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Helmut Hafner

Vorwort

HH: Kann man Heimweh haben nach einem Ort, den es nicht gibt?

MW: Ja – weil man diese Sehnsucht zum Leben braucht.

Ganz offensichtlich! Der Medienkünstler Mike Weisser hat den Titel seines neuen Buches sorgsam formuliert:

»Heimweh sucht Utopia!«

Und mit dem Untertitel will er deutlich machen, um was es ihm hauptsächlich geht, was nämlich geschieht, »wenn Heimatforschung von Neugier erfüllt nach der Zukunft fragt«. Dazu passt ein Leitsatz von ihm: »In der Gegenwart aus der Vergangenheit für eine bessere Zukunft lernen.«

Was meint Mike Weisser mit »Utopia«, das aus dem Griechischen übersetzt »kein Ort« heißt? Wir Menschen sehnen uns nach einer Welt und nach Orten, an denen wir uns heimisch und geborgen fühlen, nach Orten, die Gefährdungen minimieren, die uns Sicherheit geben, denen wir trauen können. Und seit dem sechzehnten Jahrhundert bezeichnet man das Ziel solcher Träume als Utopien.

Der Philosoph Ernst Bloch hat in seinem Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« Utopia neu übersetzt, nämlich als »noch kein Ort«. Er spricht dann von der »konkreten Utopie«. Denn das »noch« bedeutet: Es ist möglich, einen solchen Ort zu schaffen. Blochs große Studie endet übrigens mit dem utopischen Traum, »dass in der Welt etwas entsteht, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«.

Mike Weissers Heimweh nach Utopia hat also durchaus einen soliden Untergrund und ein konkretes Ziel. Und die Überschrift könnte auch heißen: »Heimweh nach Heimat«.

Und diese Sehnsucht, diese Suche kann für ihn nur erfolgreich sein. Denn die Sehnsucht, das Heimweh, ist für den Künstler Mike Weisser selbst schon ein Stück Heimat. »Heimat ist die Sehnsucht in mir«, hat er einmal geschrieben.

Und in einem der Texte, die in diesem Buch versammelt sind, heißt es: »Heimat muss nicht zwangsläufig materiell oder ortsgebunden sein. Heimat kann auch als Erlebnis, als Hoffnung bestehen, als Vision von einem besseren Fernen oder einem besseren Morgen. Heimat ist auch ein Zustand in Zukunft! Ein Noch-nicht-Ort. Aber ein möglicher, wünschenswerter, kommender.«

Mike Weissers Überzeugung und Haltung, die in seinem gesamten Wirken und in diesem Buch zum Ausdruck kommen, hat ein besonderes Privileg zur Grundlage: überhaupt eine Heimat zu haben, vielleicht sogar mehrere, und sich immer wieder neu nach anderen Heimaten sehnen zu dürfen.

Der Autor selbst unterteilt seine Lebensgeschichte in drei Heimaten: die seiner Kindheit an der Nordsee in Cuxhaven, seiner Studienjahre in Bonn und seiner Wirkungsjahre in Bremen. Und seine vierte Heimat ist schon lange das Internet, heute konzentriert im Smartphone, das er fast zärtlich sein »Smarty« nennt.

Im Gegensatz zu Utopia ist Heimweh ein sehr gefühlsstarkes Wort, mit Trauer und Melancholie verknüpft, das vor allem in der Romantik an Kraft gewonnen hat. Es beschreibt in der Regel ein schmerzhaftes Gefühl, das in der Fremde empfunden wird und den Wunsch ausdrückt, wieder in die Heimat zurückzukehren und dort auch wieder heimisch zu werden.

Eine solche Erfahrung mit Heimweh kennt die jüdische Dichterin Mascha Kaléko, die viele Jahre im Exil leben musste. In ihrem Gedicht »Heimweh, wonach?« heißt es:

Wenn ich »Heimweh« sage, sag ich »Traum«.

Denn die alte Heimat gibt es kaum.

Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel:

Was uns lange drückte im Exil.

Fremde sind wir nun im Heimatort.

Nur das »Weh«, es blieb.

Das »Heim« ist fort.

