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7. Kapitel
ОглавлениеAleksei
»Für Troja!«, rufe ich und klopfe Jesse auf die Schulter. Durch die Massen aus Schnee hat er mich zur Akademie gefahren. Alles nur, damit ich die Anmeldefrist nicht verpasse.
»Du schaffst das!« Die Hand ballt er zu einer Faust und nickt mir zu. »Für Tortuga!«
»Für Troja!« Lachend kralle ich mich an dem Brief fest, den ich nicht nur einmal zerknittert und weggeschmissen habe.
»Mach keinen Rückzieher. Alek.« Beherzt kneift er mir in den Oberschenkel, um mich zum Aussteigen zu animieren. Wir stehen schon seit fünf Minuten mit gesetztem Blinker am Straßenrand und ich … Verdammt, ich bin so ein Schisser. Den Schal ziehe ich mir bis über die Nase und hole tief Luft, da hupt uns irgendein Arschloch an.
»Fahr doch weiter, du Penner!«, ruft Jesse.
»Verpiss dich! Ja, glotz doch, du Sack!«, stimme ich mit ein.
Mit vollem Enthusiasmus zeigen wir dem Kerl den Mittelfinger, der noch den Kopf schüttelt, als er an uns vorbeifährt.
Jesse schnaubt und sieht zu mir herüber. Seine Mundwinkel zucken und wir beide lachen. Es ist so typisch, dass wir keinen Geduldsfaden haben. Besonders nicht, wenn wir gemeinsam im Auto unterwegs sind.
»Tu es für Troja.« Sachte klopft er noch die Fussel von meiner Mütze, ehe er sie mir auf den Kopf setzt. »Beeil dich, sonst kommen wir zu spät zum All-You-Can-Sushi.«
O Gott. All-You-Can-Eat-Restaurants sind meine große Liebe. Zwar ist mein Lieblingsladen nicht billig, aber ab und zu gönnen wir uns den Luxus mal.
»Drück mir die Daumen.« Mein Herz hüpft mir gleich aus dem Mund raus, wenn es sich nicht endlich beruhigt.
»Ich drücke dir alles«, versichert er mir und beugt sich über mich. Mit einem Klack ist die Tür auf und er schubst mich vom Sitz herunter. »Und nun mach.«
Nur ungern verlasse ich die kuschelig warme Rostlaube und werfe mich ins Schneegestöber. Die vielen Stufen zur Akademie renne ich hoch. Die Frauen und Männer, die vor dem Eingang stehen und rauchen, ignoriere ich.
Ich habe kein Geld, um mich hier einzuschreiben, allerdings habe ich durch den Talentwettbewerb eine Chance. Jesse hat erfahren, dass man nicht nur das Preisgeld gewinnt, sondern auch ein Stipendium! Dafür muss ich mich notgedrungen erst einmal anmelden.
Die Akademie sieht aus wie ein Gebäude aus Griechenland mit riesigen Säulen und Torbögen. Sie wollten wohl, dass der erste Eindruck einen aus den Socken haut. Das haben sie geschafft. Außerdem werden darin auch Theaterstücke aufgeführt und Musicals! Die Hallen und Säle müssen gewaltig sein!
Mit meinen Klamotten komme ich mir schäbig vor. Eigentlich ist es ein Outfit, in dem ich mich sexy fühle, egal wie lausig der Tag ist, aber neben grazilen Frauen, die eine Ausstrahlung haben, als wären sie bereits Stars, bin ich ein Nichts.
Die ›Melodiya‹ ist eine Akademie, in der Sänger und Tänzer ausgebildet werden. Es ist eine Fabrik für Supertalente, die der Schönheit und Ästhetik ihr Leben gewidmet haben.
Mit schnellen Schritten laufe ich durch die gewaltigen Gänge. Irgendwo klimpert jemand auf einem Klavier herum und ich genieße die muntere Melodie. Allein die Luft hier drin riecht schon so vielversprechend, dass ich sie gierig einatme. Es sind feine Aromen von Klavierholz, altem Linoleum und vergilbten Notenblättern. Die Hände balle ich zu Fäusten und schlucke noch einmal schwer. Das habe ich mir immer gewünscht. Nicht unbedingt Tanzen, aber singen! Was, wenn ich mal in einem Musical mitspielen dürfte? Das wäre doch der Wahnsinn!
Hastig folge ich dem Pfeil, der die Richtung zum Sekretariat andeutet. Ich biege zwei Mal falsch ab, muss eine junge Frau um den Weg fragen und verliere mich beinahe in dem Labyrinth aus Gängen und Türen. Zum Glück habe ich es letztendlich gefunden, bevor mich der Mut verlassen hat.
