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2. Kapitel

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Aleksei

Es riecht nach Theaterschminke und billigem Parfüm, das fies in der Nase kribbelt. Irgendjemand dachte anscheinend Marshmallows und Vanille wären zusammen ein himmlisches Aroma. Da hat er sich aber geirrt.

Von den Decken hängen rote und pinke Tücher, die nur von den runden Glühbirnen beleuchtet werden, welche die vielen Spiegel umrahmen. Jeder Tänzer hat seinen eigenen Platz, an dem er sich zurechtmachen kann. Meiner ist der am Ende des Raumes. Hier ist die Musik nur dumpf zu hören und es gibt ein Sofa und mehrere Sessel, auf denen wir nach einem harten Arbeitstag entspannen können. Außerdem will ich nicht direkt neben den Zicken sitzen und mir macht es nichts aus, halb in der Garderobe zu stehen. Draußen, auf den Dancefloors, haben sowieso alle nur Augen für mich. Das erklärt auch den großen Konkurrenzkampf zwischen den anderen und mir.

Klingt es dumm, dass ich erleichtert bin, weil ich nicht gemobbt werde? In meinem Alter sollte ich da eigentlich drüber stehen. Manchmal bin ich eben doch nur ein eingeschüchterter, kleiner Junge, der denkt, nichts wert zu sein.

An meiner Schminktasche lehnt ein Kondom neben einer Karte, die jemand mit einer Büroklammer festgeklemmt hat. Darauf wurde eine Handynummer in wackeligen Buchstaben gekritzelt. Wer weiß, von wem die schon wieder ist. Ich bekomme Dutzende Nummern von Namen, die mir allesamt nichts sagen.

Die Tür wird aufgezogen und das darauffolgende, begeisterte Quietschen lässt mich aufhorchen.

»Guten Abend!«, begrüßen die Tänzer den Mann, der den Raum betritt und uns sein schiefes Grinsen präsentiert. Wie die Schmeißfliegen werfen sie sich auf meinen Kindheitsfreund.

»Siehst du mir nachher zu?«

»Kommst du zum zweiten Dancefloor? Da trete ich heute auf!«

»Natürlich«, verspricht er ihnen, während er nur mich ansieht.

Jesse hat sich die Haare weinrot gefärbt, was seine grünen Augen unreal aussehen lässt. Sie sind zu hell für seine sonnengebräunte Haut. Vielleicht ist es das, was die Tänzer verrückt nach ihm macht?

Er hat ein eckiges Gesicht mit einem runden Kinn, das in der Mitte ein tiefes Grübchen ziert. Die Narbe an der gezupften Augenbraue, verdankt er mir. Damals bin ich von einem Baum heruntergefallen und habe ihm den Fuß direkt auf die Zwölf geschmettert. Es war eine Platzwunde, die geblutet hat, als wäre er kurz vorm Sterben. Ich hatte schreckliche Angst um ihn. Die anderen Narben sind von den Windpocken. Es sind kleine auf der Stirn und eine neben seinen breiten Lippen. Generell hat er unzählige Schrammen, die seinen Körper zieren. So oft, wie Jesse sich geprügelt hat, ist es ein Wunder, dass noch alle Körperteile dran sind.

Jesse vergräbt seine Nase an meinem Nacken und nimmt mich von hinten in den Arm.

»Was ist denn?«, frage ich ihn und tätschele seinen Hinterkopf.

»Ich bin müde.«

Normalerweise ist es den Gästen nicht gestattet, sich in der Umkleide aufzuhalten, allerdings gibt es für Jesse eine Ausnahme. Die anderen Tänzer mögen es, ihn bei sich zu haben. Zumindest verpfeifen sie ihn nicht, wenn er sich hereinschleicht. Die meisten erhoffen sich dadurch, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Sie kennen keine Scham und laufen absichtlich nackt oder leicht bekleidet vor seiner Nase herum, ehe sie sich ihre Outfits heraussuchen. Das gedimmte blaue Licht formt ihre makellosen Körper nach und lässt die Bodylotion auf ihrer Haut glitzern. Sie sind allesamt attraktive Männer und das wissen sie. Es zeigt sich in ihren Augen und dem selbstverliebten Lächeln, das sie sich im Spiegel zuwerfen, bevor sie zu den Dancefloors hinausgehen.

Einer von ihnen zieht sich die Strümpfe bis zu den Oberschenkeln hoch und betrachtet Jesse dabei, wie er meinen Nacken liebkost. Ich lächele unbeholfen und knöpfe mir das Hemd zu.

