Fragen gestellt wurden: »1. Nennen Sie die Mitglieder der Familie Brickelmann! 2. Wie war die ökonomische Lage der Familie? 3. Wie lebte der Sohn Wilhelm? 4. Warum hatte Herr Brickelmann den Entschluß gefaßt, nicht mehr zu reden? 5. Welche Arbeit tat er im Büro? 6. Wieso konnte er beim Mittagessen im Büro das Sprechen vermeiden? 7. Was ist über Frau Brickelmann zu sagen? 8. Was erzählte der Zahnarzt über Herrn Brickelmann? 9. Was ist der Sinn dieser grotesken Erzählung? Warum spricht Herr Brickelmann nicht? 10. Was ist die Bedeutung des letzten Satzes?«
Als er jetzt, nach so langer Zeit, die Geschichte an einem Nachmittag wieder las, sah er, daß sie von einem Mann handelte, der nach fünfzehn Jahren Ehe zu reden aufhörte, und ihm fiel ein, daß seine eigene Ehe – er hatte ein Jahr, nachdem er die Geschichte schrieb, geheiratet – fünfzehn Jahre gedauert hatte.