Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder - Holger Weinbach - Страница 11
ОглавлениеAnno 966 – Drogos Plan
Ein harter Ritt hatte Drogo und ein halbes Dutzend seiner besten Männer innerhalb kürzester Zeit in die Nähe des Benediktinerklosters bei Neustatt gebracht. Schaum stand den Rössern vor den Mäulern. Erst jetzt ließ Drogo die Zügel locker und die schweißgebadeten Pferde im gemächlichen Schritt gehen.
Sie passierten ein Feld. Herablassend beobachtete Drogo die Mönche, die dort in der Frühlingssonne arbeiteten. Wie oft hatte er auf Anweisung des Abtes diesen niederen Dienst verrichten müssen? Aber diese Schinderei hatte er zum Glück längst hinter sich gelassen! Im Schweiße ihres Angesichts – sollten sie doch schuften, dachte er sich. Ohne ihn. Aber für ihn.
Einer der Benediktiner richtete sich auf und sah zu den Reitern hinüber. Drogo spuckte verächtlich aus und sah wieder nach vorne. Für die Abtei und ihre weltfremden, betenden Schwarzröcke hatte er noch nie viel übrig gehabt. Am liebsten würde er so wenig wie möglich, am besten gar nichts mit ihnen zu tun haben. Aber wenn er eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, hatte er keine Wahl. Schließlich befand sich das Eigenkloster im Besitz der Grafenfamilie.
Die Mönche hatten nur einen Nutzen für seine Ziele: Sie sorgten für Abgaben. Und das nicht in Form von ein paar Eiern oder etwas Mehl, sondern in Form harten Silbers. Rund geformt, geprägt und in einer Geldkatze verstaut, wie Drogo es jeden Monatsanfang an seine Mutter übergeben sah. Wenn er es sich recht überlegte, war das die Mühe schon wert, sich um die Abtei zu kümmern. Ja, weshalb nicht die beste Kuh auf der Weide pflegen, die sich so einfach melken ließ?
Dennoch würde Drogo nie vergessen, dass er die besten Jahre seiner Jugend in dieser Bruderschaft hatte verbringen müssen. Verschwendet für ihre eintönigen Lehren und Andachten. Wie oft hatte er die Psalmen ertragen und vorgetäuscht, dem Sermon des Priors oder des Abtes zuzuhören? Genug für ein ganzes Leben. Drogo konnte sich also mit gutem Gewissen darauf beschränken, sich um die Abgaben der Abtei zu kümmern.
Jetzt aber trieb ihn eine andere Bewandtnis hierher. Wieder einmal war es Faolán, weswegen er sich auf den Weg gemacht hatte. Erneut spuckte Drogo aus und gab seinem Hengst die Sporen.
Nur wenig später zügelte er sein Schlachtross vor dem verschlossenen Haupttor der Abtei. »Seit wann schließen sie das Tor in Friedenszeiten?«, murmelte Drogo verärgert, riss seinem Nebenmann die Lanze aus der Hand und donnerte mit dem Schaft mehrmals gegen den mächtigen Eichenflügel. »Öffnet das Tor!«, schrie er. »Euer Herr verlangt Einlass!«
Es geschah nichts. Selbst die Vögel schwiegen. Dann aber vernahm Drogo Schritte und gedämpftes Gerede jenseits des Tores. Die niedrige Nebentür öffnete sich und ein Mönch buckelte heraus. Drogo erkannte ihn sofort. Er hatte ihm während seines Noviziats den Namen Stolper-Anselm gegeben, weil er beinahe über jedes zweite Wort stolperte. Mit Intelligenz war der Mann wahrlich nicht gesegnet, wie Drogo sich erinnerte.
Weshalb lassen sie ausgerechnet diesen Trottel ans Tor laufen?, fragte er sich und spürte seine Ungeduld wachsen.
Beim Anblick der Bewaffneten weiteten sich Anselms Augen. Bei der Begrüßung wurde er seinem Beinamen gerecht: »Will-willkommen in unserer A-Abtei. B-bitte n-n-nennt mir Euren N-Namen und den G-Grund Eures B-Besuches, b-bevor ich Euch Ei-Einlass g-gewähre.«
Drogo wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte. Stolper-Anselm hatte ihn nicht erkannt! Ihn, den jungen Herrn der Grafschaft! »Ich bin Drogo, Sohn des Grafen Rurik, dem Eigentümer dieses Klosters«, schnaubte er ungehalten. »Öffne augenblicklich das Tor, Anselm! Ich verlange, den Abt zu sprechen.«
Die Stirn in Falten gelegt kam Anselm einen Schritt näher. »D-D-Drogo? B-bist du es w-wirklich?« Stolper-Anselm bekreuzigte sich, als stünde der Leibhaftige vor ihm. Er drehte sich hastig um und schlüpfte durch die Tür zurück. Dann hörte Drogo die Verriegelung des Tores einrasten. Sein Lächeln gefror.
»Du sollst das Tor öffnen, nicht verriegeln!«, schrie er zornig.
Da schlug auch noch die Seitentür zu. Er hörte Stolper-Anselm eilig davonlaufen und aufgeregt rufen: »Bei G-Gott, er ist zu-zurück, er ist zu-zurück …«
»Bei Gott, ich schwöre, wenn dieser Esel nicht augenblicklich …«, raunte Drogo zornig und donnerte erneut mit der Lanze gegen das Tor. »ANSELM! ANSELM! Öffne das verfluchte Tor, oder ich werde es niederreißen, so wahr ich … ich … bei Gott, öffne das verdammte Tor, oder ich vergesse mich!«
Die Männer warfen sich fragende Blicke zu. Bevor Drogo Klarheit gewinnen konnte, wie seine Drohung in die Tat umzusetzen war, wurde die zweiflügelige Pforte entriegelt und geöffnet. Diesmal war es ein anderer Mönch, dessen Namen er vergessen hatte.
Kaum stand der erste Torflügel weit genug offen, da spornte Drogo seinen Hengst an und trieb ihn hindurch. Entsetzt sprang der Benediktiner zur Seite. Die Getreuen folgten ihrem Herrn verhaltener, der im Innenhof bereits von seinem Pferd sprang. Eilig schloss der Mönch das Tor und lief den Reitern nach. Er setzte zu einer Begrüßung an, doch Drogo schnitt ihm das Wort ab: »Bringt die Tiere im Stall unter. Reibt sie gut ab und versorgt sie bestens. Sie haben einen strengen Ritt hinter sich. Ich werde mit meinen Getreuen das Familienquartier beziehen.«
»Das Familienquartier?« Der Mönch zog die Stirn in Falten. »Verzeiht, Herr Drogo, aber wir haben das –«
»Das Gästehaus für die Adelsleute! Es ist vom heutigen Tag an ausschließlich für mi… die Adelsfamilie vorzuhalten. Informiert Bruder Ivo darüber. Er soll alles Notwendige veranlassen, damit es uns an nichts mangelt. Und richtet Abt Degenar aus, dass der Herr dieses Klosters ihn zu sprechen verlangt.«
Sprachlos von Drogos Neuerungen und Forderungen, hastete der Benediktiner davon. Kurz darauf liefen mehrere Novizen herbei und nahmen sich der Pferde an. Drogo wandte sich einem anderen Mönch zu, der auf die Gäste zukam.
