Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder - Holger Weinbach - Страница 10

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Anno 966 – Widerstand

Noch bevor Svea die neuen Gefangenen sah, fühlte sie ihre Furcht und ihr Leid. Es war wie eine Welle unzähliger Gefühle, wie tausend Schreie des Leids auf einmal. Als riefen sie um Hilfe, wurden aber von den Menschen um sie herum nicht gehört. Wie auch? Sie trugen ihr eigenes Leid und riefen es auf derselben Welle hinaus in die Welt.

Nur Svea hörte sie.

Zuerst sagte ihr Verstand, sie sollte sich dagegen verschließen. Er versuchte, ihr zu verbieten, mit dem Herzen zu hören, um sich selbst zu schützen. Schließlich benötigte sie selbst Hilfe.

Svea sog alles in sich auf. Und es zerriss sie beinahe. Da waren nicht nur die geschändeten Mädchen und die verwundeten Burschen aus dem geplünderten Dorf. Nein, auch die Nordmänner hatten ihre Wunden davongetragen. Es fühlte sich anders an als bei ihren Opfern, aber auch sie litten.

Einer von ihnen besonders. Svea sah sich um. Sie konnte ihn nicht sehen. Aber es war wie vor wenigen Tagen, als sie ein Mädchen vor Drogos Übergriff bewahrte. Auch damals war es ein ähnliches Gefühl, das sie wahrnahm. Ein stummer Ruf um Hilfe, aus Furcht vor dem Tod.

Das Schluchzen einer jungen Frau lenkte Sveas Aufmerksamkeit auf sie. Auf den zweiten Blick erkannte Svea in ihrem Gesicht die Züge eines Mädchens. Sie war kaum älter als zwölf Jahre. Ihr Kleid war zerrissen und rußig, das lange, braune Haar auf einer Seite beinahe bis auf die Kopfhaut versengt. Tränen liefen über ihre schmutzigen Wangen. Die Arme hielt sie fest an ihren Oberkörper gepresst, die zu Fäusten verkrampften Hände drückte sie in ihren Schoß. Sie zitterte, als bebte die Erde unter ihr. Sie lief zu den Gefangenen auf dem Kiesstrand und blieb dort zitternd stehen, unfähig, sich zu setzen.

Svea musste nicht nachdenken, um zu wissen, was zu tun war. Doch eine überwältigende Furcht, in dieser Situation überhastet zu handeln, hielt sie zurück. Die Nordmänner könnten ihre Hilfe falsch auslegen. Aber wie sollte sie sich um das Mädchen und die anderen Verwundeten kümmern, ohne die Nordmänner vor den Kopf zu stoßen?

Hilf ihnen, indem du erst den anderen hilfst. Es war Alveradis’ Stimme in Sveas Kopf, die ihr dazu riet. Sie so zu hören, als stünde sie direkt neben ihr, überflutete Svea mit dem seit Tagen verdrängten Schmerz. Sie wischte sich eine Träne fort. Oh Alveradis, könntest du doch jetzt bei mir sein. Wie sollte Svea das allein bewältigen? Sie konnte doch nicht einfach hingehen und fragen, ob sie ihre Heilkunst anwenden dürfte. Es gab noch so viel, was Alveradis ihr hatte beibringen wollen …

In diesem Augenblick kamen die letzten Nordmänner aus dem Wald zurück. In ihrer Mitte schleppten sie einen Kameraden mit sich, der schwer verwundet war. Seine Not war es, die Svea an stärksten gespürt hatte.

Sie drängte ihre Zweifel in den Hintergrund und beobachtete die Männer. Sie brachten den Verwundeten zu einem alten Nordmann, der bereits die kleineren Wunden anderer Krieger versorgte. Svea sah sofort, dass dieser Mann kein Heiler war. Er kannte sich vielleicht mit Wundauflagen aus, schwerere Verletzungen aber würde er nicht behandeln können. Das spürte Svea, als die Nordmänner den Schwerverletzten vor ihm ablegten. Blankes Entsetzen packte den Alten. Er wusste schlichtweg nicht, was zu tun war.

Der Anführer kam zu ihm und sprach ihn an, woraufhin der Alte nur knapp antwortete, ohne irgendetwas zu unternehmen.

Svea hielt es nicht länger aus.

Ihr Mächte, steht mir bei, bat Svea, nahm all ihren Mut zusammen und erhob sich. Noch hatte sie die Aufmerksamkeit der Nordmänner nicht erregt. Mit ruhigen Schritten näherte sie sich dem Alten. Vielleicht konnte sie ihn zumindest anleiten. Wenn der Anführer es zuließ.

