Читать книгу Der Teufel lauert auch im Paradies - Henning Marx - Страница 3
Prolog
ОглавлениеIhre Haare waren so grau wie die an weiten Teilen abgeblätterte Farbe an dem alten Haus, in dem sie seit fünfzehn Jahren wohnte. Auch wegen ihrer Haarfarbe wirkte sie älter, als sie tatsächlich war, denn das Leben bescherte ihr einen Schicksalsschlag nach dem anderen. Durchgehalten hatte sie nur, weil sie ihren Töchtern eine Wiederholung ihres eigenen Leides ersparen wollte. Der Pfarrer, der in regelmäßigen Abständen nach ihr schaute, versuchte ihr immer wieder Mut zuzusprechen: »Die Seele ist viel belastbarer, als der Mensch im Allgemeinen annimmt; Sie müssen nur auf Gott vertrauen, um Geborgenheit zu finden.« Ihr Vertrauen hatte sich irgendwann in Luft aufgelöst. Sie wusste nicht mehr, wann genau, aber eines Tages muss es sich aufgemacht und sie im Stich gelassen haben. Ihre Eltern stammten aus sogenannten »einfachen Verhältnissen« und hatten mehr als drei Jahre für ihre erste große Reise gespart, nachdem sie selbst ihre Ausbildung begonnen hatte. Kurz nachdem sie eine Anstellung gefunden und geheiratet hatte, waren ihre Eltern gestartet – und bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Irgendwelche Sensoren waren vereist, die Maschine war ins Meer gestürzt. Die Leichen ihrer Eltern wurden nie gefunden. Wie auch? Das Meer war groß! Sie hatte sehr unter dem plötzlichen Verlust gelitten. Nur ihr liebevoller Mann hatte ihr eine Stütze geboten. Sonst wäre ihr damals bereits jeglicher Lebensmut abhanden gekommen. Wenige Jahre nach der Geburt ihrer Zwillinge war ihr Mann dann ebenfalls bei einem Unfall gestorben – einem Autounfall, an dem ihn keine Schuld traf. Ein betrunkener Autofahrer war auf die Gegenfahrbahn geraten und hatte mit seiner schweren Limousine ihren alten Polo weitgehend zerquetscht. Nach Wochen des Hoffens und Bangens war er schließlich nicht mehr aus dem Koma erwacht. Am liebsten hätte sie aufgegeben, aber da waren inzwischen die Zwillinge, Sylvia und Marion, die sie brauchten. In all den Jahren hatte sie immer zu verbergen versucht, wie lebensmüde sie nach dem Tod ihres Mannes geworden war. Vielleicht war auch das ein Auslöser dafür, dass sich vor einigen Jahren Symptome einer Multiplen Sklerose eingestellt hatten, die zuweilen so schwer waren, dass sie wochenlang nicht arbeiten konnte. Nach ihrem zweiten Schub war der kleine Buchladen, in dem sie gearbeitet hatte, insolvent geworden. Danach hatte sie keine neue Stelle gefunden. Irgendwie hatte sie keine Kraft mehr gehabt. Endlich hatten die Zwillinge die Schule beendet und Ausbildungen begonnen. Sylvia war zur Bank gegangen, Marion Rechtsanwaltsgehilfin geworden. Sie hatte Teilzeit gearbeitet, wodurch sie sich ihr Studium der Rechtswissenschaften finanziert hatte. Als ihre Mutter war sie so stolz gewesen. Die Mädchen hatten es zu einem besseren Leben geschafft. Hätte Marion nur nicht mit Yoga begonnen, draußen, neben der Autobahn, immer öfter. Schließlich war sie dort hingezogen und eines Tages war diese Karte gekommen. Die Welt war groß! Mit Tränen in den Augen starrte sie die Postkarte an, die sie in ihren zittrigen Händen hielt.