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5. Kapitel

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Aleksei

»Meinst du, Leute würden kommen, um mich singen zu hören?«, wispere ich gegen Jesses Haare, der mit dem Kopf auf meiner Brust liegt. »So viele, dass ich einen Saal füllen könnte?« Mit dem Zeigefinger fährt er die Höfe meiner Brustwarzen nach, während er sich mein Geschwafel anhört. Es ist bereits vier Uhr morgens, aber ich kann nicht einschlafen. Nachts sind meine Wünsche am lautesten.

»Das schaffst du bald«, flüstert er schleppend. Wahrscheinlich hat er die Augen schon längst geschlossen und meine blöden Fragen reißen ihn immer wieder aus dem Halbschlaf heraus.

Warum kommt er überhaupt her? Ist er so gerne bei mir, wenn er doch in seiner Wohnung sein könnte? Dort hat er ein großes Bett, niemanden, der ihn nervt und eine Aussicht über die Dächer von Hamburg. Vielleicht ist Jesse nicht reich, aber er hat sich ausreichend Geld erarbeitet. Ihm fehlt es an nichts.

Die Hilfe, die er mir anbietet, kann ich nicht annehmen. Was würde das aus mir machen? Früher oder später würde er mich leid werden und dann sitze ich auf der Straße. Solange wir unsere Freundschaft haben, genieße ich sie in vollen Zügen. Es ist letztendlich nur eine Frage der Zeit, bis ich weggeworfen werde. So war es bei meiner Familie schließlich auch.

Mein Vater sagte: »Es wird sich nichts durch die Hochzeit verändern.« Aber ich hätte ahnen müssen, dass eine neue Frau auch neue Probleme mit sich bringen würde. Im Endeffekt war alles anders.

Die gesamte Aufmerksamkeit lag auf meinen gerade erst geborenen Stiefschwestern. Marie und Alina. Die beiden waren winzige Püppchen in Rüschenhemden und pinken Bettdecken. Damals war ich jedoch zu dumm, um zu verstehen, was die Blicke meiner neuen Mutter bedeutet haben. Den Hass und die Abneigung, die sie bei meinem Anblick empfunden haben muss, konnte ich erst Jahre später nachvollziehen. Für sie war ich ein Eindringling. Ich war das Puzzlestück, das nicht in ihre ›straßenköterbraune‹ Welt gepasst hat. Also musste ich weg.

Die ersten deutschen Wörter, die ich gelernt habe, waren Höflichkeitsfloskeln und Schimpfwörter. Zuerst hielt ich ›Nichtsnutz‹ sogar für einen süßen Kosenamen für mich. Ich war so ein Dummkopf.

Es war ein gut überlegtes Gerüst aus Lügen, das meine Stiefmutter aufgebaut hat, um mich endlich loszuwerden. Sie hat sich selbst geschnitten, um meinem Vater erklären zu können, dass ich sie mit der Schere angegriffen hätte.

»Er ist eifersüchtig! Er wird uns niemals akzeptieren!«, hat sie geschrien.

Zuerst hat er mich verteidigt, aber mit der Zeit wurde ihr Einfluss auf ihn größer und der Widerstand, mich wegzugeben, verschwand.

»Du machst alles kaputt! Dein Verhalten ist untragbar«, hat er gebrüllt und mir Disziplin eingeprügelt. Irgendwann hat er mir nicht mehr geglaubt. Meine Stiefmutter hat andauernd geweint und ich war an allem schuld. Es wurde sogar so schlimm, dass meine Versöhnungsversuche nur ihren Hass gesteigert haben. Die Blumen, die ich pflückte, könnten bei den Babys Allergien auslösen oder gefährliche Bienen anlocken. Die gemalten Bilder wurden weggeworfen und schließlich hat sie mich beschuldigt, ihr Reißzwecke in die Schuhe gelegt zu haben.

Sie hat andauernd gelogen. Vor meinem Vater war sie so liebevoll zu mir, aber wenn er auf Arbeit war, begannen die schlimmsten Stunden des Tages. Ich war so unsagbar einsam. Ich mag mich gar nicht daran erinnern, wie oft ich im Garten saß und mit den Marienkäfern und Raupen geredet habe, als wären sie meine einzigen Freunde.

Meine Stiefmutter drohte letztendlich mit der Trennung, wenn ich mich nicht endlich benehmen würde. Die Tage wurden länger, die Schläge härter und die Nächte kälter. Ich weiß bis heute nicht, was ich ihr getan habe. Ich war sogar glücklich, eine neue Mutter zu haben. Ich wollte wieder in den Arm genommen werden, zusammen singen und abends Geschichten vorgelesen bekommen. Aber es war anders. Alles war so anders.

Für meine Stiefmutter war ich überflüssig, eine Made, die missfiel und vernichtet werden musste. Mit ihrem Eintreten in mein Leben, hat sie mir gezeigt, dass ich nur Ballast bin.

