Читать книгу Der Teufel lauert auch im Paradies - Henning Marx - Страница 18
Kapitel 15
ОглавлениеNarindar hatte die Batala-Amritsar-Road verlassen und fuhr durch die Randbezirke von Amritsar. Im Kofferraum transportierte er reife Ananas, die sein Chef auf der Plantage bei Hassanpura in kleinen Mengen hatte pflanzen lassen. Ansonsten wurden dort neben Obst für den Eigenbedarf Baumwolle, Weizen, Kaffee, Tee und Pfeffer in einer Größenordnung angebaut, die für indische Verhältnisse bisher ungewöhnlich dimensioniert war. Es sollte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Kleinbauern nicht mehr halten können und ihr Land Männern wie Amit Kumar abtreten müssen. Er zweifelte zusehends daran, dass das System der Mikrokredite auf lange Sicht die gewünschten Effekte entfalten konnte. In einem Bericht im Fernsehen hatte er quadratkilometergroße Felder in den USA gesehen. Dagegen war selbst ihre für indische Verhältnisse riesige Plantage irrwitzig klein. Immerhin war sein Chef so klug gewesen, nicht auf gentechnisch veränderte Pflanzen zu setzen. Im Gegenteil, er hatte seinen Baumwollanbau auf biologische Kriterien umgestellt, der ihm aufgrund der zunehmenden Nachfrage aus dem Ausland einen guten Preis sicherte und seine Ernteerträge stabil hielt. Sein »Vater« war in wirtschaftlichen Dingen ein sehr lehrreiches Vorbild. Deshalb bekümmerte ihn dessen Kälte gegenüber dem Tod der Deutschen umso mehr. Auf dem Rückweg von Delhi hatte ihn sofort wieder sein schlechtes Gewissen gepackt, weil er sein Verhalten trotz allem als illoyal empfand. Der Verkehr glitt dahin, rote Ampeln, Gehupe, Rollerfahrer, bis er den Wagen in die Auffahrt zur Villa seines Ziehvaters lenkte, ohne dass er hätte sagen können, wie er dorthin gekommen war.
Mit dem Korb Ananas betrat er durch den Seiteneingang die Küche, in der sich in diesem Moment niemand aufhielt, und stellte seine Fracht auf eine Anrichte neben der Speisekammer. Etwas ratlos sah er sich um. Er musste dringend mit Ardas sprechen. Als er im Begriff war, sich einen Zettel von einem Block neben der Küchentür abzureißen, um eine Nachricht zu schreiben, die er wie üblich im Halsband des Dobermanns verstecken wollte, ging die Tür zum Esszimmer auf, in der unerwartet Ardas vor ihm stand. Als sie sah, wen sie überraschend in der Küche vorfand, zog sie rasch die Tür hinter sich zu, kam zu Narindar geeilt und strich ihm sanft über eine Wange. Der ergriff ihre Hand und führte die Handfläche kurz zärtlich an seine Lippen.
»Wir müssen uns unterhalten«, flüsterte er hastig, weil er nicht wusste, wann jemand kommen würde. »Heute?«
»Das geht nicht«, schüttelte Ardas den Kopf, »heute ist der Empfang bei Alok, zu dem ich Baba begleiten soll. Das wird spät werden. Aber wo warst du gestern?«, warnte sie ihn, weil sie glaubte, dass er wegen seines Planes nicht erreichbar gewesen war. »Baba hat mehrfach versucht, dich zu erreichen.«
»Das ist eine längere Geschichte«, flüsterte er nervös. Die Tatsache, dass ihr Vater ihn gesucht hatte, beunruhigte ihn. Immerhin hatte Ardas ihn warnen können. »Wann?«
Schritte waren im Esszimmer zu hören, die sich schnell der Küchentür näherten.
»Übermorgen«, zischte die junge Frau, stieß ihren Verlobten von sich und verschwand schnellen Schrittes, aber lautlos in der Speisekammer, wo sie hörbar den Korb mit Ananas ausleerte. Narindar hatte sich wieder über den Block gebeugt und rief laut, ob er noch etwas von der Plantage für den Abend besorgen müsse, als die Köchin die Küche betrat.