Erst vor einem knappen Jahr habe ich Mike Weisser persönlich kennengelernt. Doch in dieser relativ kurzen Zeit hat er ganz viele neue Gedanken, Bilder und Töne in meinen Kopf gepflanzt. All dies findet sich auch in diesem Buch, für das ich dieses Vorwort schreiben darf.

Dieses Buch enthält Essays, Reden und Interviews des Autors, die im Jahr 2019 zu den Themen Heimat, Sehnsucht, Neugier, Zukunft und Lebensgestaltung geschrieben, gestaltet und zum Teil vorgetragen wurden. Es ist ein Buch zum Lesen, zum Sehen und zum Hören. Die Texte werden ergänzt durch gestaltete QR-Codes, die ins Internet führen und dort jeweils zu den Inhalten passende Musik, Poesie und Bilder des Autors anbieten. Und so ein ganz anderes Buch braucht auch eine andere Bezeichnung: Es ist ein »QR-Hybridbuch«.

Mike Weisser gehört zu den Schöpfern und Wegbereitern einer innovativen digitalen Kultur. Seine Neugier, seine Erfahrungen, seine Sichtweisen und seine Sehnsüchte konkretisiert er in analogen und digitalen Schöpfungen, die er zu einem Gesamtkunstwerk vernetzt, das aus Worten, Bildern, Klängen und von ihm gestalteten QR-Codes besteht.

Was Mike Weisser und mich von Anfang an verbunden hat und verbindet, ist die Beschäftigung mit dem Thema »Heimat«. Für mich hat es vor allem eine politische Bedeutung, für Mike Weisser eher eine existenzielle und künstlerische. Dabei schafft er dem Thema »Heimat« ein künstlerisches Fundament und Format, das es bislang noch nicht gegeben hat. Auch davon handelt das vorliegende Buch.

Heimat ist der Ort, an dem wir uns angenommen fühlen, an dem wir Geborgenheit und Vertrautheit spüren. Und gerade in unserer globalisierten, nervösen Welt wächst die Sehnsucht nach Beheimatung, nach Ruhe und Überschaubarkeit.

Heimat ist etwas, das jeder Mensch braucht, gerade dann, wenn so vieles im Umbruch ist, wenn sich die Grundlagen unserer Wirtschaft und Gesellschaft durch Globalisierung und Digitalisierung fundamental verändern.

Welche Herausforderung, aber auch welch eine schöne und sinnvolle Aufgabe ist das Bemühen, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mit der alten oder einer neuen Heimat vertraut machen zu können.

Diesem großen und menschenfreundlichen Wunsch will Mike Weisser Wege öffnen, indem er intermediale Kunstwerke schafft, die allen Menschen zugänglich sind und die auf ganz neue Weise Heimatgefühle erzeugen können.

»Innehalten!

Im Fluss des Alltags stehen bleiben.

Atempause. Fühlpause. Denkpause.

Heraustreten aus dem Alltag.

Zurückblicken in der Zeit.

Oder besser: Die Sicht von oben wählen.

Aus der Ansicht in die Übersicht in die Weitsicht kommen und in Zuversicht zur Einsicht finden.«

Mit diesem Gedicht eröffnet Mike Weisser einen Vortrag, der in diesem Buch abgedruckt ist, und er beschreibt damit eine seiner Lebensphilosophien. Er ist ein Mensch voller Ideen und Tatendrang, ein Experimentierer und Macher, ein Revolutionär in der modernen Medienkunst. Und hin und wieder innehalten ist eine entscheidende Station auf seiner Reise durchs Leben. Er braucht die Pausen nicht nur zum Atmen. Er will fühlen, betasten, sehen, hören und von Anfang an auch ans Ende denken. Das Innehalten erlaubt ihm, den eigenen Standort zu überprüfen, sich umzusehen, auf einer Leiter hochzusteigen und von oben auf sein Schaffen und Wirken herunterzublicken, es einzuordnen, zu bewerten und es mit neuer Kraft auszustatten, vielleicht ganz anders weiterzuführen. Sehen, Urteilen und Handeln ist ein bekannter politischer Dreiklang. Mike Weisser wählt fünf Wörter, die ihn durchs Leben führen sollen: Ansicht, Übersicht, Weitsicht, Zuversicht und Einsicht.