Einerseits tut es gut, wie Jesse an allen vorbei geht und nur mich in seinem Fokus hat. Ich bin Aleksei, der Mann, mit dem er alles machen kann. Andererseits ist es unangenehm. Jesse behandelt mich, als würde er Nettigkeits-Lose sammeln, bis er Sex als Hauptgewinn einlösen kann.

»Für wen machst du dich so hübsch?«, fragt er.

»Für die Gäste.« Ich stecke mir das Haar mit Spangen zurück, ehe ich Jesse wegdrücke, der seine Hände in meine Hose schiebt. »Ärger mich jetzt nicht.« Wie soll ich mich so fertig machen?

Die anderen benutzen gerne schrille Schminke, aber ich mag Make-up nicht. Danach sieht meine Haut aus wie ein Streuselkuchen. Etwas Puder genügt oder auch mal Glitzersteine, die ich mir auf die Wangenknochen klebe. Allerdings ist Jesse unzufrieden, dass er nicht meine gesamte Aufmerksamkeit bekommt. Er schnalzt mit der Zunge und streichelt meine Seiten unter dem Hemd.

»Die Arbeit war schrecklich. Gönn mir doch etwas Spaß.«

»Wieder das monatliche Meeting?«

»Es geht um die Gehaltsgespräche. Das ist kein Kaffeekränzchen.«

Den Schminkbeutel schiebe ich in die Ecke und zupfe mir die Haare zurecht. Die schimmernde Bodylotion riecht nach Vanille, ein Geruch, den ich gar nicht ausstehen kann. Aber sie ist hübsch, also muss ich da durch.

»Kommt ihr?«, ruft Timmy, der in seinem knappen Kellner-Outfit seinen halben Hintern präsentiert. »Die Leute wollen bespaßt werden!«

Ich ziehe meine Hose aus und greife mir die schwarze Jeans, was Jesse als Aufforderung sieht, mich hochzuheben und sich mit mir auf einen Sessel fallen zu lassen. Wir sind umrahmt von farbenfrohen Boas, von denen sich einige Federn lösen und um unsere Köpfe herumschwirren. Grinsend zwickt er mir in den Po.

»Sehr witzig, Jesse.« Ich hänge mit einem Bein noch in der Hose und kann nicht aufstehen, ohne peinlich von ihm herunter zu krabbeln. Am Kinn drücke ich ihn weg, als er meine gepunktete Unterhose anstarrt.

Was ist heute mit ihm? Normalerweise hält er sich vor anderen zurück, aber in letzter Zeit wird er immer fordernder.

Es gab mal eine Abmachung, dass wir nur knutschen, wenn wir miteinander schlafen, doch inzwischen haben sich alle Grenzen verschoben. Jesse macht, was er will.

»Ich muss gleich raus. Der Inhaber möchte mit mir reden und ich …« Kaum stelle ich mich wackelig auf ein Bein, packt er mich aus der Luft und platziert mich auf seinem Schoß.

»Was ist mit dem Lapdance, den du mir versprochen hast?« Mehrmals wackelt er mit seiner Augenbraue. »Als verspätetes Geburtstagsgeschenk!«

»In deinen Träumen vielleicht.«

»Alek.« Wie er meinen Namen betont, lässt die anderen Tänzer herübersehen. Es ist diese tiefe Stimme, die jeden Kerl schwach machen würde. Aber ich bin keiner seiner dummen One-Night-Stands. Ich mag es nicht, wenn er mich wie eine seiner Liebschaften behandelt. Wir sind Freunde.

Wir haben Sex und mir ist bewusst, dass das alles kompliziert macht, aber ich kann eben nicht ›nein‹ sagen, auch wenn ich es gerne würde. Jesse ist alles, was ich habe, meine Familie und mein bester Freund. Wenn ich ihn vor den Kopf stoße, könnte ich alles verlieren.

Als mein Vater mich im Kinderheim abgegeben hat, war Jesse derjenige, der mich vor den Älteren beschützt hat. Sie wollten mich verprügeln, weil ich schmächtig und neu war. Seitdem bin ich Jesse nicht mehr von der Seite gewichen. Wir waren Außenseiter, doch wir hatten uns. Und das hat mir immer gereicht. Für ihn würde ich den Mount Everest erklimmen. Wenn er etwas verlangt, mache ich es ohne Rücksicht auf Verluste. Solange er dafür bei mir bleibt.