»Im Namen des Herrn und unseres Oberhauptes, Abt Degenar, heiße ich Euch in unserer Abtei willkommen«, sprach er die Grußformel und verbeugte sich dezent. »Ich bin Bruder Johannes und stehe Euch zur Verfügung. Solltet Ihr Wünsche haben oder sollte Euch etwas fehlen, zögert nicht, Euch an mich zu wenden.«
An Bruder Johannes konnte Drogo sich gut erinnern. Er war immer strebsam gewesen. Stets darauf bedacht, keinen Fehler zu machen und alles zur Zufriedenheit des Abtes zu erledigen. Ein wahrer Speichellecker. Gut, dachte Drogo sich, das war der richtige Mann, um weitere Befehle zu empfangen. »Bringt mir einen Krug Wasser«, gab Drogo barsch seine Bestellung auf, ohne dem Mönch Beachtung zu schenken.
Der Benediktiner zuckte aufgrund des Tonfalls leicht zusammen, bestätigte den Wunsch dann mit einem Nicken. »Noch etwas, Herr Drogo?«
Drogo schickte ihn mit einer überheblichen Geste fort, rief ihn aber auf halbem Weg über den Hof grinsend noch einmal zurück. Mit Genugtuung sah er den Mönch zurückeilen. »Vielleicht bringt Ihr noch Brot und Käse zur Stärkung mit.«
»Wie Ihr wünscht.« Bruder Johannes machte eine knappe Verneigung und ging.
Drogos Grinsen wurde breiter und er stieß einen schrillen Pfiff aus, der von den Wänden der Klosteranlage hallte. Der Benediktiner kam abrupt zum Stehen und kehrte um. Wie ein Hund, der von seinem Herrn gerufen wurde.
»Ich habe es mir anders überlegt«, verkündete Drogo bestens gelaunt. »Geleitet mich erst zur Unterkunft. Anschließend bringt mir eine Karaffe Wein, etwas Brot und Käse!«
Schmallippig nickte Bruder Johannes und führte den Weg an. In diesem Augenblick fühlte Drogo sich wie auf seines Vaters Burg. Der Mönch spurte wie ein Diener. Es war noch nicht lange her, da war er, Drogo, für die Pfaffen gelaufen. Jetzt aber galten andere Regeln. Und die waren ganz nach seinem Geschmack.
Das Gästehaus war Drogo noch gut im Gedächtnis. Vor vielen Jahren hatte er ein einziges Mal darin genächtigt. Seine Erinnerungen daran waren allerdings wenig erfreulich. Es war jener Tag, an dem sein Vater ihn in die Obhut der Mönche gegeben hatte. Mit einem Schlag war das Leben, wie Drogo es gekannt hatte, vorbei gewesen. Es war derselbe Tag, an dem er Faolán erstmals gegenübergestanden hatte. Obwohl er Faolán nicht als seinen Vetter erkannte, war er ihm vom ersten Augenblick an verhasst gewesen. Ohne jeden ersichtlichen Grund, wenn er es sich überlegte. Hatte er womöglich in Faolán auf Anhieb einen Rivalen erkannt? Drogo grübelte. Nein, es war die Art, wie dieser elende Wurm alles hingenommen hatte. Klaglos und ergeben. Ganz gleich, wie sehr Drogo ihm zusetzte, dieser Wicht hatte an jenem ersten Aufeinandertreffen nicht eine Träne vergossen und damit Drogos Wut entfacht.
Allein der Gedanke daran reichte aus, um den alten Hass in Drogo anzuschüren. Er schritt weiter aus. »Geht das nicht zügiger?«, blaffte er den Benediktiner an und versetzte ihm einen Stoß.
Die Grobheit half nicht, die Erinnerungen zu verdrängen. Im Geiste sah er alles vor sich, als sei es erst gestern gewesen. Stumm und mitleidlos saß seine Mutter auf ihrem Pferd; sah zu, wie er seinem Schicksal entgegengeschoben wurde. Wulfhild war verantwortlich für die Jahre, die er unter stinkenden, alten Männern leben musste. Und sein Vater hatte nur zugesehen, was seinem Sohn angetan wurde.
Rurik der Starke! Drogo schnaubte verächtlich.
Wie er sie allesamt verabscheute! Die Bruderschaft, seinen Vater und seine Mutter. Er wusste bloß nicht, gegen wen von ihnen er den größten Widerwillen empfand. Je länger er darüber nachdachte, umso tiefer durchzog ihn der Hass. Wie eine wohlige Eiseskälte durchströmte er ihn. Mit feinen Verästelungen bis in die Fingerspitzen durchzog sie alles, was in ihm brodelte, bis Drogo wieder ruhiger wurde. Er atmete tief durch und verlangsamte seine Schritte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er auf seines Vaters Sitz in der großen Halle auf der Greifburg würde Platz nehmen dürfen – und sein Hass würde ihm helfen, Ziele darüber hinaus zu erreichen.
Der Benediktiner vor ihm blieb stehen. Drogos Gedankenstrudel riss ab. Sie waren bei den Gästequartieren angekommen. Der Mönch öffnete die eisenbeschlagene Tür und gewährte den Gästen Einlass.
»Herr Drogo, ich bitte Euch noch um einen Augenblick Geduld. In Kürze sind die Schlafstätten bereitet. Ich lasse sofort das Essen bringen.«
»Lasst mich nicht zulange warten«, antwortete Drogo eisig und ließ seinen Blick durch die Stube wandern.
Der Mönch machte einen Schritt zurück. »Gewiss nicht.«
»Was ist mit Abt Degenar?«
»Er lässt ausrichten, dass er Euch empfangen wird, sobald es seine Pflichten zulassen«, antwortete Bruder Johannes und sah zu Boden.