Roshanara hatte keinen Verdacht geschöpft und Narindar nur im Vorbeigehen durch das Haar gewuschelt, was dieser mit einem unwilligen Brummen über sich ergehen ließ. Die alte Köchin hatte sie im Wesentlichen aufgezogen und war sowohl Ardas als auch Narindar ans Herz gewachsen. Meistens war sie streng, aber nie ungerecht. Trotz moderner Zeiten war sie der festen Überzeugung, dass Kinder eine sinnvolle Führung benötigten, um integer, verlässlich und selbstständig werden zu können. Ließ man sie immer gewähren, würden sie wie Schmetterlinge, die immer nur auf der Suche nach den Blüten mit dem süßesten Nektar waren.
»Was hast du uns heute mitgebracht, Narindar?«, fragte sie beiläufig, während sie sich einem Huhn zuwandte, das gefüllt werden sollte.
»Ananas«, erwiderte der junge Mann, der Roshanara bereits als kleiner Junge gerne bei der Arbeit zugesehen hatte. Sie arbeitete schnell, mit routinierten, eleganten Bewegungen. Auch sie trug einen Sari, der stets vorbildlich sauber war und ihre für ihr Alter nicht zu fülligen Formen weitgehend verbarg. Alle weiblichen Bediensteten trugen indische Tracht, weil ihrem Chef das heimische Flair trotz oder gerade wegen seiner internationalen Laufbahn grundsätzlich wichtig war. »Muss ich sonst noch etwas besorgen?«
Ardas kam aus der Speisekammer, doch ihr Blick streifte Narindar kaum. Roshanara überlegte, während sie kurz in der Arbeit innehielt. »Nicht das ich wüsste«, war sie sich unschlüssig. »Fällt dir noch etwas ein, Ardas?«
»Nein, Roshanara«, gab die knapp zurück, bevor sie die Küche verließ.
»Du hast gehört, was deine Schwester gesagt hat«, wandte sich die Köchin neben Narindar wieder ihrem Huhn zu. »Warum stehst du dann hier noch herum, hast du nichts mehr zu tun?«
»Doch«, er trollte sich. Roshanara hatte sie immer als Geschwister gesehen und sprach beide auch entsprechend an. Er war sich nicht sicher, was die Köchin darüber denken würde, wenn sie von der Absicht erführe, dass die »Geschwister« heiraten wollten. Gerne hätte er mit ihr darüber gesprochen, aber das war viel zu riskant.
Mit einem flauen Gefühl im Magen klopfte er am Büro seines Ziehvaters. Auch wenn es ihm schwerfiel, musste er klären, was der am Tag zuvor von ihm gewollt hatte. Er hoffte inständig, dass Amit nicht zu viele Fragen stellte.
»Ja?«, Amit Kumar blickte von einem Stapel Papiere auf.
»Guten Morgen, Baba«, Narindar war durch die offene Tür eingetreten und spürte, wie seine Finger vor Nervosität leicht zitterten.
»Ah, Narindar«, wurde er freundlich begrüßt. »Gut, dass du kommst. Du musst einen Botengang übernehmen.«
Sollte er davonkommen? Sein Magen entspannte sich. »Was gibt es?«
»Alok hat bereits bezahlt«, lachte der graumelierte Ex-Diplomat selbstzufrieden. »Offensichtlich hat er eingesehen, dass es für ihn nicht gut wäre, es sich mit mir zu verderben. Du gehst noch heute zu Bhagwan in den Ashram und bestellst eine neue Deutsche! ... Eine Schwedin ginge auch.«
Narindar musste sich beherrschen, um sich nichts anmerken zu lassen. Sein Ziehvater hatte den Auftrag in einer Weise ausgesprochen, als benötige er eine neue Matratze für ein Bett. Bisher hatte der Chef die »Bestellungen« stets selbst aufgegeben. Sollte er nun einbezogen werden, um ihn emotional abzuhärten, nachdem er sichtbar Anteil an dem Tod der Deutschen genommen hatte? Er schluckte.
Amit Kumar schaute ihn erwartungsvoll an.
»S...«, ihm blieb zunächst die Stimme weg. Nach einem kräftigen Räuspern setzte er erneut an: »Soll sie aussehen, wie ... wie ... die Letzte?« Schon wieder steckte ihm ein Kloß im Hals.
»Ja, wie sah sie denn aus?«, ließ ihn sein Ziehvater nicht einfach davonkommen.