Die Schultern lasse ich fallen und kuschele mich an seine verschwitzte Brust. Ich höre, wie hektisch sein Herz schlägt, während seine rauen Hände meinen Hals liebkosen.

Die anderen Tänzer verlassen die Umkleide und Jesse knüpft mein Hemd wieder auf.

In seinen Küssen ist eine Wahrheit versteckt, die ich nicht sehen will. Selbst, wenn wir miteinander schlafen, bin ich wie eine Hülle, mit der er spielen kann. Es ist, als könnte niemand etwas in mir berühren, egal, wie sehr ich es mir wünsche.

Mit der Nase streicht er mir über die Kehle, ehe er mir in die Haut beißt.

Meine Finger gleiten in seinen Undercut und ich neige mich vor, sodass er mich küssen kann.

***

Die Arme lege ich fester um Jesses Nacken, als er mich hochhebt und aus der Umkleide trägt. Er präsentiert mich erst dem Barkeeper, der uns skeptisch mustert und danach dem Dancefloor, über den er geht. Ich bin wie eine Trophäe, die er allen zeigen will. Aleksei Worobjow – der Mann, den man mal gehabt haben muss.

Hoffentlich hat der Inhaber nicht schon nach mir gefragt. Wenn er sieht, dass ich nicht auf der Bühne war, sondern mit Jesse in der Umkleide, gibt es Ärger. Warum lasse ich mich nur immer zu Dingen verführen, die mich Kopf und Kragen kosten könnten? Manchmal bin ich wirklich ein Fähnchen im Wind.

An Jesses breiten Schultern kann ich mein Gesicht verstecken. Die Gäste des Clubs starren und ich spüre, wie ihre Blicke auf meinem Körper brennen. Für sie bin ich nur eine Hure. Ich kenne meinen Ruf und meistens ist es mir egal. Die Leute bilden sich ihre Meinung sowieso und ich kann es nicht ändern. Andererseits gibt es auch Tage, an denen ich mir wünsche, sie würden mich als das sehen, was ich in Wahrheit bin. Aber wer gibt sich schon die Mühe?

Die Männer erzählen, ich wäre eine Schlampe? Die gebe ich ihnen. Sie wollen meine Arroganz? Ich hoffe, sie ersticken dran.

Die Musik pulsiert nicht nur in unseren Brustkörben, sondern auch im Club. Den Gästen wird heute mit Elektrosounds eingeheizt. Es gibt viele Männer, die meine Aufmerksamkeit kurzzeitig auf sich ziehen, sie haben geile Körper und attraktive Gesichter, trotzdem sind sie jedes Mal eine Enttäuschung.

Ich weiß nicht, was mit mir falsch ist. Für mich ist Jesse der wichtigste Mensch auf der Welt. Warum fühle ich mich dennoch, als wäre ich alleine?

»Zieh nicht so eine Schnute«, sagt er und streichelt meinen Hinterkopf. »Wolltest du mir nicht noch dein heißes neues Outfit zeigen?«

Neben der Abstellkammer, auf der dick und fett Privat steht, ist eine Tür, hinter der sich eine Wendeltreppe befindet. Jesse trägt mich diese hoch. In der ersten Etage sind nur kleine Lagerräume, die früher einmal zu einem Bürokomplex gehört haben. Es ist ein langer Flur, von dem die zweite der vielen Türen zu meinem Zimmer führt.

»Fall nicht wieder über deine Müllberge«, flüstert Jesse, als er mich absetzt. Ich halte ihn einen Moment länger im Arm, ehe ich die Wärme aufgebe. Ich bin so dankbar, ihn in meinem Leben zu haben. Ohne ihn würde ich durchdrehen. Ich bin wie ein Parasit, der an einem Baum klebt, weil er ohne nicht überleben kann. Lächelnd knuffe ich ihm in den Bauch.

»Ich habe aufgeräumt.« Mit Stolz geschwollener Brust schalte ich das Licht ein und präsentiere ihm mein Wohn-Schlafzimmer.

Dadurch, dass ich einige Regale voller Comics und Fotos habe, sieht es immer chaotisch aus. Allerdings ist der Boden frei von zerknüllten Tüchern und alten Unterhosen. Das ist eine Verbesserung!

»Du räumst doch nie auf. Wie kommt es denn dazu? Staatsbesuch der Königin?«

»Der Kerl gestern war die größte Enttäuschung des Jahres«, erkläre ich und schalte die Lichterketten an, die neben meinem Bett hängen. Was sollte ich ansonsten tun, wenn ich die ganze Nacht wach liege? Die Wollmäuse haben mich so hartnäckig beim Flennen beobachtet, da musste ich sie wegscheuchen. »Der Typ dachte, er könnte mit seinem Knüppel richtig gut umgehen, aber es war total traurig. Ehrlich.« Lächelnd verdrehe ich die Augen, was Jesse zum Schmunzeln bringt.