Als habe er ihre Gedanken gelesen, sah der blonde Hüne sie an. Seinem Blick folgten weitere und bald beobachteten alle Barbaren, wie Svea sich dem Schwerverletzten näherte. Noch schritt niemand ein. Vielleicht glaubten auch die Nordmänner, ähnlich wie die Männer aus Sveas Heimat, dass von einer Frau keine Gefahr ausging. Erst recht nicht, wenn sie Fußfesseln trug. Neugierig und teils belustigt ließen sie Svea gewähren.

Sie wusste, dass sie jetzt keine Angst zeigen durfte. Respekt und Demut vor diesem Anführer waren selbstredend. Doch wenn sie helfen wollte, durfte sie keine Furcht erkennen lassen. Weder vor diesen Männern noch vor einem Fehler. Sie erwiderte den Blick des Anführers, ohne dabei provokant zu wirken. Es war eine Gratwanderung. Svea spürte genau, dass dieser Mann zwischen der Entscheidung wankte, sie gewähren zu lassen oder sie zurechtzuweisen.

Schließlich stand sie vor ihm. Ihre Blicke hielten einander stand. Svea setzte eine samtene Stimme ein, in der Hoffnung, dass allein ihr Klang ihre Absichten vermitteln würde. »Ich kann Eurem Mann helfen. Ich kenne die Macht der Kräuter und der Mutter. Ich kenne Beschwörungen und weiß um Heilung vieler Gebrechen. Lasst mich helfen, Eure Männer zu versorgen. Er steht auf des Todes Schwelle!«

Damit dem Nordmann klar war, was sie sagte, zeigte sie auf den Verwundeten.

Der Hüne schien zu verstehen. Er besprach sich mit dem Alten, der Svea kritisch beäugte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und murmelte etwas, woraufhin der Anführer nach kurzem Überlegen Svea zunickte. Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Verwundeten frei.

»Ich danke Euch«, sagte Svea demütig und kniete sich sogleich neben den Verletzten hin. Zum ersten Mal betrachtete sie den Mann genauer. Es war ein rotblonder, stämmiger Bursche, der kaum älter sein konnte als Faolán. Sein Gesicht war wachsfarben. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er zitterte am ganzen Leib und seine blauen Lippen hielt er fest zusammengepresst, um jeden Schmerzenslaut zu unterdrücken.

Dass er nicht lauthals schrie, wunderte Svea. Aus seinem Oberarm ragte ein fingerdicker, abgebrochener Stab, der wie der Stiel eines Werkzeugs aussah. Svea hob den Arm vorsichtig. Der Bursche stöhnte auf und wurde noch bleicher. Das Holz trat mit dem spitzen Ende auf der Rückseite des Armes wieder aus.

Hier war mehr als eine Wundauflage vonnöten! Für einen Augenblick zweifelte Svea an ihrer Entscheidung. Wenn ihre Behandlung keinen Erfolg zeigte und dieser Mann starb, würden die Barbaren ihr die Schuld geben. Es wäre ihr Todesurteil.

In diesem Augenblick kniete der Alte sich neben sie und tippte sie an. An seiner Seite befanden sich mehrere Schalen, ein Wasserschlauch und ein zusammengerolltes, ledernes Bündel. Er öffnete die Verschnürung, rollte das Leder sorgsam auf und gab den duftenden Inhalt preis. Vor Svea lagen dicht aneinandergereihte, kleine Säckchen, gefüllt mit den verschiedensten Kräutern. Sogar eine Schale mit Fett war vorhanden, um eine Paste anzurühren. Es war ein kleiner Schatz für Heilkundige! Die Säckchen waren alle nahezu voll. Offensichtlich wusste der Alte nur mit den wenigsten Kräutern etwas anzufangen.

Mit einem Lächeln bedankte Svea sich bei ihm und sprach ihn an. »Die Wunde muss freigelegt werden.« Sie deutete am Ärmel an, den Stoff aufzutrennen und abzunehmen. Sofort nickt der Alte, zog ein kleines, scharf aussehendes Messer aus seinem Gürtel und reichte es ihr. Doch Svea schüttelte den Kopf. Sie würde nichts in die Hand nehmen, das auch nur annähernd wie eine Waffe aussah. Nicht unter den Augen der Männer, die sie entführt hatten und die zu allem fähig waren, wenn sie sich bedroht fühlten. Der Alte verstand und begann, den Ärmel der Tunika abzutrennen. Obwohl er an der Wunde um den Stock besonders sorgfältig vorging, verzog der Verletzte sein Gesicht in Agonie.