Anfangs haben sie sogar gesagt, ich würde nur für ein paar Monate im Kinderheim bleiben. Auch gelogen.

Sobald ich nicht mehr vonnöten, nicht mehr hilfreich bin, werde ich weggegeben. Vielleicht ist es bei Jesse auch so? Wenn der Sex öde und unsere Gespräche langweilig werden, was geschieht dann? Er sagt zwar, es würde niemals passieren, aber was, wenn doch?

Ich will nicht allein sein.

Um ehrlich zu sein, habe ich Angst davor, mich zu verlieben. Das sind Gefühle, die ich nicht haben kann. Sie machen einen dumm und am Ende … Jeder weiß doch, wie es ausgeht. Es gibt nur Kummer und Schmerz.

Die Arme lege ich enger um Jesse und drücke ihn an mich. Ich will ihn nicht verlieren. Er ist alles, was ich auf dieser Welt habe. Er ist meine Familie und mein bester Freund. Ich hoffe, es wird immer so bleiben.

Ich will nicht länger allein im Bett liegen und mir die Augen rot heulen, weil dort niemand ist, der sieht, wie es mir wirklich geht. Es sind zu viele Nächte, die ich so verbringe, während ich den Sternenhimmel anstarre, als könnte er mir die Leere nehmen.

Jesse ist jemand, der meine Träume nicht als lächerlich abstempelt. Selbst, wenn sie es sind. Ich werde eben nicht auf die Bühne gestellt, weil ich der größte Sänger bin. Mögliche Arbeitgeber sehen mein Gesicht und geben mir den Job, ohne einen Ton gehört zu haben. Es war bisher immer so. Manche versprechen sich Sex, wiederum andere wollen nur, dass ich halbnackt tanze.

Vor Jesse zeige ich es nicht, wie mich die Gedanken quälen, was einmal aus mir wird. Mein Aussehen ist vergänglich und was geschieht dann?

Bei der Ausbildung zum Erzieher bin ich rausgeflogen, weil ich mich nicht antatschen lassen wollte. Niemand aus dem Vorstand hat mich ernst genommen. Es waren Frauen mit seidenen Halstüchern und bunten Ohrsteckern, die mich belächelt haben, als ich ihnen von den Problemen berichtet habe.

Die Hand von meinem Ausbilder lag meistens nicht nur auf meinem Oberschenkel, sondern auch an meinem Intimbereich. Es war nach einer Teambesprechung, dass ich es nicht mehr ertragen habe. Er hat die Tür geschlossen und mich an sich herangezogen. »Ich kann nicht anders. Du musst doch wissen, wie du auf Männer wirkst«, hat er mir ins Ohr geflüstert und seinen Schritt an mir gerieben.

Zur Polizei konnte ich nicht gehen. Ich stand zwar schon vor dem Revier, aber vor diesem unterhielten sich gerade zwei Polizisten. Einer von ihnen hat mich angelächelt und sogar gefragt, ob ich Hilfe benötige. Aber meine Beine haben geschlottert und ich bin weggelaufen. Was, wenn sie mich ebenso auslachen? Meine Kumpels in der Berufsschule haben die Augen verdreht und gesagt, dass man einen Mann nicht belästigen könnte. Für sie war ich jemand, der Aufmerksamkeit braucht und alles dafür macht, um diese zu bekommen. Ich konnte ihnen nicht trauen. Also habe ich alles hingeworfen und bin bei Jesse untergekommen, wofür er Ärger gekriegt hat. Die Mieter in seinem Haus haben uns angeschwärzt und ich musste raus. Es war wohl unpassend, dort zu wohnen, ohne an der Adresse gemeldet zu sein.

Ich mache ihm immer nur Unannehmlichkeiten.

Danach habe ich mich zwar um weitere Ausbildungsplätze bemüht, doch sobald ich ein Bewerbungsgespräch hatte, bin ich in Schweiß und Tränen ausgebrochen. Allein der Gedanke, mit Fremden in einem geschlossenen Raum zu sein, war unerträglich.

Jesses Handy brummt und erhellt mein Zimmer. Es sind Namen von Bettgeschichten, die ich allesamt nicht kenne. Sie haben ihm über die letzten Stunden einige Nachrichten geschrieben. Manchmal schicken sie ihm Nacktbilder, die er mir dann stolz präsentiert. Das Vibrieren nervt, also stelle ich es auf stumm.

Die Liebhaber reißen sich um ihn und trotzdem könnten sie ihm auch mal eine Verschnaufpause gönnen.

Mist, jetzt liege ich wieder wach und denke über mein ganzes Leben nach. Wie ich das hasse. Normalerweise treffen die Erinnerungen mich nicht so und ich kämpfe eben um meine Ziele, aber ab und zu … Ich weiß auch nicht. Vielleicht macht die Nacht mich sentimental? Wenn ich mir vorstelle, dass Jesse irgendwann weg ist, mit einem süßen Kerl, mit dem er sich ein Haus kauft. Was wird dann aus mir? Ich bin hin und her gerissen, ob er sein Versprechen hält und bei mir bleibt, oder ob er eines Tages doch verschwindet.