»Sobald es seine Pflichten zulassen?«, widerholte Drogo wie ein Winterhauch im Frühling. »Wen glaubt er zu beherbergen?«
»Unser Abt weiß, wer –«
»Wollt Ihr mir darauf tatsächlich antworten?« Drogo wandte sich dem Mönch zu. Seine Stimme wurde noch kälter. »Also, was seht Ihr in mir? Einen armen Pilger, den man warten lässt? Kam ich zu Fuß oder stehe ich in Lumpen vor Euch? Seht Ihr dämliche Muscheln von meinem Gürtel oder einem Gehstab baumeln?«
»Herr Drogo, ich meinte nur –«
»Behaltet Eure Meinung für Euch«, zischte Drogo. »Richtet Degenar aus, er soll sich daran erinnern, unter wessen Herren Gunst das Kloster steht. Ich erwarte seinen Ruf in Kürze!« Damit entließ er den Mönch, der die Sockelstiege hinabeilte. Mit zufriedenem Lächeln schloss Drogo die Tür und wandte sich an seine Männer: »Öffnet die Verschläge und lasst Sonne in dieses trostlose Loch!«
Es mangelte ihnen an nichts. Wein wurde gebracht, nebst frischem Brot, Käse, geräuchertem Fisch, Pökelfleisch und Obst. Eine Fülle, die Drogo als Novize in diesen Mauern selten zu Gesicht bekommen hatte. Seine Männer griffen beherzt zu und scherzten lauthals. Drogo hingegen aß misslaunig, ohne jeden Geschmack auf der Zunge.
Seine Geduld wurde auf die Probe gestellt. Es dauerte bis weit in den Nachmittag, ehe Bruder Johannes ihn zu den Gemächern des Klosteroberhauptes begleitete. Ungeduldig folgte Drogo dem vorauseilenden Mönch. Mit hastigen Blicken über die Schulter vergewisserte der Benediktiner sich, ob der hohe Gast noch hinter ihm war. Die Furcht des Pfaffen vermochte Drogos Laune zu bessern. Seine Wut über Degenars Unverfrorenheit hingegen, ihn unendliche Stunden warten zulassen, konnte sie nicht zerstreuen.
Wortlos folgte er Bruder Johannes durch die Gassen der Abtei. Drogos Gedanken kreisten um die Vorwürfe, die er Abt Degenar als Erstes an den Kopf werfen wollte. In seinen Augen war der Abt stets ein Schwächling gewesen. Stärke hatte Degenar nur ein einziges Mal bewiesen: Als er sich in Neustatt gegen ihn, den Sohn des Grafen, gestellt hatte. Drogo musste sich eingestehen, dass er dem Alten dafür Respekt zollte.
Als zukünftiger Graf konnte er den Mut des Klerikers allerdings weder honorieren noch hinnehmen. »Jetzt hast du mich zum Feind, alter Narr«, murmelte Drogo. Unvermittelt blieb Bruder Johannes stehen. »Pass doch auf, wo du stehen bleibst!«, schimpfte Drogo ihn ungehalten. Bevor er die Tirade fortsetzen konnte, erkannte er, dass sie sich unmittelbar vor der Tür zu den Gemächern des Abtes befanden. Bruder Johannes entschuldigte sich schmallippig und klopfte im Staccato gegen die Eichentür. Gedämpft war Degenars Stimme zu hören: »Tretet ein!«
Bruder Johannes’ Hand wollte die Tür öffnen, doch Drogo drängte ihn zur Seite und verschaffte sich selbst Zutritt. »Ihr könnt gehen!«, raunte er den entsetzt dreinblickenden Benediktiner an und schlug die Tür hinter sich zu.
Im Innern war es dunstig. Drogo sog die Luft ein und hielt den Atem einen Augenblick an. Sie roch wie früher. Ein Hauch von Bienenwachs, gemischt mit Lavendelblüten und Leder, überlagert von geräuchertem Olibanum, an dem Degenar noch nie gespart hatte.
Drogo hüstelte und wartete, bis seine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Schließlich sah er Degenar demütig vor dem schlichten Altartisch knien. Daneben stand ein silbernes Weihrauchfass, aus dem unablässig eine dünne Rauchsäule stieg, die sich auf halbem Wege zur Decke mit der Luft verwirbelte und im Dunst verlor.
Der Anblick verdrängte die Worte, die Drogo sich als Begrüßung für den Alten zurechtgelegt hatte. Degenar sah eingefallen und gebrechlich aus. Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen in Neustatt war er viel lebhafter und kraftvoll gewesen. Das war kurz bevor Drogo Faoláns Verfolgung aufgenommen hatte. Hätte Degenar sich damals nicht eingemischt, wäre es erst gar nicht so weit gekommen.
Neuer Hass überflügelte das aufkeimende Mitleid für Degenar. Die Haare an Drogos Körper stellten sich auf und er erschauderte in diesem willkommenen, vertrauten Gefühl der eisigen Kälte, die ihn bis in die Fingerspitzen berührte. Das Streiflicht der Nachmittagssonne fiel durch die kleinteiligen Fenster der Exedra und ließ sie im Gegensatz zur dunstverhangenen Kammer regelrecht erstrahlen. Auf der sonnigen Bank ließ Drogo sich mit einem genüsslichen Seufzer nieder, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte die Beine aus. Sollte Degenar doch so lange beten, wie er wollte. Er würde nicht darauf warten, dass ihm ein alter Narr einen Platz anbot.
Kurz darauf raffte Degenar sich schwerfällig auf. Die Stirn in Falten gezogen, sah er Drogo durchdringend an, der mit einem kühlen Lächeln antwortete: »Ich hoffe, Euch nicht gestört zu haben«, log Drogo. Er zeigte auf die Bank gegenüber. »Setzt Euch doch. Ihr seht erschöpft aus.«
»Es freut mich, dass der Herr dich nach all den Jahren wieder zu uns geführt hat«, überging Degenar den Affront und blieb stehen. Drogo ahnte, dass dem Abt dafür bald die Kraft ausgehen würde, schwächlich, wie er sich mit einer Hand am unteren Fensterfries festhielt. »Es ist lange her, seit der Graf hier war. Wie geht es deinem werten Herrn Vater?«
Drogo war es nicht danach, über das Befinden seines Vaters zu sprechen. »Habt Ihr mich so lange warten lassen, um mich das zu fragen? Wurdet Ihr nicht informiert, dass der Herr dieses Klosters Euch zu sprechen wünscht?«
Degenar antwortete, als kümmerte ihn Drogos Respektlosigkeit nicht: »In der Tat, ich wurde unterrichtet. Bruder Johannes ist ein gewissenhafter Mann. Und ich bin diesem Ruf unverzüglich gefolgt, wie du soeben feststellen konntest. Ich befand mich eben noch im Gespräch mit unserem Herrn, dem Allmächtigen – allgemein ist das auch als Gebet bekannt. Oder welchem Herrn, glaubst du, diene ich?«
Degenar schlurfte zur freien Bank und nahm schwerfällig Platz. »Jetzt, da du hier bist und es dir, laut Bruder Johannes, an nichts mangelt, interessiert es mich, was dich zu mir führt. Gewiss ist es nicht die Sehnsucht nach vergangenen Tagen …«
»Gewiss nicht«, entgegnete Drogo und bemühte sich, sein Lächeln aufrecht zu halten. Doch es schmerzte, wie eine zu eng anliegende Maske. Er durfte sich nicht anmerken lassen, dass Degenars kleiner Seitenhieb gesessen hatte. »Das Kloster zu verlassen, war der größte Segen für mich. Es sind vielmehr die jüngsten Ereignisse, die mich zu Euch führen.«
Einen Moment zögerte der Abt und zog die Stirn in Falten. »Was meinst du damit?«
»Ihr solltet ebenso wenig an meiner Intelligenz zweifeln wie ich an Eurer. Also lasst dieses Spielchen. Ihr wisst genau, was ich meine: Neustatt!«
»Neustatt?«, wiederholte Degenar und mimte den Unschuldigen, wie ein frisch ertappter Novize. »Was hat Neustatt mit unserem Kloster zu tun?«
Der ausweichende Blick des Abtes war eine deutlichere Antwort als seine verschlagenen Worte. Aber wenn Degenar dieses Spiel betreiben wollte, bitte. Drogo beherrschte es weitaus besser. »Das frage ich mich auch. Da Ihr vor einigen Tagen dort aufgetaucht seid und Euch auf die Seite dieser beiden Weiber geschlagen habt, könnt Ihr es mir bestimmt verraten. Welcher Teufel hat Euch geritten, dass Ihr Euch in die Angelegenheiten des Grafen einmischt?«
»Im Gegensatz zu manch anderem, der an jenem Tag in Neustatt anwesend war, reitet der Teufel mich nicht«, entgegnete Degenar mit überraschend kalter Stimme und strengem Blick, der Drogo für einen Augenblick an der Schwäche des Alten zweifeln ließ. »Selbst du, Drogo, verstehst sicherlich, dass ich meinen Platz in der anderen Waagschale sehe. Ich frage mich aber, ob es tatsächlich Angelegenheiten des Grafen waren, um die es in Neustatt ging?«, stellte Degenar gewagt in den Raum.