Als die Wunde endlich freifreigelegt war, blendete Svea alles andere um sich herum aus. Es sah nicht so übel aus, wie sie befürchtet hatte. Der Stock saß fest. Das Blut daran war dunkel und verkrustet. Wenn der Bursche Glück hatte, war keine größere Ader verletzt worden.

Ohne darüber nachdenken zu müssen, kamen Svea die nächsten Handgriffe in den Sinn. Sie suchte in dem Kräuterfundus nach den richtigen Zutaten und rührte eine Mixtur mit dem Fett an. Unaufgefordert legte der Alte ein paar Streifen sauberes Leinen bereit.

Svea konzentrierte sich auf das, was Alveradis ihr beigebracht hatte. Die Worte und eine alte Melodie kehrten zurück. Während Svea die Heilpaste auf ein Leinen strich, summte sie die Melodie zunächst nur. Die Worte hielt sie noch in Gedanken. Dann begann sie, die alte Heilformel zu singen, um sowohl den Verband wie auch die Wunde zu beschwören. Die Kraft der Worte begann auszuströmen. Filigran, zerbrechlich und weich klangen sie, legten sich auf die Wunde, umspannen sie und flossen schließlich zu Svea zurück. Sie spürte die Stärke der Formel und das Band, das sie zwischen ihr und dem Verwundeten aufbaute. Still dankte Svea der Muttergöttin und den Kräften der Erde für ihre Hilfe.

Die Vorbereitung war beendet. Der Alte neben ihr schwieg. Die umstehenden Barbaren warteten gespannt, was als Nächstes geschehen würde. Doch jeder wusste es: Der Stab musste entfernt werden!

Der Bursche vor Svea war muskulös und stark. Aber die Wunde und die Schmerzen hatten ihn entkräftet. Dennoch musste Svea davon ausgehen, dass er während ihrer Behandlung ungeahnte Kräfte mobilisierte und sich wehrte. Das musste verhindert werden. Er durfte sich weder aufbäumen, noch bewusstlos zur Seite kippen. Um den Burschen zu halten, benötigte Svea Hilfe. Hilfe von einem starken Mann, der sie verstand und sofort jede ihrer Anweisungen umsetzen würde.

Sveas suchender Blick haftete für einen Augenblick auf Faolán. Ihr Herz schlug schneller, als er ihn erwiderte. Wenn sie ihn jetzt rief, könnten sie sich zumindest für kurze Zeit nahe sein. Vielleicht gäbe es eine zarte Berührung, ganz beiläufig, von allen anderen unbemerkt … Aber das könnte ihre Konzentration stören. Nein, Faolán musste warten. Wer wusste schon, was er in seiner Impulsivität anstellen würde. Er konnte so unberechenbar sein. Und dafür liebte sie ihn.

Svea riss sich zusammen. Schweren Herzens verdrängte sie Faolán aus ihren Gedanken. »He, du. Kannst du mich verstehen? Bist du stark genug, diesen Kerl zu halten?« Verdutzt reagierte Brandolf auf ihre Frage, bejahte sie aber mit einem Nicken. »Dann komm her und hilf mir!«, sagte Svea bestimmt, aber ohne ihren freundlichen Tonfall einzubüßen.

Brandolf erhob sich und ging aufgrund der Fußfesseln mit kleinen Schritten zu ihr. Einer der Nordmänner zog seine Waffe und ging mit lauten Worten auf Brandolf zu, doch sein Anführer hielt ihn mit einem knappen Befehl zurück. Brandolf setzte sich wieder in Bewegung.

Bei Svea angelangt, wartete er auf ihre Anweisungen. »Wie heißt du?«, fragte Svea und runzelte bei der Antwort die Stirn, als hörte sie seinen Namen zum ersten Mal. »Gut, Brandolf. Suche nach einem Ast aus gutem Holz, damit er darauf beißen kann. Sonst verliert er womöglich seine Zunge. Auf mein Zeichen hin legst du beide Arme fest um ihn, bis ich den Stab herausgezogen habe. Achte darauf, dass er seine Arme auf keinen Fall bewegen kann. Es wird schnell gehen und er wird sich aufbäumen oder das Bewusstsein verlieren. Was auch immer geschieht, du musst ihn sicher halten, bis der Stab vollkommen draußen ist! Hast du alles verstanden?«

Erneut nickte Brandolf, griff nach einem Stück festen Holzes, das am Strand lag und hielt sich bereit. Svea widmete sich wieder dem Verwundeten: »Auch deinen Namen muss ich kennen, bevor ich beginne.«

Der Bursche verstand nicht. Erst als Svea mit entsprechenden Gesten ihren und Brandolfs Namen nannte, spuckte er ein schwaches »Gunnar« aus, gefolgt von schnellem Atmen, als habe er Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben.

