Читать книгу Der Teufel lauert auch im Paradies - Henning Marx - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеThomas Sprengel und Lene Huscher hatten sich mit Freunden in Mannheim im Kino getroffen, weil es zu ihrem Bedauern in Heidelberg nur noch ein kleines Programmkino gab. Nach einem lustigen Abend, der in der Lieblingskneipe ihrer Freunde ausgeklungen war, fuhren die beiden auf der A 656 nach Heidelberg zurück. Lene Huscher hatte das Schiebedach geöffnet und genoss die frische Luft, die sich im Wageninneren unaufdringlich verteilte. Der laue Sommerabend bescherte ihnen auch nach vierundzwanzig Uhr noch angenehme Temperaturen.
Lene seufzte, während sie ihrem Mann, Thomas Sprengel, mit ihrer Linken über den Oberschenkel strich. »Weißt du, wonach mir gerade der Sinn stünde?«
»Ins Bett zu fallen?«, zog dieser in Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit einen naheliegenden Schluss, während er ihre Hand zärtlich nahm.
Hatte sie da etwa einen Hintergedanken durchgehört? »Nein, ich würde gerne auf dem Ehrenfriedhof einen kleinen Spaziergang machen und mich mit dir noch ein wenig auf die Mauer setzen.« Immer mal wieder nutzten sie die Möglichkeiten, die sich in den Wäldern zwischen Bierhelderhof und Speyerer Hof für ruhebedürftige Spaziergänger boten. Auch wenn die Bäume inzwischen den Blick von der talseitigen Mauer des Ehrenfriedhofs über die Rheinebene sowie direkt darunter auf weite Teile Heidelbergs versperrten, mochten sie die Stimmung dort oben, insbesondere bei Mondschein wie in dieser Nacht. Nach ihrem letzten Kriminalfall hatten sie diesen Ort zwar für eine Weile gemieden. Aber nachdem die teils dramatischen Ereignisse immer mehr in Vergessenheit geraten waren, hatte sich die Erinnerung an die Zeiten entspannter Erholung zunehmend zurückgemeldet.
Thomas musste nicht lange überlegen. »Gerne, dort ist es heute Nacht bestimmt lauschig. Ich fahre aber über den Emmertsgrund hoch, wenn dich der kleine Umweg nicht stört.«
»Überhaupt nicht«, lächelte Lene verträumt, während sie seine Hand streichelte. Sie fühlte sich in diesem Moment ... glücklich und leicht – auch wegen dieses Mannes, der nahezu immer bereit war, ihr ihre Wünsche zu erfüllen. Manchmal musste sie in solchen Augenblicken innerlich schmunzeln, wenn sie daran dachte, wie rüde er sie anfangs beleidigt hatte. Damals, kurz nachdem sie nach Heidelberg gekommen war. Ohne ihren ersten gemeinsamen Fall wären sie vielleicht nie mehr ein Paar geworden.
Thomas Sprengel bog am Heidelberger Kreuz auf die A 5 Richtung Süden ab, um über die Ausfahrt Heidelberg/Schwetzingen den Emmertsgrund zu erreichen. Nachdem er auf die A 5 aufgefahren war, ordnete er sich zunächst hinter einem Lkw ein. Auf dem Abschnitt waren nur hundert Stundenkilometer erlaubt, um den Lärm für die Bewohner einiger Hochhäuser sowie des Patrick-Henry-Areals wenigstens etwas erträglicher zu machen. Früher, als in Heidelberg noch amerikanische Soldaten stationiert gewesen waren, hatten die amerikanischen Streitkräfte hier eine komplette Wohnsiedlung für ihre Bediensteten und deren Familien unterhalten. Inzwischen, glaubte sich Thomas Sprengel vage zu erinnern, sollte sich dort irgendeine Yoga-Sekte niedergelassen haben. Etwas abwesend überholte er den Lastwagen mit einem geringen Geschwindigkeitsüberschuss. Hinter sich sah er Scheinwerfer rasch näherkommen. Da nahm es wohl jemand weniger genau mit den Verkehrsvorschriften und demonstrierte unmissverständlich sein mangelndes Mitgefühl mit den vom Lärm ohnehin geplagten Menschen, für deren Wohnungen vermutlich mit einer sehr guten Verkehrsanbindung geworben wurde.
Lene stellte das Radio an, aus dem Britney Spears trällerte: »Born to make you happy ...«
»Genau so ist es«, lächelte Thomas seiner Frau ins Gesicht.
»Du sollst beim Fahren nach vorne schauen«, protestierte sie trotz der charmanten Bemerkung. »Wie oft muss ich dir das noch sagen!«
»Aber es ist doch ...«
»Vorsicht!«, unterbrach Lene ihn scharf. »Guck nach vorn, dort kommt was geflogen!«
Thomas Sprengel riss den Kopf herum und sah zusätzlich zu den grell leuchtenden Bremslichtern eines vor ihnen fahrenden Sportwagens einen ... Körper, der durch die Luft geschleudert wurde und auf sie zugeflogen kam. Reaktionsschnell riss er das Steuer nach rechts und zog nur einen knappen Meter vor dem kurz zuvor überholten Lkw bis auf den Standstreifen, auf dem er eine Vollbremsung hinlegte. Was sich in den wenigen Sekunden hinter dem Lastwagen abspielte, konnten die beiden nur ahnen.
