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Kapitel 9
ОглавлениеDer Raum war karg möbliert. An der Seite des blassen Peter Hüsing saß dessen Pflichtverteidigerin Fatma Ünal, eine kleine, zierliche Person, die neben dieser Tätigkeit noch an einer Doktorarbeit schrieb. Thomas Sprengel lehnte hinter beiden stehend am Fensterbrett des vergitterten Fensters der JVA. Seine Laune hielt sich in Grenzen, weil Peter Hüsing nach seiner Verhaftung nichts weiter gesagt und einzig einen Anwalt gefordert hatte. Nur deshalb hatten sie an diesem Morgen nach Mannheim Herzogenried fahren müssen. Immerhin hatte die Kleine dafür gesorgt, dass Hüsing endlich aussagen wollte. Die Kleine? Wieso dachte er in dieser Verniedlichung, während er doch den Eindruck hatte, dass Frau Ünal nicht nur schnell im Kopf war, sondern zudem einen guten Einfluss auf ihren Mandanten ausübte? Bei einem männlichen Verteidiger wäre ihm wohl kaum »der Kleine« in den Kopf gekommen. Nachdem er sich das missmutig eingestanden hatte, nahm er sich vor, auch seine nicht ausgesprochenen Gedanken gegenüber Frauen einer sukzessiven Überprüfung zu unterziehen.
Franz Hilpertsauer saß dem Festgenommenen und seiner Pflichtverteidigerin gegenüber. Sie wirkte auf ihn kompetent und kooperationsbereit, wobei ihm besonders die sehr wachen Augen auffielen. Wenn er keine unfairen Fragen stellte, würde sie gesprächsbereit bleiben. »Sie haben sich zu einer Aussage entschieden?«, leitete er die Vernehmung mit einer positiven Formulierung ein und sparte sich jegliche Spitze hinsichtlich der anfänglichen Weigerung.
»Herr Hüsing möchte kooperieren«, stellte Frau Ünal akzentfrei fest, »weil er lediglich aus Panik geflohen ist. Mein Ziel ist es daher, Sie von der Unschuld meines Mandanten zu überzeugen, damit die Untersuchungshaft umgehend wieder aufgehoben wird.«
»Es ist Ihre Aufgabe, Ihrem Mandanten zu glauben«, mischte sich Thomas Sprengel unwirsch ein, bevor sein Kollege etwas erwidern konnte.
Ohne Hast stand Frau Ünal auf und wandte sich dem Kommissar zu. »Es geht hier nicht um meine Meinung!«, wechselte sie in eine schärfere Tonlage. »Es geht hier um Wahrheitsfindung! Und wenn Sie sich an diesem Gespräch konstruktiv beteiligen wollen, dann möchte ich Sie bitten, von Angesicht zu Angesicht mit meinem Mandanten und mir zu reden. Solche Psychospielchen sind vollkommen überflüssig.«
Der Kommissar blickte der höchstens ein Meter fünfundfünfzig großen Pflichtverteidigerin in die Augen, die ihn auffordernd fixiert hielten. Mit der »Kleinen« war wohl nicht gut Kirschen essen, aber das wollte er ja nicht mehr denken. »Schon gut«, gab er unaufgeregt nach und begab sich zur gegenüberliegenden Wand, während sich Frau Ünal wieder setzte. »Herr Hilpertsauer, bitte!«
»Vielleicht könnte Herr Hüsing ...«
»Ich würde vorschlagen«, unterbrach ihn die junge Frau, »dass Sie direkt meinen offensichtlich anwesenden Mandanten ansprechen. Ich melde mich schon, wenn ich Einwände haben sollte.«
Danke, Thomas. Du hast es geschafft, die Frau unnötig gegen uns aufzubringen. »Also, Herr Hüsing«, setzte Franz Hilpertsauer, bemüht, die Wogen zu glätten, kommentarlos noch ein weiteres Mal an: »Ich würde gerne von Ihnen hören, wie das an dem Abend war, als Frau Tröger auf der Autobahn ums Leben gekommen ist.«
Der Angesprochene sah zunächst unsicher seine Pflichtverteidigerin an, die knapp, aber ermunternd nickte. Sie hatte irgendwann einmal gelesen, dass Meditation zu geistiger Klarheit und Ausgeglichenheit führen solle. Offensichtlich war in dieser Hinsicht bei ihrem Mandanten etwas grundlegend schiefgelaufen, so irrational, wie der sich verhielt.