»Dabei ist es gar nicht so schwer bei dir«, sagt er und reißt mich von hinten an seinen Brustkorb. Verspielt knabbert er mein Ohr an, was mich quietschen lässt.

»Lass das!«, protestiere ich. »Keine Knutschflecken!« Wenn das jemand sieht, fliege ich hier wieder raus.

Seine Hand schiebt er in meine Hose und packt sich meine Backen.

»Du solltest echt mal ein Kondom benutzen«, flüstere ich und schiebe ihn weg.

»Ohne fühlt es sich besser an.«

»Aber ich muss mich jetzt noch waschen, bevor ich auftrete. Das dauert. Außerdem kriege ich davon Bauchweh und das weißt du ganz genau.«

»Die Wichstüten sind hier alle viel zu eng.«

Seufzend verschränke ich die Arme vor der Brust. Wenn ich nicht wüsste, dass nahezu ein LKW in ein Kondom passt, würde ich es ihm ja glauben. Mein Bio-Lehrer hat mal ein Gummi über seinen ganzen Arm gestülpt, um zu zeigen, wie elastisch die sind. Allerdings will ich nicht deswegen streiten. Jesse macht ja sowieso immer, was er will.

Während ich ein fleckenfreies Bühnenoutfit aus dem Schrank heraussuche, zieht Jesse mich aus.

»Alek«, raunt er und küsst die Wirbel in meinem Nacken herunter. Eine Gänsehaut begleitet seine Berührungen, die gleichzeitig heiß und kalt ist.

»Was machst du da?« Ich keuche und drehe den Oberkörper herum. Seine Nase versenkt er plump in meinem Hintern, da spüre ich eine freche Zunge.

»Jesse!« Ich drücke seinen Kopf an der Stirn zurück. »Bist du eigentlich Banane?«

»Wer weiß das schon?« Als wäre ich federleicht, reißt er mich von den Füßen und wirft mich auf das Bett. Meine Hose geht fliegen und befördert auf ihrem Weg eine Star-Wars-Figur von meiner Kommode.

Wenn die kaputt ist, dann breche ich ihm die Arme.

»Darf ich?«, flüstert er und verteilt kleine Küsse auf meinem Bauch. Es sind die hellen Narben, deren Geschichte nur er kennt. Sie sind inzwischen kaum noch sichtbar, aber er liebkost jede einzelne, meine Lenden entlang.

»Ich kaufe einen Club«, flüstert er gegen meine Haut. »Dann hast du deine eigene Bühne, auf der du auftreten kannst. Ich habe das alles gut durchdacht, Alek.« Seine Augen glühen, als er zu mir hochsieht.

Was für ein Bild: Da liegt er zwischen meinen Beinen, eins sogar über seine Schulter gelegt, als wäre das der ideale Moment, so etwas zu besprechen. Was für ein Idiot.

»Hört sich nicht so überzeugend an, wenn mein Schwanz halb in deinem Mund steckt«, flüstere ich und schaue weg. Die Hitze breitet sich in meinem Gesicht aus und frisst sich herunter zu Jesse, der seine Zunge gekonnt einsetzt, um mir Lust zu verschaffen.

»Ich sag nur, was ich mir überlegt habe.« Langsam küsst er seinen Weg wieder hoch. Meine Hände drückt er zur Seite, als dürfte ich ihn nicht berühren. »Ich wäre der Inhaber und ich schenke dir einen Ort, ohne Zwänge. Nur für dich.«

Er sollte mir nicht solche Hoffnungen machen. Am Ende glaube ich ihm noch.

Das rote Haar streiche ich ihm zurück, wofür er mein Handgelenk über meinem Kopf festhält und es liebkost.

»Versprochen.«

Warum sagt er das so, als könnte ich mich darauf verlassen? Ich kann nicht. Er hat nur einen Bürojob und verbringt beinahe jeden Abend bei mir, um zu sehen, dass es mir gut geht. Woher sollte er all das Geld haben? Einen eigenen Club zu haben ist eine Wunschvorstellung. Und so lange er keine Bank überfällt, bleibt es nur ein Traum.

Sachte ziehe ich ihn in meine Arme.