Der Abt hatte weder seine Spitzzüngigkeit, noch seinen scharfen Verstand eingebüßt, stellte Drogo fest. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Degenar kurz davor stand, ihm wie ein räudiger Straßenköter ans Hosenbein zu pinkeln.
»Wer hat Euch nach Neustatt geschickt?«, brachte Drogo die Angelegenheit auf den Punkt. Er hatte keine Lust mehr auf Spielchen.
Die Worte des Abtes klangen ebenso steif, wie er dasaß: »Ein Hilferuf. Es hieß, in Neustatt würden zwei Frauen aufgrund falscher Anschuldigungen einem ungerechten Tode ins Auge blicken.«
»Falsche Anschuldigungen?«, überschlug sich Drogos Stimme aufgebracht. Am liebsten wäre er dem Abt ins Gesicht gesprungen, doch er behielt die Kontrolle. Er ließ die Kälte in sich wieder die Oberhand gewinnen, um seine Haltung zu wahren. »Ihr wendet Euch mit dieser Behauptung gegen die Obrigkeit und damit gegen den Herrn Eures Klosters, den Grafen höchstpersönlich.«
»Ich gebe nur wieder, was uns berichtet wurde«, antwortete Degenar nüchtern.
»Ihr sprecht in der Mehrzahl. Faolán war mit Euch nach Neustatt gekommen, nicht wahr? Gebt Euch keine Mühe, es zu leugnen. Hat er Euch angestiftet, für die Weiber einzustehen? Ihr habt mit ihm gemeinsame Sache gemacht und den Grafen hintergangen. Wie hat er Euch dazu gebracht? Ihr seid doch sonst nicht so leicht zu solch einer Tat zu bewegen, die als Hochverrat ausgelegt werden könnte? Reichte die Tatsache aus, dass es sich um den Wunsch Eures Lieblingsnovizen handelte?«
»Darum geht es dir also. Faolán.« Ein schmales, kaum merkliches Lächeln huschte über Degenars Lippen. »Faolán ist in der Tat mit mir nach Neustatt geritten. Er hatte allerdings keinen Einfluss auf meine Entscheidung, in das Geschehen einzugreifen. Ich handelte nach meiner Überzeugung, dass Angeklagte ein gerechtes Verfahren im Angesicht des Herrn erhalten sollten. So gut solltest du mich eigentlich kennen, Drogo.« Degenar nahm sich einen Augenblick, um den folgenden Worten das notwendige Gewicht zu verleihen. »Ich wollte nur sichergehen, dass kein vorgefälltes Urteil ausgesprochen wird.«
»Wollt Ihr damit andeuten, dass ich und Prior Walram …«, begann Drogo mit düsterem Unterton, hielt dann aber inne und schloss den Mund. Nach ein paar Atemzügen besann er sich eines Besseren. »Es tut nichts zur Sache, was Ihr denkt, glaubt oder andeutet. Wichtig ist einzig, dass der Prozess vereitelt wurde und dass Faolán den Weibern zur Flucht verholfen hat. Dafür seid Ihr maßgeblich verantwortlich!«
»Soweit ich mich entsinnen kann, war es nur eine Frau, die Faolán auf dem Pferd hatte.«
»Spart Euch Eure Spitzfindigkeiten. Alle Neustätter haben gesehen, dass Faoláns Kumpane das alte Kräuterweib gerettet haben. Vielleicht erinnert Ihr Euch jetzt? Es waren jene, die ich zur Strecke gebracht habe. Falls nicht, solltet Ihr Euch nach Neustatt bemühen – sofern Ihr noch die Kraft dazu aufbringen könnt. Im Angesicht der Leichen fällt Euch unter Umständen wieder ein, wer die Reiter waren. Aber beeilt Euch. In wenigen Tagen wird nicht mehr viel von ihnen übrig sein.«
Drogo gefiel, wie dem Abt bei seiner Beschreibung die Blässe ins Gesicht schlug. Degenar lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Würde er jetzt gestehen? Degenars Stimme klang rau, als er antwortete: »Vergangenen Winter hatte ich die Nachricht erhalten, Faolán und Konrad seien dem Columbankloster entflohen und erfroren. Es handelte sich aber nur um ein Gerücht, wie sich herausstellte. Zumindest was Faolán betraf. An besagtem Tag tauchte er im Kloster auf, wie von den Toten auferstanden. Es war Gottes Gnade, dass er überlebte.«
»Gottes Gnade …«, spottete Drogo schnaubend. »Wahrscheinlich hatte er irdische, sehr lebendige Helfer. Was verschweigt Ihr mir?«
»Mir scheint, dass du selbst mehr weißt, als du mir sagen möchtest«, entgegnete der Abt eindringlich. »Was verschweigst du? Weshalb bist du so darauf erpicht, Faolán zu finden? Ist es nur, weil er diesem Mädchen zur Flucht verholfen hat? Falls dem so sein sollte, ist mit dem Eingreifen der Nordmänner nicht Gerechtigkeit in deinem Sinne geschehen? Faolán ist verloren, wenn nicht sogar tot. Und das Mädchen mit ihm.«
Drogo fragte sich, weshalb Degenar ihn ebenso für dumm verkaufen wollte wie Walram. Er schluckte es herunter und stellte die wichtigere Frage: »Wer war bei ihm? Wer war der dritte Reiter? Zwei seiner Kumpane haben ihre Strafe erhalten. Einer meiner Männer glaubt, sie erkannt zu haben.«
»Denkst du nicht, dieser Sache schon zur Genüge nachgegangen zu sein? Sie haben alle ihre Strafe erhalten, drei sogar den Tod gefunden. Reicht das nicht aus, um die Angelegenheit ruhen zu lassen?«, plädierte Degenar an Drogos Vernunft.