Wenn er eines sicher wusste, dann dass er so nicht werden wollte. Sie sprachen über Menschen. Das war ihm leider erst richtig klar geworden, nachdem die arme, zur Prostitution gezwungene Frau gestorben war. Vorher war das eben wie immer gewesen. Er war quasi damit aufgewachsen, dass es Frauen gab, denen diese ... Aufgabe zukam. Wie es auch Frauen gab, die den flüssigen Durchfall ihrer Herrschaft in einem löchrigen Weidenkorb auf dem Kopf davontragen mussten, nur weil sie der falschen Kaste angehörten. Kühe wurden in Indien besser behandelt. Aber momentan hatte er keine Wahl. Insbesondere wenn er seinen Plan nicht gefährden wollte, durfte er sich keine Blöße geben. »Blond, blaue Augen, sehr schlank, mädchenhaft, aber nicht knochig«, zählte er die Anforderungen auf, die Amit gerne stellte.
»Wir verstehen uns, wie immer«, war sein Ziehvater zufrieden. »Oder möchtest du lieber ausladende Brüste?«, provozierte er den jungen Mann unerwartet.
»Ganz wie du wünschst, Baba!«, versuchte der sich vor einer Antwort zu drücken. Tief in seinem Inneren spürte er Abscheu aufsteigen, die sein schlechtes Gewissen und seine Dankbarkeit diesem Mann gegenüber umgehend in einem entfernten Winkel seines Bewusstseins einsperrten.
Amit lachte laut auf. »Nein, wie du willst, also?«
Sein Verstand versuchte einen Ausweg zu finden. Alles in ihm weigerte sich, am Ende daran schuld zu sein, dass gerade diese eine Frau nach Indien verschleppt werden würde.
»Ich höre!«, durchbrach es schärfer die Stille.
Narindar zuckte unmerklich zusammen, hatte aber rechtzeitig eine Lösung gefunden. »Weil wir Geld verdienen wollen, sollten wir das nicht an meinen, sondern an den Wünschen unserer Kunden festmachen.«
Amit nickte zu Narindars Erleichterung. »Wohl gesprochen. Also wie immer. Deine Aufgabe wird sein, einen guten Preis zu verhandeln.«
»Ja, Baba.«
»Dann ab mit dir«, wurde Narindar entlassen. Als er schon fast durch die Tür war und sich Erleichterung einstellen wollte, bohrte sich die ihm nachgerufene Frage doch noch in seinen Rücken: »Ach, wo warst du gestern? Dein Telefon war ausgestellt!«
Es fühlte sich an, als quetsche eine Faust seinen Magen zusammen. Die Finger begannen sofort wieder fein zu zittern, während er sich umdrehte. »Mein Akku war leer. Deshalb hatte ich das Telefon zu Hause gelassen.«
Amit zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Und du warst wo?«
Narindar zögerte kurz, bevor ihm sein neutraler Geist zu seiner Erleichterung zu Hilfe kam. Nur wenn man wusste, was er dort gemacht hatte, war seine Reise verdächtig. Folglich war es am besten, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich war in Delhi.«
Die Augen seines Gegenübers wurden äußerst schmal. »Für einen Tag?«
»Aber ich hatte doch frei«, entgegnete er ausweichend mit immensem Herzklopfen, das lautstark in seinen Ohren pulsierte.
Unerwartet entspannte sich der Blick von Amit Kumar, der sich wieder gemütlich in seinem Stuhl zurücklehnte. »Die große Welt. Ich war auch mal so. Ist gut, Narindar.«
Erleichtert entfernte er sich schnell, obwohl sich seine Beine sehr weich anfühlten. Er ahnte nicht, wie nachdenklich der Blick war, der ihm folgte. Umgehend verließ er das Haus und setzte sich in seinen Lada. Narindar legte beide Hände auf das Steuer und atmete tief durch. Für ihn gab es keine Möglichkeit, sich seiner Aufgabe zu entziehen, die er sofort erledigen musste. Hatte er eine andere Wahl, wenn er sich und vor allem Ardas nicht gefährden wollte? Ansonsten konnte er nur auf den Anruf der »Deutschen Botschaft« warten – und er war keinesfalls sicher, ob der erfolgen würde.