»Dafür darfst du mich noch mal rannehmen«, hauche ich ihm zu und lecke ihm über die Lippen. Jemand, der mir so viel Gutes tun will, verdient auch, wie ein König behandelt zu werden.

Sein Adamsapfel hüpft hoch und runter, ehe er säuselt: »Bist du nicht schon voll?«

»Willst du nicht?«

»Ein süßes Cremebällchen? Als ob ich da ›nein‹ sagen könnte.«

Ein was?

»Ich bin kein Windbeutel.«

»Hm«, brummt er und küsst mich nur inniger. »Für mich schon.«

Er macht so oft diese dermaßen blöden Anspielungen, dass ich nicht anders kann, als zu lachen. »Ich will kein Sperma-Windbeutel sein.«

»Ach nein? Warum das denn nicht?« Das Grinsen in seinem Gesicht wird immer breiter, während er meine Hände festhält, mit denen ich ihn wegdrücke.

»Schmeckt bestimmt fies.«

»Ich knabbere gern an dir.«

»Du bist auch dumm.«

Amüsiert stößt er die Luft aus der Nase und legt die Unterarme auf meiner Brust ab. »Ist das so?«, flüstert er.

»Ja.«

»Na, dann muss es ja stimmen.«

Dieser Idiot. Lächelnd nehme ich ihn in den Arm und kraule ihm den Nacken. Sein angenehmer Geruch kitzelt meine Nase. Es ist etwas Herbes, Männliches, das mir gefällt.

»Manchmal«, flüstere ich und lecke mir über die Lippen, »wenn wir hier so liegen und die Musik von einem blöden Partysong zum nächsten wechselt, dann ist es, als wären wir komplett allein auf der Welt. Also … Nur für einen Moment. So als gäbe es nur uns.«

»Gibt es doch auch.« Jesse rutscht neben mich. Zweimal schlägt er ins Kissen, um es in die richtige Position zu bekommen und macht es sich daraufhin gemütlich.

Die Haare streicht er mir aus dem Gesicht, ehe er sich nach vorne neigt und sich einen Kuss stiehlt.

»Ich habe nur mit dir diese Gefühle«, säuselt er, als wäre ich eine seiner vielen Romanzen, die er andauernd hat. »Ich wünschte, die Zeit würde einfach stoppen, wenn ich bei dir bin.« Seine breiten Lippen umspielt ein Lächeln, das mich ebenso grinsen lässt.

Ich weiß nicht, was Jesse sich genau für einen Partner wünscht, aber ich habe mir meinen schon oft vorgestellt. Es ist die Idee eines naiven Kindes und ich weiß, dass es dumme Ideale sind. Ich hätte dennoch so gerne einen Mann, der mich sieht – nicht das Äußerliche, sondern mein Inneres. Jemanden, mit dem ich lachen und weinen kann. Ich will einen ehrlichen Liebhaber, der mich respektiert und ebenbürtig behandelt. Am besten einen Kerl, der keine Angst vor den Narben auf meinem Herzen hat, sondern jemand, der sie hinnimmt und sich um sie sorgt. Er soll mich verstehen und trotz all dem lieben, was ich bin. Macht das Sinn? Kann man mich überhaupt trotz meiner Fehler lieben? Und wenn man die Liebe seines Lebens trifft … Merkt man das dann? Ist es wie an der Rolltreppe eine gewischt zu kriegen oder ein Kribbeln, das meinen gesamten Körper erfasst? Erkenne ich ihn oder könnte ich den Moment verpassen, in dem …

Ach, was denke ich denn da? Schlussendlich macht sich niemand die Mühe, mich kennenzulernen. Wann denn auch? Beim Sex wird nie gesprochen und danach reden sie sowieso nur von meinem Aussehen.

Ich tippe Jesse auf den Leberfleck, den er am Kinn hat und lasse meinen Daumen darüber fahren. »Du müsstest dich mal wieder rasieren.« Die Stoppeln sind kaum zu sehen, aber ich spüre ganz genau, wie sie kratzen.

»Ja. Später vielleicht.« Die Lichterkette spiegelt sich in seinen hellen Augen wider. Wenn Jesse wüsste, dass ich das lodernde Feuer in ihnen erkenne und dennoch blind spiele, was würde er sagen?

»Ich muss gleich auftreten«, flüstere ich ihm gegen die Finger, die über meinen Mund fahren.