Mike Weisser ist ein Individualist und ein Subjektivist. Das heißt, als Künstler folgt er zunächst nur seinen eigenen Impulsen. Er erledigt keine Aufträge, sondern erteilt sie sich selbst. Alles muss für ihn Sinn haben und durch seinen Körper, seine Seele und seinen Geist fließen, damit er sein Denken und Tun in seiner eigenen, kritischen Sicht beobachten und erleben kann. All dies ist mit seinem ganz persönlichen Stempel geprägt.

Zugleich ist er aber auch Universalist und Weltbürger. Fernweh ist ihm so nah wie Heimweh. Und er bereist die Welt nicht nur mithilfe von Büchern und Filmen, sondern fährt direkt in fremde Länder und macht sich und uns dort im wahren Sinne des Wortes Bilder, mit denen er das Besondere – er nennt es den »Spirit« – der fremden Orte einfangen will.

Im Jahr 2019 hat die Wittheit zu Bremen, eine wissenschaftliche Gesellschaft, die 1924 gegründet wurde, mit ihrem jährlichen Preis für Heimatforschung Mike Weisser geehrt. Und zwar für sein intermediales Heimatprojekt »bremen:AN:sichten«, das seit dem Jahr 2000 Orte, Atmosphären, Architekturen, Objekte und manchmal auch Menschen in Bremen fotografisch digital erfasst und mithilfe künstlerischer Kompressionen besondere Seh- und Hörerlebnisse erzeugt.

Wer zum Beispiel die größte Bremer Moschee, die Fatih-Moschee, etwas besser kennenlernen will, findet bei »rice.de« nicht nur fotografische Ansichten und daraus entwickelte Werke zur Moschee, sondern kann auch etwas über den Koran und die Geschichte dieses Hauses erfahren, und er kann hören, wie der Imam eine Sure rezitiert. Dies schafft einen viel tieferen Einblick in einen Ort, den man zwar besuchen kann, von dem man aber in der Regel nur in der Zeitung liest.

Heimat hat immer mit Vergangenheit zu tun. Und doch ist und bleibt sie, gerade für Mike Weisser, ein Zukunftsprojekt. Der Kern seiner Arbeit ist die Verknüpfung der analogen mit der digitalen Welt. So entstand im Verlauf von mittlerweile drei Jahren die Website »rice.de«. Sie lässt den Besucher an den Kreationen des Künstlers Mike Weisser teilnehmen und führt ihn an weltweite Orte, die er auf ganz neue Weise kennenlernt.

Der Name »Rice« steht für das Reiskorn. Der Autor sieht Reis und Kunst in gleicher Weise als Nahrung für die Welt.

Als Medienkünstler und Autor der literarischen Science-Fiction blickt Mike Weisser in die Zukunft des Möglichen und experimentiert im Risiko, anstatt gefällige Produkte herzustellen. Insoweit geben die Texte dieses Buches Einblick in die Visionen und die praktische Umsetzung einer ungewöhnlichen Kunstform, die sich zwischen Heimat- und Zukunftsforschung bewegt.

Die schon in die Jahre gekommene politische Formel »global denken – lokal handeln« verwandelt Mike Weisser in multimediale Kunstwerke, die sowohl räumliche als auch zeitliche Komponenten enthalten. Seine Methode dabei nennt er »ästhetische Feldforschung« und seinen gestaltenden Eingriff in die Realität nennt er »kreative Intervention«.

Die digitale Revolution hat Mike Weisser zu einem künstlerischen Revolutionär gemacht, dem es gelingt, einen inspirierenden, kreativen Bogen aus der analogen in die digitale Welt und aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft zu spannen. Damit zeigt er eine ganz neue Form der Medienkunst, für die auch das vorliegende Buch ein eindrucksvolles Beispiel ist.

Dr. Helmut Hafner arbeitet als Coach und Politikberater.

HEIMWEH SUCHT UTOPIA

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