In meinen Klamotten rinnt mir der Schweiß in Wasserfällen am Körper herunter.
War das wirklich die richtige Entscheidung? Was, wenn ich nicht gut genug bin? Verdammt, diese Zweifel helfen mir auch nicht weiter. Augen zu und rein da!
Die Türklinke reiße ich beinahe inklusive geschnörkelter Halterung heraus, ehe ich durch die Tür stürme und nach Atem schnappe.
»Guten Tag!«, sage ich zu engagiert. Ob es unverschämt ist, dass ich das Klopfen vergessen habe? Egal, da muss ich jetzt durch. »Ich möchte meine Anmeldung abgeben. Ah … Bitte.«
»Für die Winterkurse?«
Boah, keinen Schimmer. »Äh ja. Bitte.« Höflich sein wird mich sicher vorwärtsbringen.
Die Frau, die auf mich zukommt, sieht aus, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gelacht. Ihr Mund ist zu einer geraden Linie zusammengepresst. Anscheinend will sie sich nicht mit einem freundlichen Lächeln die Mühe machen, um mir ein wenig der Nervosität zu nehmen. Ihre Haare hat sie zu einem Dutt nach hinten gebunden, was sie aussehen lässt wie Gollum, als er schon jahrelang vom Ring der Macht besessen war.
Verkniffen zeige ich ihr mein schönstes Lächeln. Das würde vielleicht besser ankommen, wenn ich nicht spüren würde, wie mir ein dicker Rotzfaden aus der Nase läuft. Wie kann ich ihn unbemerkt wegwischen? Schnell nehme ich einen tiefen Atemzug, um einen zusätzlichen Tropfen zu verhindern, der bereits auf dem Boden gelandet ist. Ich zupfe an den Fransen meines Schals herum, während ich meine Mundwinkel zwinge, oben zu bleiben.
Ihre Augen huschen über meine Handschuhhände, ehe sie mir den Brief abnimmt.
»Aleksei … Worobjow?«, fragt sie und betont den Namen komplett falsch.
»Das bedeutet ›Spatz‹«, kläre ich sie auf. Sie würdigt mich keines Blickes. Anscheinend ist ihr Gummibaum spannender, dem sie einen Staubkrümel vom Blatt wischt.
»Haben Sie alles richtig ausgefüllt?«
»Natürlich.«
»Sie können keine Unterlagen nachreichen.«
Ich bin den Mist dreimal durchgegangen und ich habe ihn extra noch Jesse gegeben, damit ich sicher nichts vergesse. Trotzdem habe ich gerade Muffensausen. Was, wenn ich etwas übersehen habe? Was, wenn mir Seiten rausgefallen sind?
»Alles vorhanden.« Verdammte Scheiße.
»Dann melden wir uns bei Ihnen.« Warum sagt sie das so, als würde sie sich gleich umdrehen und den Umschlag in den Mülleimer werfen?
»Äh … Also wann höre ich denn von Ihnen?« Ich zupfe mir an den Handschuhen herum, bevor ich noch weiter stammele und mich zum Idioten mache.
»Das kann vier bis sechs Monate dauern.«
Meine Hoffnungen platzen wie Seifenblasen vor meinen Augen. Das ist zu spät. Das Geld brauche ich doch für das Kinderheim und die haben nicht mehr vier Monate!
»Aber es … Im Internet stand, dass man sich noch für jetzt bewerben kann?«
»Das ist nur für herausragende Talente.«
»Ich bin ein besonderes Talent!«, platzt es aus mir heraus. Was sage ich da?
»Wir melden uns bei Ihnen, Herr …« Sie schielt auf meinen Brief herunter. »Worobjow.«
***
»Diese blöde Kacksau!«, brülle ich, als ich bei Jesse ins Auto springe. Den gesamten Weg bin ich nur gestampft. Wenn mir jemand dumm gekommen wäre, wäre ich sicher sofort ausgerastet.
»Was ist denn passiert?« Jesse kratzt sich an der Schläfe und zieht die Handbremse an. »Haben sie dich weggeschickt?«
»Ne.« Schön wär’s. »Die meinte, ich kriege in vier bis sechs Monaten Bescheid! Das ist viel zu spät, Jesse. Die blöde Kuh hat mich gesehen und erkannt, dass ich nur irgend so ein Kneipensänger bin, den man nicht ernst nehmen muss. Verdammte Scheiße.«
»Alek.« Beruhigend sagt er meinen Namen, aber ich bin außer mir. Mit voller Wucht ramme ich die Hände auf das Armaturenbrett, ehe ich meinen Kopf dort ablege.