»Ich weiß.«

»Also …« Mehrmals ziehe ich die Augenbraue anzüglich hoch. »Willst du noch mal?«

»Gerade nicht.« Seine Hände umrahmen mein Gesicht, ehe er sich auf mich rollt und meine Lippen mit seinen versiegelt. Jesse versteht nicht, wie sinnlos es ist, bei mir zu sein. Ein leerer Mensch kann einem nichts wiedergeben.

Seine Küsse erzählen von einer Sehnsucht, die sein ganzes Herz in Dunkelheit reißt. Es sind schwarze Fäden, die sich ausbreiten und selbst an mir kleben bleiben. Sie suchen Nähe, Wärme und etwas, das sie für sich haben können. Aber ich bin nicht derjenige, den er sucht. Würde Jesse sich noch weiter vergessen, würden wir alles verlieren.

Ich wünschte, Jesse würde mich nicht wie seine Bettgeschichten behandeln. Als bester Freund bin ich eigentlich etwas Wertvolleres. Ich habe doch einen anderen Platz in seinem Herzen.

Jesse lehnt seine Stirn an meine und schließt die Augen.

»Singst du gleich für mich?«, fragt er und zupft an meinem langen Haar.

»Was denn?«

»Lips of an angel?«

Jesse zieht die Bettdecke höher und reibt mir über den Oberarm. Manchmal würde ich gerne sagen: »Komm, wir brennen durch, wie in einem dummen Teenie-Film und hoffen auf das Beste!« Wir könnten ein anderes Leben führen, unsere Namen ändern und all den Kummer vergessen. Wir hätten die Chance, die Person zu werden, die wir sein wollen.

Aber es geht nicht. Egal, wie oft ich davon träume, die Schatten der Vergangenheit hinter mir zu lassen. Jesse und ich sind Nichtschwimmer in einem tobenden Ozean, die sich verzweifelt aneinander krallen. Merkt er nicht, dass wir ertrinken?

»Ich singe dir ein anderes Lied, versprochen.« Grinsend wuschele ich ihm durchs Haar. »In der Zwischenzeit fallen dir sowieso die heißen Tänzer um den Hals. Meinst du, ich habe nicht gesehen, wie Timmy dich anstarrt? Der hat sich heute in sein kürzestes Outfit geschmissen.«

Jesse stößt die Luft aus der Nase und gackert. »Der hat sich gestern drei Mal vor mir umgezogen, als ich auf dich gewartet habe.«

»Auffällig unauffällig.«

Mein Handywecker will mich aus dem Bett reißen, aber Jesse hält mich fest.

»Bleib doch noch einen Moment.«

»Ich muss arbeiten, du Nase.« Lächelnd streichele ich seine Arme, die mich zu zerdrücken scheinen.

»Hast du schon einmal über eine Beziehung nachgedacht?«, flüstert Jesse und der Kloß in meiner Kehle wird so riesig, dass ich nicht mehr atmen kann.

»W-was?«

»Nur ein Spaß.« Lauthals lachend steht er auf und kneift mir in die Wange. »Du hast echt blöd geglotzt!«

»Ja.« So schnell ich kann, ziehe ich mich an und flüchte aus dem Zimmer. Was war das denn jetzt? Das war richtig unangenehm. Ich kratze mir über die Brust und spüre meinen flatternden Herzschlag unter den Fingerspitzen. Normalerweise reden wir nicht über so etwas. Vor allem nicht in so einer Situation. Beziehungen sind gefährlich. Wie kann er mir nun also eine derart bescheuerte Frage stellen? Außerdem muss ich auf die Dancefloors. Ich kann es mir nicht leisten, mir den Kopf über Blödsinn zu zerbrechen. Jesse weiß doch ganz genau, was so eine Andeutung in mir auslöst.

***

Zusammen mit meiner Kleidung rücke ich die Maske in meinem Gesicht zurecht. Die Dancefloors erwarten mich und die Scheinwerfer schnappen gierig nach mir.

In meinem Kopf kippt ein Schalter um und ich mache mich für die grabschenden Hände und die gefräßigen Blicke bereit. Niemand sagt, dass es leicht ist. Es macht Spaß, das will ich nicht leugnen. Dennoch ist es ein Job, auf den ich mich einstellen muss. Besonders, wenn Jesse mir nachläuft, als würde er auf mich aufpassen, kann ich nicht wirklich abschalten.

Verdammt, was will ich eigentlich? Mir sollte es fantastisch gehen. Ich habe One-Night-Stands, einen Job, bei dem ich singen darf und einen besten Freund. Was könnte ich also mehr wollen? Was fehlt mir nur, dass ich nicht zufrieden bin?

Ein Spatz auf dem Eis

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