»Drei Tage zuvor war ich aus Indien zurückgekommen«, begann Peter Hüsing zögerlich. »An dem Abend sah ich Marion schreiend auf der Kreuzung, in die die Sackgasse mündet, die zu meiner Wohnung führt.«
»Sie meinen Sylvia Tröger!«, korrigierte der Ermittler ihn.
»Was? Ach, habe ich ... Ja, Frau Ünal hat mich bereits darauf hingewiesen«, wirkte der junge Mann konfus. »Aber ... nein, ja ... ich habe gedacht, es handele sich um Marion ...« Eine Träne löste sich von seinem rechten unteren Augenlid.
»Waren Sie mit Marion Tröger befreundet?«
Peter Hüsing zuckte mit den Schultern und rieb sich mit der linken Hand über das Gesicht, bevor er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche angelte, um sich zu schnäuzen. »Eigentlich dachte ich das mal«, gab er sichtlich deprimiert weiter Auskunft, »bis Marion plötzlich abgehauen war. Einfach so, kein Wort, nichts. Ich kann das bis heute nicht verstehen.« Er schüttelte resigniert den Kopf.
»Wann war das ungefähr?«, hakte Thomas Sprengel nach, dem sofort die Karte bei Frau Tröger eingefallen war. Auch sie war vollkommen von Marions Abreise überrascht worden.
Der Angesprochene blickte auf und überlegte kurz. »Vor sechs oder sieben Monaten vielleicht, wenige Tage, nachdem wir in Indien angekommen waren.«
Die Aussage deckte sich sowohl mit dem, was die Mutter der Zwillinge ausgesagt hatte, als auch mit dem Poststempel auf der Ansichtskarte. Thomas Sprengel nickte nachdenklich. Langsam begann er es durchaus für möglich zu halten, dass die Einschätzung der Pflichtverteidigerin zutreffen könnte – oder das war alles nur eine hanebüchene Geschichte.
»Zurück zu dem betreffenden Abend«, lenkte Franz Hilpertsauer die Vernehmung zunächst auf die ums Leben gekommene Sylvia Tröger. »Sie dachten, Marion Tröger auf der Kreuzung zu sehen, und danach?«
»Ich rief nach ihr und lief ein Stück hinter ihr her, weil sie wegrannte ...« Er brach ab. »Wenn ich weniger feige gewesen und nicht abgehauen wäre, nachdem ein Fenster aufgegangen war, könnte sie wohl noch leben. Es tut mir schrecklich leid ...« Blass blickte Peter Hüsing auf seine Hände, die gefaltet auf der Tischkante lagen. Neugierig blieb der Blick des Hauptkommissars an einer recht auffälligen Warze neben dem rechten Nagel des Zeigefingers hängen, die ihn selbst sicher gestört hätte. Auch in Peter Hüsings Gesicht fielen ihm daraufhin bei genauerer Betrachtung verschiedene Warzen auf. Was der Mensch alles haben konnte. Dagegen zeigte sich die Haut von Frau Ünal makellos mit mediterranem Teint. So ebenmäßige Gesichtszüge hatte er selten gesehen, die von großen Locken ihrer schulterlangen, fast schwarzen Haare umspielt wurden. Thomas Sprengel rief sich zur Ordnung und verlagerte seinen Fokus von den unwesentlichen Aspekten zurück zu ihrem eigentlichen Anliegen.
Entweder uns wird hier eine wirklich große Show geboten, ging es zur gleichen Zeit Franz Hilpertsauer durch den Kopf, oder der Verdächtige kann einem einfach nur leidtun. Er sog die Luft tief ein, während er sich nachdenklich die Nase rieb. »Ich verstehe noch nicht, warum Sie sich überhaupt verdrückt haben?«, wollte er das genauer wissen.