»Ich werde immer ein jämmerlicher Loser bleiben. Das ist so eine Scheiße. Ich weiß auch nicht, ich habe mir direkt so Hoffnungen gemacht!«
»Hey. Du hast dich angemeldet und das ist toll. Die melden sich sicher bei dir.«
Jesse hat doch keine Ahnung. Bei meinem musischen Lebenslauf rasten die nicht aus. Was sehen sie denn da? Ich bin irgendein Kerl, der von der Realschule geflogen ist und die Ausbildung geschmissen hat. Danach gab es nur Gelegenheitsjobs und … Ach, ich weiß doch auch nicht. Warum habe ich mich da überhaupt hingetraut? Die lachen sich jetzt bestimmt kaputt.
»Die blöden Krücken mit ihren teuren Fummeln.«
»Scheiß auf die Kröten«, sagt Jesse und legt seine Hand in meinen Nacken. »Wenigstens hast du es versucht. Lass dich nicht unterkriegen.« Sein Lächeln ist aufmunternd, aber trotzdem fühle ich mich dadurch nicht besser. Seine Finger sind hingegen angenehm warm und schenken Trost.
»Wir fressen uns gleich bis oben hin zu, okay?«, sagt er und schaltet den Warnblinker aus. »Wir sollten uns verpissen, ehe sie die Polizei holen und uns abschleppen.«
Da hat er recht. Es ist aber auch unverständlich, warum es so wenige Parkplätze gibt. Die meisten sind fürs Personal und die anderen sind alle belegt.
»Ich futter mich so voll, dass ich mich danach nie wieder bewegen kann«, sage ich und schwärme innerlich schon von den Köstlichkeiten, die mich erwarten werden.
»Solange du nicht platzt.« Schmunzelnd zwinkert Jesse mir zu, ehe er in den Verkehr einschert. Sein Golf ist nicht wirklich High-Class, aber er hat eine funktionierende Heizung und er fährt. Mir reicht das. Ich brauche keinen Luxus.
»Weißt du noch, als Khurtin so hart gekackt hat, dass niemand mehr auf Klo wollte?«, frage ich Jesse, dem die Luft aus der Nase schießt.
»Explosionsartiger Durchfall«, bestätigt er mir und stimmt in mein Gackern mit ein.
»Der hat sein Sushi anscheinend nicht vertragen.«
»Eher die totale Lebensmittelvergiftung.«
»Ich fand’s lecker«, sage ich und drehe das Radio lauter, um mitzusingen. Die Autofahrten mit Jesse sind die besten. Wir grölen die Songs mit und geben uns nichts dabei. Bei ›Griechischer Wein‹ trommeln wir auf den Armaturen herum, während Jesse auf einem imaginären Glockenspiel herumklimpert. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Zum Glück hat er mich zur Akademie gefahren. Alleine hätte ich niemals die Eier dazu gehabt. So einen tollen Kerl wie ihn habe ich gar nicht verdient.
Wann wohl der Moment kommt, in dem er mich zurücklässt? Vielleicht ja für Smoochie Poo, oder Cupcake? Die waren zum Anbeißen. Ich würde es ihm nicht einmal krummnehmen, wenn er wieder eine Beziehung hat. Seine letzte ist ungefähr fünf Jahre her. Von mir kann ich da nicht reden. Nach meinem ersten Freund wollte ich niemanden mehr so an mich ranlassen.
Damals fand es ich cool, dass jemand mit mir zusammen sein wollte, aber Ekki hat mir echt wehgetan. Wie wäre es dann, wenn ich richtig Schmetterlinge im Bauch gehabt hätte? Nein. Verlieben ist ein zu hohes Risiko.
»Sie werden sich bei dir melden«, sagt Jesse und zwinkert mir zu. »Wenn du erst mal singst, dann kippen die sicher um.«
»Meinst du?«
»Klar. Denen fliegen die Perücken runter!«
Prustend ramme ich ihm den Ellenbogen in die Seite. Ganz genau. Weil ja jeder reiche Macker mindestens ein Toupet hat, damit man die Glatze nicht sieht.
Die Hände halte ich vor die Heizung und lasse sie anpusten. Wenn wir jetzt nur zum Burgerladen fahren würden, um uns etwas mitzunehmen, wäre das auch in Ordnung. Wir könnten uns bei mir hinlegen und den restlichen Tag witzige Videos schauen. Da hätte ich Lust drauf.
»Hüpf schonmal raus«, befiehlt Jesse und hält am Straßenrand. »Ich suche einen Parkplatz und komme nach.«