Jetzt war alles bereit. Auf Sveas Zeichen hin steckte Brandolf ihm das Holz in den Mund. Gunnar biss entschlossen darauf. Sein Körper spannte sich an, als Brandolf beide Arme um ihn legte. Gunnar atmete noch schneller. Brandolf festigte seinen Griff, bis Gunnar stoßweise keuchte.

Svea schloss die Augen und wiederholte den Namen des Verletzten. Wieder und immer wieder. Unaufhörlich, bis der Name zu einem Mantra wurde. Zunächst klar und deutlich, verebbte er schließlich zu einem Flüstern, bis er nur noch ein Gedanke war. Sveas Lippen bewegten sich tonlos weiter.

Tief in sich spürte sie die Kraft, die sie durchströmte, überwältigte und ganz ausfüllte. Sie sah alles klar und deutlich vor sich. In diesem Augenblick barg die Welt keine Geheimnisse mehr für sie. Und dann ertönte in ihr die Melodie. Sie kam aus der tiefsten Quelle, wo alles seinen Ursprung nahm. Sie begleitete diese Melodie mit einem zarten Murmeln. Gemeinsam wirkten sie verzaubernd, betörend. Wie von abertausenden unsichtbaren Lichtern getragen, ergossen sich Melodie und Worte über die Wunde, umschlossen sie, drangen in sie ein und tropften schließlich von ihr herab und versickerten zwischen den Kieseln. Dann versiegten auch die Worte und als Letztes die Melodie.

Gunnar war benommen. Brandolf hingegen konzentrierte sich auf Svea und wartete auf ihr Zeichen.

»Jetzt!«, flüsterte sie.

Svea packte den Stock und drehte ihn. Die dunkle Blutkruste riss auf. Frisches Blut trat aus der Wunde, aber nicht viel. Gunnars Blick wurde klar. Er atmete in kurzen Stößen, biss auf den Stock. Ein tiefes Grollen entstieg seinem Brustkorb, als könnte er den Schmerz damit bekämpfen. Brandolf hielt ihn fest. Unbeirrt drehte Svea den Stock weiter. Gunnars Knurren schwoll an. Das Holz löste sich. Ein kräftiger Ruck und Svea zog es an einem Stück heraus. Gunnars Schrei stieg in die Nacht auf. Er versuchte, sich noch aufzubäumen, sackte einen Augenblick später aber bewusstlos in sich zusammen. Brandolf war darauf gefasst. Ganz langsam ließ er ihn zu Boden sinken. Seine Arbeit war getan. Svea dankte ihm und schickte ihn zurück.

Von jetzt an war es nur noch Handwerk. Behutsam reinigte sie die Wunde. Erleichtert stellte sie fest, dass keine größeren Blutgefäße verletzt waren. Auch das Fleisch schloss sich gut, sodass nur noch Vertiefungen an Vorder- und Rückseite des Armes als Narben zurückbleiben würden. Bis hierhin hatte der Bursche Glück gehabt. Überstanden hatte er es aber noch nicht.

»Ihr … ihr müsst die Wunde ausbrennen«, erklärte Svea dem Alten erschöpft. Sie wusste nicht, ob er sie verstand, und deutete mit Gesten an, was zu tun sei. Der Alte stand auf und kam nur wenige Augenblicke später mit einem glühenden Eisen zurück. Erleichtert stellte Svea fest, dass er mehr Erfahrungen in Kriegsverletzungen besaß, als sie ihm anfangs zugetraut hatte. Das Ausbrennen überließ Svea dem Alten. Er ging zwar nicht so sorgfältig vor, wie sie es getan hätte, aber es würde ausreichen. Der Geruch versengten Fleisches stach ihr in der Nase. Flink legte sie das vorbereitete Leinen mit der Salbe auf die Wunde und verband den Oberarm. Das sollte für die nächsten Tage ausreichen. Sie suchte noch ein paar Kräuter gegen Fieber zusammen, kaute sie, spuckte sie aus und stopfte sie dem Bewusstlosen in den Mund in eine Backentasche. Mehr konnte sie nicht für ihn tun.