»Nein!«, fauchte Drogo, der sich nicht in die Irre führen ließ. Zorn kochte in ihm auf, der sich nicht in die Kälte seines Hasses einfügen wollte. »Diese Demütigung, diese … Dreistigkeit, sich derart in mei… in die Angelegenheiten des Grafen einzumischen, muss bis zum letzten Mann und Weib geahndet werden. Ich werde nicht eher ruhen – und Ihr …«, wütend sprang Drogo auf und sah auf Degenar herab, »… Ihr könnt Euch glücklich schätzen, wenn es dabei bleibt und keine größeren Kreise zieht.«
Die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Steif saß der Abt da und sah Drogo entsetzt an. »Siehst du denn nicht, wie diese Jagd dein Herz zerfrisst, Drogo? Fülle es nicht mit Hass, sondern mit Liebe. Fülle es mit Hingabe und du wirst wahre Erfüllung finden. Dann wirst du erkennen, dass Vergebung …«
»Hört auf mit dem Gewäsch!«, herrschte Drogo den Abt an und erhob seine Hand, besann sich aber im letzten Moment und senkte sie wieder. »Eure Lehren könnt Ihr Euch sparen. Vergesst nicht, wem Faolán es zu verdanken hat, dass ich ihn suche.«
»Wie meinst du das?«
»Von Liebe, Demut und Vergebung predigt Ihr, wie eh und je.« Drogo baute sich vor Degenar auf und rieb es ihm unter seine selbstgerechte Nase. So lange hatte er auf diese Gelegenheit gewartet, dass er jede Silbe bis aufs Letzte auskostete! »In Wirklichkeit seid Ihr nicht von Liebe angetrieben, sondern von Eurem Selbsteifer. Das ist Eurem geliebten Novizen zum Verhängnis geworden. Ihr habt auf ganzer Linie versagt!«
»Wie kannst du …?«, versuchte Degenar einzuschreiten, aber Drogos Redeschwall übertönte ihn.
»Wäre Faolán nicht in Neustatt aufgetaucht, hätte alles seinen geregelten Gang genommen. Ich wäre ihm nicht begegnet und vor Neustatts Toren hingen jetzt lediglich zwei Heidinnen zur Schau. Aber Ihr musstet Euch ja einmischen. Ihr habt ihn dazu gebracht, einzuschreiten. Ihr und Eure Lehren der vergangenen Jahre. Letztendlich hat er es Euch zu verdanken, dass ich ihn jetzt suche, statt ihn für tot zu halten. Eigentlich sollte ich Euch dankbar sein …«
Das aschfahle Gesicht des Alten war beinahe Wiedergutmachung genug für all die Jahre in diesen scheinheiligen Mauern. Amüsiert wartete Drogo, bis seine Worte Degenars Verstand vollständig durchdrungen hatten. Langsam öffnete der Abt den Mund, aber nicht einmal ein Krächzen kam heraus.
Genüsslich setzte Drogo zum nächsten Stoß an: »Was wisst Ihr über Faoláns Herkunft?«
Degenars Blick wanderte jenseits der Mauern. Drogo beobachtete ihn und wartete auf die kleinste Regung des Abtes. Degenars Antwort kam schließlich matt und wie aus weiter Ferne: »Was Faolán widerfuhr, bevor er zu uns kam, liegt allein in ihm verborgen.«
Glaubte der Alte tatsächlich, Drogo würde sich damit abspeisen lassen? »Ihr verschweigt etwas, Degenar, ich weiß es genau! Jetzt ist der Zeitpunkt, es mir anzuvertrauen. Ansonsten lauft Ihr Gefahr, Euren weltlichen Herrn gegen Euch und die gesamte Bruderschaft aufzubringen. Wollt Ihr auch das verantworten?«
Auf solch eine Drohung gab es keine Antwort. Mit Messerlippen starrte der Abt den Grafensohn an. Zufrieden trat Drogo einen Schritt zurück und zischte seine letzten Worte bedrohlicher als alles, was er bisher gesagt hatte: »Ihr solltet Euch fragen, welchen Herrn Ihr in Zukunft fürchten und welchem Ihr dienen werdet. An Eurer Stelle fiele mir die Wahl leicht! Wenn ich also das nächste Mal komme und Euch Fragen nach Faolán stelle, erwarte ich ausführlichere Antworten!«
Drogo stapfte aus den Räumlichkeiten des Abtes und schlug die Tür so hart ins Schloss, dass sie wieder aufsprang. Aus Degenar würde er heute nichts mehr herausbekommen. Und ob der Alte in Zukunft gesprächiger sein würde, wagte er zu bezweifeln. Es musste eine andere Lösung geben.
* * *
Kraftlos sah Degenar Drogo nach. Das letzte Sonnenlicht verblasste auf der Bank; die Worte des Grafensohnes hallten nach. Was Drogo über Faoláns Schicksal gesagt hatte, traf Degenar mitten ins Herz. Seit Tagen haderte er bereits mit diesen Vorwürfen und er trug nicht leicht an seinen Schuldgefühlen. Doch es ins Gesicht gesagt zu bekommen, ausgerechnet von Drogo, war wie ein Schlag in die Magengrube.
Jahrelang hatte er versucht, das Richtige zu tun. Nicht nur im Sinne des Herrn, sondern auch für das Kloster und für die Bruderschaft. Und selbstverständlich für Faolán. Ihm wollte er zu Gerechtigkeit verhelfen. Die gesamte Grafschaft hätte davon profitiert. Ehrenwert waren seine Ziele gewesen … oder doch eher selbstsüchtig und selbstgerecht? Lange hat Degenar mit Ivo auf dieses Ziel hingearbeitet, aber die Jahre und die Intrigen seines eigenen Priors hatten ihn viel Kraft gekostet.
Sein Herz brach das erste Mal, als er Faolán in das Columbankloster verbannen musste. Es half auch nicht, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem er ihn selbst dorthin begleitet und die Strapazen der Reise wie eine Buße auf sich genommen hatte.