Der durch die Luft geschleuderte Körper krachte in die Windschutzscheibe des von hinten schnell herangekommenen SUVs, dessen Fahrer wegen des Lastwagens keine Chance gehabt hatte, auszuweichen. Ins Schlingern geraten touchierte das Fahrzeug die Leitplanke und wurde von dort gegen den Anhänger des Lastzugs katapultiert, der ebenfalls dabei war, maximal zu verzögern. Die Wucht des gut zwei Tonnen schweren Autos traf den Anhänger an dessen Hinterachse, kurz nachdem dieser Sprengels Peugeot passierte, und drückte ihn auf den Seitenstreifen. Der Kommissar legte geistesgegenwärtig den Rückwärtsgang ein, um mit Vollgas den Wagen zurückzusetzen. Lene und Thomas sahen mit Entsetzen, wie der SUV nur einen Wimpernschlag später dort in die Leitplanke einschlug, wo sie kurz zuvor gestanden hatten. Der Lkw-Fahrer versuchte alles, um den seitwärts driftenden Anhänger wieder unter Kontrolle zu bekommen, konnte aber letztlich das Umkippen des Hängers nicht verhindern, wodurch sich die Zugmaschine querstellte. Ein nachfolgender Pkw raste seitlich unter den Lastwagen. Flammen breiteten sich umgehend explosionsartig unter der deformierten Motorhaube aus. Zwei weitere Autos konnten zwar noch bremsen, kamen aber nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand. Nachdem der Lkw inzwischen die ganze Autobahn blockierte, hatten die Fahrer keine Chance zum Ausweichen gehabt und rauschten ebenfalls in die verunglückten Fahrzeuge.
»Ver...«, unterbrach sich Thomas rechtzeitig. »Oh Gott.« Selbst in dieser Extremsituation war es ihm gelungen, einen Fluch zu unterdrücken; so viel zum guten Einfluss seiner Frau. Lene hatte bereits das Telefon gezückt, zwar etwas zittrig, aber gefasst wie gedanklich präsent. Präzise informierte sie Polizei und Rettungsdienste. Danach war sie entschlossen ausgestiegen, um nach Verletzten zu schauen und Hilfe zu leisten.
Kommissar Sprengel fingerte das Blaulicht auf das Dach und setzte den Wagen weitere fünfhundert Meter zurück, um die Aufmerksamkeit des nachfolgenden Verkehrs zu erhöhen. Danach eilte er als Erstes zu dem SUV, an dem sich Lene bereits zu schaffen machte. Im Vorbeilaufen sah er auf der Fahrbahn den oberen Teil eines orange gekleideten Torsos. In einem unwillkürlichen Reflex wandte er zunächst den Blick ab, bevor er genauer hinsah. Es handelte sich um eine Frau und nicht um ein Tier! Als er bei Lene an dem SUV ankam, konnte er im Halbdunkel auf dem Beifahrersitz die untere Hälfte des Frauenkörpers ausmachen. Der Mann hinter dem Steuer stand derartig unter Schock, dass er überhaupt nicht auf Lenes Versuche reagierte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, schien aber nicht lebensgefährlich verletzt zu sein. Thomas drehte sich weg, um den Blick gewaltsam von dem Frauenkörper zu reißen. Lene war schon immer weniger empfindlich gewesen als er. Sie begründete das stets damit, dass sie in ihrer Familie nicht hätte überleben können, wenn sie nicht gelernt hätte, Emotionen auszublenden. Vielleicht hatte sie den unteren Teil der Leiche auch noch nicht wahrgenommen? Der Lkw-Fahrer war inzwischen dabei, mit einem Feuerlöscher die Flammen zu löschen, um ein Übergreifen zu verhindern. Die Insassen rechtzeitig zum Stehen gekommener Fahrzeuge halfen den weiteren Verunglückten. Einen Augenblick stand Kommissar Sprengel nur fassungslos da – in einer Wüste aus Trümmern, Glassplittern, Blut, Verletzten, Menschen, die weinten und klagten –, nahm auf, was um ihn herum passierte und war unendlich dankbar für das Glück, das sie selbst gehabt hatten. Dennoch schnürte es ihm das Herz zusammen, während er sich einen Überblick verschaffte, wo noch Hand anzulegen war. Es stellte sich jedoch auch ein Gefühl der Erleichterung ein, als er die Hilfsbereitschaft wahrnahm, die sich innerhalb von Sekunden angesichts der Katastrophe gebildet hatte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass alle so gut es ging versorgt wurden, lief er auf der Fahrbahn zurück, holte eine Decke aus seinem Wagen und sicherte den oberen Teil der tödlich erfassten Frau. Danach zog er sein Diensttelefon aus der Tasche und forderte zusätzlich Kollegen von der Spurensicherung an. Während er noch telefonierte, registrierte er, wie der Verkehr auf der Gegenfahrbahn beinahe zum Erliegen kam. Das schien aber nicht an verstreuten Trümmern zu liegen. Gaffer! Ihm platzte fast der Kragen. Kaum hatte er das Gespräch beendet, lieh er sich von einem älteren Herrn aus einem der umstehenden Wagen etwas zum Schreiben und begann, sich die zugehörigen Kennzeichen zu notieren. Vereinzelt sah er wie Tablets und Telefone aus den Seitenfenstern auf das Unfallgeschehen gerichtet wurden. Selbst konnte er zu seinem eigenen Missfallen nicht einschreiten. Wer wusste schon, ob es nicht jemand ausgesprochen sexy fand, Fotos von dem Leichentorso zu schießen.