Svea stand auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Inzwischen war es Nacht geworden. Fackeln und ein großes Feuer spendeten Licht. Nichts davon hatte sie bemerkt. Wie lange hat die Behandlung gedauert? Svea fühlte sich ausgelaugt. Erschöpft ließ sie sich auf einem Findling nieder. Zwei Nordmänner eilten herbei und trugen den Ohnmächtigen fort.

Der Anführer gönnte Svea eine kleine Pause, bevor er weitere Verwundete zu ihr schickte. Zu ihrer Erleichterung hatten sie nur kleinere Verletzungen davongetragen, die sie mit geringem Aufwand versorgen konnte. Als niemand mehr in der Reihe stand, erhob Svea sich und wandte sich dem Anführer zu. Zufrieden sah sie, wie der Mann sich mit einem Kopfnicken bei ihr bedankte.

Auf diese Gelegenheit hatte Svea gewartet. Sie hielt dem eisblauen Blick des Hünen stand und ging auf ihn zu. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, hielt sie aber nicht auf.

Vor dem Anführer neigte Svea demütig und respektvoll ihr Haupt. Aber sie sank nicht auf die Knie. Das widerstrebte ihr. Eine Heilerin dient keinem Herrn, hatte Alveradis ihr stets gesagt. Sie dient den Menschen und beugt das Knie nur vor größeren Mächten.

»Ich weiß nicht, ob Ihr mich verstehen könnt«, begann Svea und suchte nach dem richtigen Tonfall, der dankbar und stark zugleich klang, ohne zu fordernd zu sein. »Ich habe Eure Männer versorgt, wie Ihr es verlangt habt.« Svea zeigte auf Gunnar. »Aber es gibt noch mehr Verletzte auf diesem Strand, die meine Hilfe benötigen.« Sveas Finger wanderte zu den Gefangenen. »Ich bitte Euch, mir das Recht zu gewähren, ihre Wunden ebenfalls zu versorgen. Es wird nicht lange dauern und Eure Gefangenen werden gestärkt diesen Strand verlassen.«

Der Blick des Nordmanns bohrte sich in Svea. Sie war es gewohnt, durch die Augen eines Menschen in sein Herz sehen zu können. Diesmal aber blieb ihr die Sicht verwehrt. Vermochte er, sich gegen sie zu verschließen? Was ging in diesem Mann vor?

Der Anführer schwieg beharrlich. Schließlich nickte er, sagte etwas in seiner Sprache und zeigte zu den Gefangenen. Dann rief er dem Alten noch etwas zu, der gerade damit beschäftigt war, das Lederbündel mit den Kräutern zusammenzurollen. Er sah auf, erst zum Anführer, dann zu Svea. Dann zuckte er mit den Schultern, nahm das Bündel und brachte es dem Hünen.

Mit eindringlichem Blick betrachtete der Anführer das zusammengerollte Leder. Dann übergab er es Svea.

»Danke«, sagte sie und nahm es entgegen. Diese Kräuter bedeuteten mehr als die bloße Erlaubnis weiterer Behandlungen. Es war beinahe die symbolische Übertragung eines Privilegs.

Beeindruckt von diesem Nordmann begab Svea sich zu den Gefangenen und sank neben dem Mädchen, das ihr nach dem Überfall aufgefallen war, in den Kies. Sie rollte das Lederbündel auf, nahm einen Streifen des Leinens heraus, das der Alte darin eingewickelt hatte, und widmete sich dem Mädchen. »Wie heißt du?«, fragte sie.

»Mathilde«, antwortete das Mädchen mit zitternder Stimme. Eingeschüchtert sah sie zu den Nordmännern hinüber.

»Mathilde«, rief Svea sie zur Besinnung. »Spucke drei Mal auf das Tuch und dann sprich mir nach.«

Das Mädchen gehorchte. Sie war sichtlich erleichtert, dass sich jemand um sie kümmerte. Nachdem sie genug Spucke gefunden hatte, murmelte sie eine Heilformel nach, die Svea vorsprach. Wäre ein Priester anwesend gewesen, er hätte vermutlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sie vor einer Teufelei zu retten versucht. Der Gedanke ließ Svea schmunzeln.

