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9. Kapitel

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Aleksei

»Ich platze!«, stöhne ich und streiche mir über die Wampe. »Noch ein Sushistück und boom!«

Jesse ist auch schon ein wenig grün um die Nase. Vor mir sitzt er an dem langen Tisch und hängt wie ein Schluck Wasser auf dem Stuhl. Während ich mir die dicke Kugel halte, kratzt er sich über die Kehle, als müsste er gleich kotzen.

Wenn wir zu einem All-You-Can-Eat-Restaurant gehen, dann wird es immer ein Drama. Am Anfang lachen wir und stopfen uns voll, bis wir plötzlich dermaßen voll sind, dass wir Schweißausbrüche kriegen. In diesem tragischen Moment kommt dann meistens noch die Bedienung und bringt einen riesigen Teller mit Sushi vorbei.

»Wir sollten eine Handtasche mitbringen«, flüstert Jesse und schluckt zweimal schwer. »Für alles, was übrigbleibt.«

»Ne, du musst das alles essen.« Wenn wir beim Diebstahl erwischt werden, bekommen wir Hausverbot!

Seufzend lehne ich mich zurück und rutsche tiefer. Wie soll ich nachher überhaupt tanzen, wenn ich jetzt nicht einmal aufstehen kann? Wir müssen die letzte dieser zwei Stunden so verbringen, dass ich mich wieder bewegen kann. Von wegen diesmal futtern wir die ganze Zeit durch. Das schaffen wir nie.

»Das ist der beste Laden«, säusele ich und spieße ein Essstäbchen in ein Maki. »Selbst bei meiner Hochzeit würde ich herkommen, sodass sich alle ins Koma mampfen.«

»Du willst heiraten?« Jesse reibt sich über die dichten Augenbrauen und wirft mir einen skeptischen Blick zu.

»Ne, ich meinte nur ›wenn‹.« Als ob ich mich so binden wollen würde. Das ist wirklich das Letzte, was auf meiner To-do-Liste steht. Beziehungen und all das … Das holt doch nur das Schlechte aus einem Menschen heraus. Entweder man wird abgegeben oder verprügelt. Das möchte ich nicht. Weder für meinen Partner noch für mich.

Neben uns schmatzen die Gäste. Im Gegensatz zu uns schlingen sie nicht, sondern lassen sich Zeit und genießen jedes einzelne Stück, das ihnen präsentiert wird.

Ich neige mich vor und schiele auf ihr Tablet, mit welchem sie die Bestellung aufgeben müssen. Während sie genüsslich bei Runde drei sind, sind wir schon bei der achten.

»Was für Loser«, nuschelt Jesse hinter vorgehaltener Hand, was mich breit grinsen lässt. Es ist manchmal, als könnte er Gedanken lesen.

»Meinst du, wir schaffen noch eine Portion?«, frage ich und wackele mit den Schultern, während Jesse sich mit gequältem Gesicht etwas Sushi in den Mund schiebt. Als wäre es aus Gummi, kaut er lange und ausgiebig darauf herum.

»Wenn ich das runterschlucke, dann war es das für mich«, erklärt er.

Ich kann nicht anders als loszuprusten. So fertig habe ich Jesse definitiv noch nie gesehen. Der hängt da ja, wie ein überdimensional großer Wackelpudding, der gleich vom Stuhl purzelt.

»Iss! Iss! Iss!«, feuere ich ihn an und werfe meine Faust im selben Rhythmus wenige Zentimeter nach oben.

»Alek, halt die Klappe.«

»Wenn du mich weiter zum Lachen bringst, muss ich kotzen.« Das brodelt echt gefährlich in meinem Magen.

Wie zwei Alkoholleichen drücken wir uns hoch und taumeln zur Theke hinüber, um zu bezahlen. Jesse lädt mich ein und ich folge ihm zum Auto. Ich kann mich kaum alleine bewegen. Meine Beine sind wabbelig, was ich auch von meinem Bauch sagen kann. Mir platzt die Hose.

»Weißt du, was schlimm ist?«, fragt Jesse, als ich mir den obersten Knopf der Jeans öffne und durchatme. Wir laufen zur Tiefgarage hinunter, da grinst er ganz verschmitzt.

»Was denn?«

»Wenn man denkt ›Ach, ich bin so voll. Ich mache mir den obersten Knopf der Hose auf‹ und dann ist er schon offen.«

Gackernd halte ich mir die Hand auf den Mund und die andere auf meine Körpermitte. »Mann, Jesse! Ich sagte, du sollst mich nicht zum Lachen bringen! Ich schwöre dir, ich kotze dir ins Auto!«

»Ah, bloß nicht!«

Wie ein Gentleman hält er mir die Beifahrertür auf, damit ich mich wie eine Schwangere im neunten Monat hinsetzen kann.

»Ich habe keine Ahnung, wie du noch fahren kannst.«

Jesse setzt sich hinter das Lenkrad und holt tief Luft.

»Weiß ich auch nicht.«

Den Kopf lehne ich an seiner Schulter an, nachdem ich mich angeschnallt habe. Ich bin so vollgefuttert. Ein Nickerchen wäre jetzt echt genial.

Das Radio drehe ich leiser, damit mir das schrille Gebrüll von Jesses Lieblingsband nicht auf den Magen schlägt. Obwohl da etwas anderes ist, das mich nicht zur Ruhe kommen lässt. Dieses dumme Vorsingen.

»Ich hoffe, ich bekomme schnell eine Antwort von der Akademie.« Auch, wenn es erst für das nächste Semester ist, will ich dabei sein. Es ist egoistisch, aber ich habe nur eine Chance und die will ich nutzen.