Ein zweites Mal war sein Herz vor wenigen Tagen in Neustatt gebrochen. Gerade in dem Augenblick, als er glaubte, mit dem Edelherrn Brandolf den Schlüssel der nächsten Türen für Faoláns Zukunft in Händen zu halten, war ihm alles, was er angestrebt hatte, entglitten.
Degenar besann sich. Es half nicht, sich in Eventualitäten der Vergangenheit zu verlieren. Als er von Drogos Ankunft im Kloster erfuhr, wusste er, weshalb Drogo ihn zu sprechen wünschte. Degenar hatte sich darauf vorbereitet. Doch die Grausamkeit und Vehemenz, mit der Drogo aufgetreten war, übertraf alles, was Degenar erwartet hatte. Und welch Schock, dass Drogo Faoláns Herkunft angesprochen hatte! Was wusste oder mutmaßte der Grafensohn?
Nein, Drogo ging es nicht um die Vorkommnisse in Neustatt. Ihm ging es einzig um blanke Rache. Rache, die alles einschloss, was Faolán auch nur im Entferntesten tangierte. Drogo wollte seinen Vetter vernichten. Von Nichts und Niemandem würde er sich Einhalt gebieten lassen. Erst recht nicht von Degenar. Und das mit einer boshaften Hingabe, die Degenar vermuten ließ, dass Drogo wusste, in welchem Familienverhältnis Drogo und Faolán zueinander standen.
Beinahe wäre Degenar der Fehler unterlaufen, Konrad zu erwähnen. Dabei hatte Degenar den einstigen Novizen erst kurz nach Faoláns Entführung für tot erklärt. Sollte Drogo die Identität des Edelherrn Brandolf aufdecken, hinge auch Konrads Leben am seidenen Faden. Ein Besuch auf der Burg des Edelherrn würde ausreichen, um das gesamte Lügengebilde zum Einsturz zu bringen. Damit wäre nicht nur Konrad, sondern auch Brandolfs Familie gefährdet. Die Rache des Grafensprösslings würde jeder Einzelne von ihnen zu spüren bekommen.
Degenar strich sich über das kurze Haar und schüttelte den Kopf. All diese Verstrickungen gab es nur, weil er zu hoch gesteckte Ziele hatte. Umso tiefer war er gefallen. Eine ungebührende Eitelkeit, die Gott jetzt umso härter ahndete. Doch weshalb bestrafte er nicht nur ihn? Weshalb auch Faolán, Brandolf und die anderen?
Die Gedanken ließen seine Verfehlung noch schwerer wiegen. Sein Kummer erstreckte sich inzwischen weit über Faoláns Schicksal hinaus. Wie konnte er hier auch nur das Geringste ausrichten, um die Geschicke zum Guten zu wenden?
Ratlos schlurfte der Abt zum Altar und begab sich mit einem Seufzer auf die Knie. Beten war das Einzige, was er jetzt tun konnte. Nur der allmächtige und gnädige Herr allein konnte ihm jetzt noch helfen und in seiner Güte einen Hinweis geben, was Degenar als Nächstes tun sollte.
* * *
Drogo schritt weit aus. Je mehr Distanz er zu den Räumlichkeiten des Abtes gewann, umso besser fühlte er sich. Er hatte sich im Zaum halten müssen, den alten Mann nicht am Habit zu packen und die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. So wütend er auch gewesen war, eine derartige Handgreiflichkeit wäre unverzeihlich gewesen.
Diese Machtlosigkeit entfachte Drogos Jähzorn. Außer Sichtweite der Abtgemächer blieb er stehen. Er ließ seiner Wut freien Lauf und schlug mit den Fäusten gegen die nächste Hauswand. Er spürte das schmerzhafte Pochen in seinen Händen, schmeckte das Blut an seinen Knöcheln. Sein Herzschlag beruhigte sich, und Drogo atmete tief durch. Jetzt konnte er wieder klare Gedanken fassen.
Bei Degenar würde er nichts mehr erreichen. Zwar war es ihm gelungen, den Abt einzuschüchtern. Zugleich aber hatte der Alte sich ihm auch verschlossen. Damit hatte Drogo nicht gerechnet. Wollte er Degenars Geheimnis lüften, benötigte er einen Verbündeten. Einen Vertrauten in der Abtei.
Verbissen wälzte Drogo Erinnerungen, welchem Bruder er dieses Vertrauen entgegenbringen konnte. Prior Walram hatte ihn zu oft enttäuscht. Bevor sein Zorn wieder aufkochen konnte, machte er sich auf den Weg zurück zum Quartier. Möglicherweise konnten seine Gefährten für Ablenkung sorgen und ihn auf neue Gedanken bringen.
Eilig bog er um eine Gebäudeecke und stieß laut fluchend mit einem Mönch zusammen. Der Bruder strauchelte, versuchte gleichzeitig einen Krug aufrecht und sich auf den Beinen zu halten, stürzte aber unweigerlich zu Boden. Das Gefäß zerschellte vor Drogos Füßen. Eine Flüssigkeit versickerte langsam in den Rissen des Erdbodens.
»Pass doch auf, verfluchter Narr«, murmelte Drogo und stieg über die Scherben hinweg. Der Mönch schien ihn nicht wahrzunehmen, hatte nur Augen für den zerbrochenen Krug. »Beim Heiligen Vater«, wimmerte er, »das kostbare Öl. Bruder Ivo wird mich schelten.« Im Staub kniend begutachtete er die Scherben, als könnte er von der kostbaren Flüssigkeit noch ein wenig retten.
Drogo stockte, drehte sich um und beäugte den Benediktiner. »Manfred?«
Der Mönch sah auf, blinzelte gegen die Nachmittagssonne. »Mein Herr, woher kennt Ihr meinen einstigen …?« Seine Augen weiteten sich. »Drogo? Bist du das?«
»Wer sonst könnte bei einer solchen Kollision standhaft bleiben«, scherzte Drogo. Impulsiv packte er den Benediktiner am Arm und zog ihn empor. »Komm, lass die Scherben liegen und begleite mich zum Quartier. Die Schelte des Dicken kannst du dir später abholen.« Manfred zögerte und Drogo intensivierte sein Drängen. »Komm schon. Um der alten Zeiten willen!«
Das Lächeln des jungen Mönchs erstarb. »Nein, das kann ich nicht tun. Bruder Ivo wartet auf das Öl. Jetzt muss ich noch einmal gehen und das wird ihm viel zu lange dauern. Er wird über mein Ungeschick klagen. Ich bin für die Küche nicht geschaffen …«, lamentierte Manfred und raufte sich die dunklen Haare mit öligen Fingern. Als er sich dessen bewusst wurde, wischte er sie an dem ohnehin besudelten Habit ab.