Als ich meinen ersten Freund hatte, gab es viele Gerüchte über ihn. Zuerst konnte ich es gar nicht glauben. Zu mir war er immer zuckersüß und hat mir sogar Schokoladenriegel in der Pause gegeben. Schlussendlich wollte er nur Sex von mir und ich eben nicht. Also wurde ich weggeschmissen.

Es ist, als würde ich es ausstrahlen, dass ich nur so lange brauchbar bin, bis ich auf den letzten Tropfen Blut ausgesaugt wurde.

›People pleaser‹ war der Begriff, den ich gelesen habe, als ich auf unzähligen Internetseiten suchte, was eigentlich mein Problem sein soll.

Menschen wie ich brauchen das Gefühl, gebraucht zu werden, sogar so sehr, dass sie sich hintenanstellen und ›ja‹ sagen, wenn sie ›nein‹ denken. Aber ich will auch nützlich sein. Ich will Jesse bei mir behalten. Ist das denn verwerflich? Was ist falsch daran? Dummes Internet. Das hat doch keine Ahnung von meinem Leben!

Genervt schnappe ich mir Jesses Handy, das erneut blinkt. Wer zur Hölle ist Smoochie Poo? Wie kann er denn so jemanden einspeichern?

0210 und das Smartphone ist entsperrt. Es ist das Datum unseres ersten Star-Wars-Kinobesuchs. Als ob ich mir den Code nicht merken könnte. Denkt er wirklich, er wäre nicht zu knacken?

Smoochie Poo hat einen geilen Body und einen kleinen Leberfleck an seinem Bauchnabel. Warum schickt der um die Uhrzeit ein Nacktfoto? Ist der etwa so verzweifelt?

In den ganzen anderen Chats gibt es eine Unmenge an Nacktbildern von attraktiven Kerlen. Verdammt, mit solchen Granaten hängt er rum?

Neben Cupcake und Sweetkins gibt es auch Honey Pie. Was sind das nur für Kosenamen? Ist Jesse so ein Player, dass die Typen alle keine ordentlichen Namen haben? Wobei … Warum rege ich mich auf? Ich kann mir ebenfalls kaum einen Typ merken, den ich im Bett hatte.

Mein Herz hüpft vor Freude, als ich unsere Nachrichten entdecke. Er hat mich als Alek eingespeichert. Na geht doch.

»Was machst du?« Jesse grummelt schlaftrunken und küsst meine Schulter. »Kannst du nicht pennen?«

»Geht so.« Sein Handy lege ich schnell weg, ehe er mein Rumschnüffeln bemerkt. Die feine Art ist das ja nicht.

»Komm her. Na komm, Alek.« Die Arme hält er auf, damit ich mich an ihn kuscheln kann. Eine Hand drückt er unter meiner Taille durch, während er mich mit der anderen zu sich zieht. »Sch. Schlaf jetzt etwas.«

Seine Stimme ist angenehm tief. Ich mag seinen Leder-Zitrus-Geruch und wie ruhig sein Herzschlag sich anhört. Regelmäßig pulsiert es und scheint mein Herz anzustecken.

Langsam fahren seine Finger die Linien an meinem Hals nach. »Lover«, wispert er.

Vor ein paar Jahren habe ich mein Erspartes zusammengekratzt, um mir ein Tattoo zu leisten. Vielleicht haben manch andere Tattoos die größte Bedeutung und die umwerfendste Geschichte, aber ich wollte es schlicht. Alles, was ich immer wollte, war …

Manchmal ertrage ich es nicht, bei Jesse zu sein. So bei ihm zu liegen, zeigt mir nur, wie ein Leben wäre, das ich mit einem Liebhaber führen könnte.

Liebhaber? Von wegen. Wer kann mich schon lieben?

Wenn ich auf der Bühne stehe und den Gästen mein Theater vorführe, sehe ich oft Verliebte im Publikum. Sie sind nicht wie alle anderen, die sich darum reißen, meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Die Paare haben nur Augen für sich. Es ist etwas, von dem ich mich nicht abwenden kann. Ich bin gefesselt von diesen Blicken, die sie sich zuwerfen.

Ich kann nur erahnen, was sie fühlen und beneide sie darum. Ist das nicht skurril? Vor mir drängeln sich meistens dreißig Kerle und ich schmachte dem Pärchen hinterher. Ich wünschte, ich wäre mutig genug, jemanden in mein Herz zu lassen.

Aber was mache ich mir vor? Mein Charakter ist schlecht, ich rede vulgär und meinen Humor habe ich von Jesse geklaut.

Ein Spatz auf dem Eis

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