»Die haben sicher viele Anmeldungen. Eine oder zwei Wochen wird das schon dauern.«

Genervt verziehe ich den Mund. »So lange will ich nicht warten.«

»Oh, entschuldigen Sie, Prinz Aleksei von und zu Worobjow. Für Sie machen wir natürlich eine Ausnahme und werden Sie unverzüglich informieren.« Mit übertrieben hoher Stimme albert er herum. Er wirft einen Blick über die Schulter und haut den Rückwärtsgang rein, um auszuparken.

»Du bist echt blöd.«

»Du musst geduldiger sein.«

Die Heizung pustet mir warme Luft ins Gesicht, was mir die letzten Kraftreserven nimmt. Wenn ich hier im Beifahrersitz schmelze, dann ist das eben so. Meine Augen werden schwer und ich kann sie kaum noch offen halten.

Jesse fährt vorsichtig durch die Innenstadt, um mich vorm ›MakeMeMoan‹ abzusetzen. Früher wurde der Laden mal ›Tripple M‹ genannt. Das war quasi ein Insider-Tipp. Aber ich mag den verruchten Klang von ›Moan‹. Denn das machen wir schließlich, wir bringen die Gäste zum Stöhnen.

Jesses Hand liegt auf meinem Oberschenkel, während er an der Ampel darauf wartet, dass sie grün wird.

Seine Finger tippen im Rhythmus der Musik auf meiner Jeans herum. Es sind gute Beats. Welche, bei denen ich unweigerlich an Jesses Vorhaben denken muss. Meint er es eigentlich ernst mit dem Club? Will er sich einen eigenen kaufen? Seitdem er es angesprochen hat, hat er es nie wieder erwähnt. Vielleicht hat er es auch nur aus dem Moment heraus gesagt? Nach dem Sex ist man voller fälschlicher Glücksgefühle, die einen Dinge anders wahrnehmen lassen. Man sagt und tut Sachen, die man nicht einmal meint.

Es gibt Kerle, die danach weinen. Sie sind überfordert von den Gefühlen, die einen überkommen und dann flennen sie als Ausgleich, bis sie sich beruhigt haben. Das habe ich schon einige Male erlebt. Mir taten die Typen leid und trotzdem konnte ich sie nicht trösten. Was erwarten sie von mir? Ich bin nicht ihr Liebhaber, sondern nur ein schneller Fick.

»Ich muss gleich noch woanders hin«, säuselt Jesse und dreht das Radio aus. »Schreib mir später, ja?«

Wo will er denn hin? Langsam blinzelnd sehe ich zu ihm hinüber und nicke.

Von mir aus.

Jesse verhält sich nicht zum ersten Mal so, als hätte er neben mir eine Familie mit Frau und zwei zuckersüßen Kindern. Aber was soll ich dazu sagen? Nichts. Das Auto ruckelt und brummt laut, während mir keine Antwort einfällt.

»Danke, dass du mich eingeladen hast«, singe ich und er bleibt vor dem Eingang des Clubs stehen.

Tagsüber sind die vergilbten Lichterketten ausgeschaltet, die überall in den Bäumen hängen. Nachts sieht es aus, als würden bunte Feen im Außenbereich tanzen.

Allerdings ist es im Winter zu kalt, um draußen zu sitzen. Also gibt es nur im Sommer diese magischen Momente.

Letztes Jahr habe ich mit einem Kerl unter den Bäumen geknutscht. Es war sogar schön, wie die bunten Lichter sich in den Drinks widergespiegelt haben. Der Typ hat mir ein Schirmchen ins Haar gesteckt und mir seine Liebe gestanden. Normalerweise wäre ich direkt weggerannt, oder hätte ihm den Cocktail ins Gesicht geschüttet. Aber er hatte etwas an sich, das mich angesprochen hat.

Er war eher der ruhige Typ. Ein Macho vom Aussehen her und dennoch sanft. Mit seinem bosnischen Akzent und den vielen Tattoos an Hals und den Oberarmen hat er mich ganz wuschig gemacht. Vielleicht auch, weil er mir die ganze Zeit am Ohr geknabbert hat, während er wollte, dass ich ihn ›Daddy‹ nenne?

Ich habe ihm ebenfalls ein paar russische Worte auf die Lippen gehaucht und er hat gestöhnt, als würde er gleich abspritzen. Das hat ihn und die Umherstehenden umso heißer gemacht. Mich ebenso. Wahrscheinlich habe ich eine Schwäche für die Männer aus den Balkanstaaten.

Na ja, trotzdem kam sein Freund nach ein paar schönen Momenten um die Ecke gerannt und hat mir ein Glas Alkohol ins Gesicht gekippt.

»Du widerliche Hure!«, hat er geschrien und jedem Gast damit erklärt, dass ich mal wieder irgendeine Beziehung zerstört habe.

Ich habe wahrscheinlich gar kein Gefühl mehr für liebenswerte Männer. Immer, wenn ich annehme, sie wären eine Ausnahme, werde ich vom Gegenteil überzeugt. Aber vielleicht war auch der Alkohol zum Teil schuld an meiner Wahrnehmung.

Danach hat Jesse sich auf den Kerl geschmissen und sich mit ihm geprügelt. Er wollte meine Ehre verteidigen. Es war wie damals im Kinderheim. Wenn alle mich fallen lassen, ist Jesse jederzeit für mich da.

»Steigst du bald aus oder machst du blau?«, fragt Jesse und reißt mich aus den Gedanken raus. Der Blinker klackt im gleichmäßigen Rhythmus und ich nehme Jesse noch einmal fest in den Arm.

»Ich gehe.«

Ein Spatz auf dem Eis

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