Svea begann, die Ränder einer nur noch leicht blutenden Wunde zu säubern. Dabei sang sie, wie sie es schon bei Gunnar getan hatte. Worte und Melodie flossen wieder wie eine Urquelle aus hier heraus, umspannen die Wunde und reinigten sie. Und während Svea weitersang, rührte sie ein paar Kräuter in Fett und strich die Mixtur direkt auf die Wunde. »Das wird die Heilung beschleunigen. Der Schnitt sollte sich fast ganz schließen und nur eine kleine Narbe hinterlassen.« Svea lächelte dem Mädchen ermutigend zu und verband den Arm mit dem Tuchstreifen.

Tränen sammelten sich in Mathildes Augen. »Ich danke Euch«, sagte sie fast tonlos.

Svea sah sie lächelnd an. »Du brauchst mir nicht zu danken. Wenn die Wunde mehr schmerzt als jetzt, scheue dich nicht, mich aufzusuchen.« Mit diesen Worten erhob Svea sich, um sich den anderen Verletzten zu widmen.

Erst am Schluss wagte sie sich in die Nähe von Brandolf und Faolán. Svea hoffte, dass die Nordmänner ihr jetzt kaum noch Aufmerksamkeit schenkten. Sie behandelte die Platzwunden am Kopf des Edelherrn, ohne ein Wort zu wechseln. Anschließend wandte sie sich Faolán zu. Er sah fürchterlich aus mit der geschwollenen Gesichtshälfte, und Svea hätte ihn am liebsten auf jede Körperstelle geküsst, die ihm schmerzte. Mit großer Selbstbeherrschung gab sie sich ihm gegenüber distanziert.

»Wie geht es dir?«, flüsterte sie.

»Seit ich dich sehe, wesentlich besser«, murmelte Faolán und fügte bewundernd hinzu: »Du warst unglaublich. Du hast diesem Barbaren das Leben gerettet. Ich befürchtete schon …«

»Sprich nicht so viel«, unterbrach Svea ihn leise und strich ihm zärtlich durch das Haar, gab aber vor, nach einer Verletzung zu sehen. »Es war gewagt, ich weiß. Aber der Anführer scheint einen wachen Verstand zu besitzen.«

»Es hätte schiefgehen können. Du hast dein Leben riskiert!«, erwiderte Faolán tadelnd und bewundernd zugleich.

»Ausgerechnet du willst mich über Risiken belehren? Ich darf dich an Neustatt erinnern?«, raunte Svea und zog Faolán an den Haaren, sah sich aber sogleich um, ob sie jemand beobachtete.

»Au – wofür war das jetzt? In Neustatt habe ich dir das Leben gerettet, schon vergessen?«

So dankbar Svea ihm dafür auch war, jetzt war nicht die passende Zeit, darauf einzugehen. »Hör mir zu«, sprach sie leise weiter. »Was auch geschehen mag, lass niemanden wissen, dass wir zusammengehören. Sie mögen uns zwar gemeinsam aus dem Wasser gefischt haben, aber sie dürfen nicht erfahren, was wir füreinander empfinden. Hast du verstanden?«

»Ich bin kein Narr«, knurrte Faolán. »Aber …«

»… manchmal verhältst du dich wie einer!«, fiel Svea ihm ins Wort und schmierte Faolán zärtlich eine penetrant riechende Paste auf die Wange.

»Es zerreißt mir das Herz, dich jetzt nicht in meinen Armen halten zu dürfen«, flüsterte er zärtlich. Er hielt seinen Blick auf den Kiesstrand gerichtet. »Am liebsten würde ich diese verfluchten Nord…«

»Bändige deine Wünsche«, raunte Svea. »Düstere wie lichte. Deine Enttäuschung und dein Verlangen dürfen nicht in blinde Wut umschlagen. Nur mit Vernunft kannst du das hier durchstehen. Ein Anfang ist gemacht«, sagte sie. Flink raffte sie die Kräuter zusammen, rollte das Leder ein und verschnürte es sorgfältig. Sie war schon auffällig lange bei Faolán.

Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und ließ Faolán hinter sich. Es kostete sie die größte Selbstbeherrschung, sich nicht nach ihm umzudrehen. Erschöpft gab sie die Kräuter dem Anführer der Nordmänner zurück, der sie stumm entgegennahm. Nicht alle diese Nordleute waren Barbaren, stellte Svea fest. Es musste noch Andere in den nordischen Völkern geben, die mehr als Raubzüge im Sinn hatten. Wer sonst sollte diese Schiffe bauen? Und es gab offensichtlich Menschen, die sich mit Kräutern auskannten. Vielleicht würde sie auf diese Heilkundigen treffen, wenn sie ankamen …

Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder

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