»Hier hat sich nicht viel verändert, wie?«, versuchte Drogo schmunzelnd, seinen einstigen Freund zu erheitern. »Lass doch die anderen warten. Sie werden schon nicht verhungern. Am wenigsten Ivo. Ich werde dich nicht lange aufhalten.«
»Nein, ich will nicht in Schwierigkeiten geraten«, flüsterte der Benediktiner und sah sich eingeschüchtert um, als habe er Angst, sein Missgeschick könnte bereits entdeckt worden sein. Aber außer den beiden war niemand in der Gasse zu sehen.
»Manfred, was ist los? So ängstlich habe ich dich selbst früher bei den Raufereien mit Konrad und Faolán nicht erlebt.«
»Bruder Thomas, bitte. Mein alter Name existiert nicht mehr, ebenso mein früheres Leben … mit all seinen Sünden.«
Drogo wurde hellhörig. Sein einstiger Freund war offensichtlich den Klosteroberen treu ergeben. Eine Hörigkeit, die Drogo sich zu Eigen machen könnte …
»Ich will dich keinesfalls in Unannehmlichkeiten bringen«, fuhr Drogo fort. »Aber ich könnte dir möglicherweise helfen. Um es genauer zu erläutern, müssten wir uns allerdings ungestört unterhalten. Sobald du dir etwas Luft verschafft hast, suche mich im Adeligenquartier auf. Wenn möglich, noch vor der Vesper.« Bruder Thomas blickte skeptisch drein, sodass Drogo hinzufügte: »Es wird nicht zu deinem Nachteil sein. Im Gegenteil. Mehr kann ich im Augenblick nicht verraten. Wirst du kommen?«
Der Mönch biss sich auf die Unterlippe, sah auf die Scherben und sein besudeltes Habit. Drogo wusste, dass Manfred stets berechnend auf seinen Vorteil aus war. Das war damals der Grund gewesen, weshalb er sich auch auf Drogos Seite geschlagen und ihm mit gutem Rat geholfen hatte, Faolán und Konrad jede erdenkliche Falle zu stellen. Er war wie das Pendant zu diesem neunmalklugen Ering gewesen, auch wenn Manfred diesem nie ganz das Wasser reichen konnte.
Zögerlich willigte Manfred schließlich ein: »Ich werde kommen. Ob ich es aber noch vor der Vesperandacht einrichten kann, weiß ich nicht.«
Die Zusage genügte Drogo.
Bis zum Abend wartete er auf den Mönch. Mit wippendem Fuß saß er auf einem Stuhl und starrte grübelnd vor sich hin. Seine Finger trommelten unablässig auf der Tischplatte. Nicht einmal die Scherze und die Würfel seiner Männer konnten ihn auf andere Gedanken bringen. Schließlich sah er Bruder Thomas über den Hof eilen.
»Verschwindet!«, raunte Drogo seinen Gefährten zu, die ohne Zögern aufstanden und mit dem Eintreffen des Mönches das Haus verließen. Drogo schob seinem Gast einen Stuhl hin und verriegelte die Tür.
Thomas sah sich um, als suchte er den Ausweg aus einer Falle.
»Wie ich sehe, hast du dich beeilt«, eröffnete Drogo grinsend das Gespräch, um dem Mönch die Furcht zu nehmen, und zeigte auf das ölbefleckte Mönchsgewand. »Oder hat der Dicke dir verboten, dein Habit zu wechseln?«
Bruder Thomas strich verlegen über den groben Wollstoff. Er stand da, wie Drogo ihn in Erinnerung hatte: Hager und unscheinbar von Statur, mit einem spitz zulaufenden, hohlwangigen Gesicht. Dadurch wirkte er kränklich und schwach, was aber nicht zutraf.
»Nein, aber ich bin zuerst zu dir gekommen. Das Habit wechsele ich im Anschluss und dann muss ich zur Andacht eilen. Ich habe nicht viel Zeit.«
»Sei unbesorgt, du wirst auf den Glockenschlag pünktlich sein«, versicherte Drogo ihm, drückte ihn sanft auf den Stuhl und bot ihm einen Becher Wein an.
Thomas saß steif da und nippte kurz. »Ich gehe davon aus, dass es besser ist, wenn niemand von unserem Treffen erfährt?«
Drogo vermied eine Antwort. Manfred … nein, Bruder Thomas, korrigierte sich Drogo im Geiste. Schon als Knabe war Bruder Thomas mit einem schärferen Verstand gesegnet gewesen als die meisten anderen Novizen. Drogo hoffte, dass er wie damals auch heute noch mit den richtigen Argumenten zu beeinflussen war.
»Du hast recht«, bestätigte Drogo. »Was ich mit dir besprechen werde, darf diesen Raum nicht verlassen. Wirst du mir dein Wort geben und darüber schweigen?« Thomas zögerte und rutschte auf dem Stuhl herum. Er sah zur verschlossenen Tür und kaute auf seiner Unterlippe. Schließlich nickte er, und Drogo fuhr zufrieden fort: »Euer Abt spielt ein verräterisches Spiel!«
»Abt Degenar?«, platzte es aus dem Mönch heraus. Seine Augen quollen beinahe über und sein Unterkiefer klappte auf. »Er ist friedfertig und gottgefällig wie kein Zweiter. Welches Spiel könnte er treiben?«
Das war Manfred, wie Drogo ihn kannte. Er hoffte, das kurze Zucken seiner Mundwinkel blieb unbemerkt. »Keines, das ich nicht beherrsche«, versicherte Drogo trocken. »Nicht umsonst werde ich eines Tages das Sagen über diese Ländereien und damit auch über dieses Kloster haben.«
»Das ist mir nicht entfallen. Was habe ich mit dieser Angelegenheit zu tun?«
Drogo erhob sich und begann, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Raum auf und ab zu gehen. Sorgfältig wägte er seine Worte ab. »Abt Degenar hütet ein Geheimnis. Ich wünsche zu erfahren, was er mir verschweigt. Die Zukunft der Grafschaft hängt davon ab. Möglicherweise sogar mehr.«
»Mehr?«, wiederholte Thomas erstaunt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Oberhaupt derart tief in weltliche Machenschaften verstrickt ist. Allein, dass er sich in die Angelegenheiten der Grafschaft einmischt, ist unvorstellbar. Sein Denken und Handeln gilt ausschließlich dem Allmächtigen.«
»Früher einmal«, pflichtete Drogo mit einem Lächeln bei. »Aber die Umstände haben sich geändert. Jetzt geht es Degenar um mehr. Ich muss in Erfahrung bringen, welche Ränke er hinter meinem und des Kaisers Rücken schmiedet!«
»Der Kaiser …?«, erschrak Thomas. »Abt Degenar? Nein …!«
»Nicht? Und warum hat er kürzlich in Neustatt zwei vom Grafen angeklagten Weibsbildern ungestraft zur Flucht verholfen?«
»Das hat er getan?«, fragte der Mönch und erstarrte, als befürchtete er, vom Stuhl zu rutschen.