»Was soll die Frage«, fuhr Fatma Ünal dazwischen, »Sie wissen doch ganz genau, warum!«
Der Kommissar blickte die junge Frau gelassen an. »Stimmt vermutlich. Aber erstens würde ich das gerne von Herrn Hüsing selbst hören und zweitens könnte ich mich irren.«
Die Pflichtverteidigerin verdrehte nur kurz die Augen. Sie hatte schon den richtigen Job. »Können wir das meinem Mandanten nicht ersparen?«, wollte sie dem ohnehin emotional stark mitgenommenen Mann das für ihn schwierige Thema in dieser Situation nicht auch noch zumuten. »Haben Sie irgendeinen Hinweis, dass mein Mandant an dem Abend näheren Kontakt zu Frau Tröger gehabt hat?«
Thomas Sprengel stieß sich genervt von der Wand ab und stützte sich mit beiden Armen auf den Tisch. Sein Gesicht gab seine Gemütsverfassung deutlich zum Ausdruck. »Nein, an den auseinandergerissenen Einzelteilen von Frau Tröger konnten wir bisher keine DNA-Spuren von Herrn Hüsing sichern ...« Er unterbrach sich, weil Letzterer sich bei der Erwähnung von Einzelteilen die Ohren zuhielt und heftig mit dem Kopf zu schütteln begann. Der Hauptkommissar richtete sich wieder auf und kratzte sich am Hinterkopf. Meine Güte, am besten wäre ich im Bett geblieben. Noch missgestimmter als zuvor beobachtete er schweigend, wie Frau Ünal versuchte, ihren Mandanten zu beruhigen. War der tatsächlich so mitgenommen oder war das nur Theater? Als Peter Hüsing sich gesammelt hatte, wiederholte Thomas Sprengel die Frage seines Kollegen. »Könnten Sie uns bitte erklären, warum Sie abgehauen sind?«
Frau Ünal nickte dem Befragten zu, weil sie wusste, wann es keinen Sinn hatte, sich querzustellen.
»Ich bin wegen einer angeblichen Vergewaltigung vorbestraft«, gab der Gefragte sehr leise zur Antwort.
»Wir haben die Akte gelesen«, bestätigte nun Franz Hilpertsauer, gab sich aber weiterhin, als verstehe er den Verdächtigen nicht. »Ich sehe den Zusammenhang noch nicht. Sie sind ihr auf offener Straße gefolgt, bekleidet. Bis dahin konnte nicht viel passiert sein. Es findet sich möglicherweise jemand, der bestätigt, dass Frau Tröger aus einer anderen Richtung gekommen ist.«
»Macht mein Mandant auf Sie den Eindruck, als handele er in diesem Zusammenhang besonders rational?«, warf Frau Ünal ein.
»Eher weniger«, pflichtete der Kommissar ihr bei, »aber eine Erklärung hätte ich dennoch gerne. Wie sagten Sie so schön: Es geht hier um Wahrheitsfindung und nicht um meine Spekulationen.« Touché. Er blickte Peter Hüsing auffordernd an.
»Es war keine Vergewaltigung«, platzte es regelrecht aus diesem heraus, während er aufsprang. Der Stuhl kippte nach hinten um. Die Sätze sprudelten plötzlich nur so aus ihm heraus. »Sie war sehr reif für ihr Alter und wollte sichergehen, dass ihr erstes Mal besonders schön werden würde. Ich besorgte LSD.« Peter Hüsing tigerte im Kreis hinter seiner Verteidigerin. »Die Eltern haben das irgendwie mitbekommen, weshalb Lisa wohl die Geschichte einer Vergewaltigung erfunden hat. Daraufhin haben ihre Eltern jedenfalls Anzeige gegen mich erstattet. Erst danach realisierte ich, dass das Mädchen damals keine fünfzehn war. Sonst hätte man mir vielleicht doch geglaubt.« Als er geendet hatte, sammelte Frau Ünal ihn sachte ein und bugsierte den am ganzen Körper vor Aufregung zitternden Mann zurück auf seinen Stuhl.
Thomas Sprengel dämmerte, wovor Peter Hüsing Angst hatte. »Und weil Sie Erfahrung mit Drogen haben, erkannten Sie an Frau Trögers Verhalten, dass sie ebenfalls welche genommen haben musste!«
Peter Hüsing nickte matt.