Schmunzelnd nickte Drogo und genoss die Wirkung seiner Worte. »Er hat die Gerichtsbarkeit des Grafen untergraben. Beunruhigt dich das? Dann sollte es dich noch weitaus mehr beunruhigen, dass du nichts davon erfahren hast! Wahrscheinlich weiß es niemand innerhalb der Abtei … bis auf …«
Bruder Thomas hielt Drogos Schweigen nicht aus. »Nun sag schon, wer weiß noch davon?«
»Es gab zu meiner Zeit nur einen Mönch, der das uneingeschränkte Vertrauen des Abtes genoss – und du kennst ihn gut.«
»Kellermeister Ivo«, schlussfolgerte Bruder Thomas mit einem Naserümpfen. »Seit er seinen himmlischen Gehilfen Faolán verloren hat, kann es ihm keiner recht machen.«
»Du sprichst nicht sonderlich respektvoll von den altehrwürdigen Mitgliedern der Bruderschaft«, stellte Drogo mit Zufriedenheit fest. Er war auf dem richtigen Weg. »Du klingst, als könntest du dir eine bessere Führung der Abtei vorstellen, nach all den Jahren unter Degenars Willkür. Bedenke: Das Kloster befindet sich im Besitz meiner Familie. Wenn jemand Einfluss auf Ämter nehmen kann, dann ich. Sprich frei heraus: Was liegt dir auf dem Herzen?«
Bruder Thomas ermutigte sich mit einem Schluck Wein und erzählte. Er beklagte sich über die schwere Arbeit, sei es auf den Feldern oder wenn er Bruder Ivo in der Küche und in den Gewölbekellern zur Hand gehen musste. Lob erhielt er niemals. Dafür aber umso mehr Schelte. Die Schwielen an seinen Händen und Schmerzen in Rücken und Gliedern seien unerträglich.
Drogo hörte geduldig zu. Er hatte ein Lamento dieser Art erwartet. Thomas war nicht für körperliche Arbeit geboren.
»Nun, ich werde sehen, was ich daran ändern kann. Im Scriptorium würde es dir gewiss besser gefallen als im Kochhaus«, warf Drogo sein Netz weiter aus, vermied aber, eine konkrete Zusage zu machen. Thomas nickte hoffnungsvoll. »Bevor es aber soweit ist, benötige ich deine Hilfe. Als Führer der Grafschaft ist es nicht immer einfach, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich versuche stets das gesamte Bild zu kennen. Dazu brauche ich gewissenhafte Vertraute innerhalb des Klosters.«
Thomas hing förmlich an Drogos Lippen. Allzu bereitwillig fragte er: »Was kann ich für dich tun?«
»Finde heraus, was Degenar in naher Zukunft beabsichtigt«, flüsterte Drogo verschwörerisch.
Die Hoffnung wich aus Thomas’ Gesicht. »Er wird es mir kaum in der Beichte anvertrauen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es einfach sein wird, an Degenar heranzukommen. Aber du hast schon als Novize stets einen Weg gefunden, um Antworten zu erhalten …«
Bruder Thomas atmete tief durch. Seine Lippen waren schmal und sein Blick schweifte in die Ferne. Drogo schwieg und wartete. Es fiel ihm nicht leicht, die Geduld aufzubringen. Nur mit Mühe konnte er seine Hände daran hindern, sich zu Fäusten zu ballen und auf den Tisch zu hauen.
»Ering!«, brach Thomas viel zu laut die Stille, sodass Drogo zusammenzuckte.
»Ering?«, wiederholte er, als hörte er den Namen zum ersten Mal.
»Faoláns Busenfreund. Wir haben ihn auch den Kriecher genannt.«
»Ich weiß, wer Ering ist«, entgegnete Drogo barscher, als er beabsichtigt hatte. »Ist er noch immer in der Abtei?«
»Ja, und er ist der Dritte im Bunde. Seit Konrad und Faolán nicht mehr hier sind, hat er sich an den Abt und den Kellermeister gehalten.« Thomas’ Miene verfinsterte sich. »Aber er wird sich eher die Zunge abbeißen, als mir etwas anvertrauen.«
Drogo war von der neuen Möglichkeit angetan. »Weiß er denn etwas, was … dem Grafen von Nutzen sein könnte?«
»Er hat gewiss nicht vergessen, dass ich dich früher unterstützt habe. Selbst wenn er Degenars Geheimnis kennt, wird er es mir gegenüber nicht leichtfertig ausplaudern. Wir gehen uns aus dem Weg. Und den Auskünften Nachhilfe zu leisten, wie du es verstehst, ist nicht meine Art.« Bruder Thomas ballte seine Fäuste, um zu veranschaulichen, was er meinte.
»Das erwarte ich auch nicht von dir«, wiegelte Drogo ab. »Du wirst einen anderen Weg finden, Erings Vertrauen zu gewinnen. Es mag seine Zeit dauern, doch mit etwas Anstrengung wirst du es eines Tages schaffen. Belanglosigkeiten sind der Anfang, dann erzähle ihm von deinen Problemen mit dem Dicken. Oder wie dich dein Gewissen plagt. Womit auch immer. Wenn du dich ihm öffnest, wird er es mit Gleichem vergüten, gutgläubig, wie er ist.«
»Was genau soll ich von ihm in Erfahrung bringen?«, hakte Thomas nach.
Den wahren Grund konnte Drogo unmöglich preisgeben. Er setzte sich und senkte seine Stimme verschwörerisch. »Es gibt Kräfte in der Grafschaft, die nach einem Umsturz streben. Sie gedenken nicht nur an meines Vaters Sitz zu rütteln, sondern am Thron des Kaisers selbst.«
Die Worte zeigten Wirkung: Bruder Thomas war entsetzt. »Wer würde es wagen?«
»Das beabsichtige ich herauszufinden. Vielleicht bist du der Glückliche, der die Wahrheit aufdeckt und die Verräter entlarvt. Deshalb will ich dir alles anvertrauen, was ich weiß«, gab Drogo vor, Thomas wie einen Gleichgestellten zu behandeln.
Mit konspirativ gesenkter Stimme berichtete er, was in Neustatt vorgefallen war. Namen ließ er außen vor. Er gab sich dennoch alle Mühe, es für Bruder Thomas so aussehen zu lassen, als erführe dieser alles, was auch Drogo wusste. »Die unmittelbare Bedrohung scheint für den Augenblick durch das Eingreifen der Nordmänner gebannt«, beendete er seinen Bericht mit gefalteten Händen. »Ich befürchte aber, dass die Verräter aus Neustatt nur Teil eines wesentlich größeren Komplotts waren. Wir müssen herausfinden, wer die Hintermänner sind. Ich bin davon überzeugt, Degenar kennt ihre Identität. Im schlimmsten Falle ist er gar ihr Handlanger. Es ist unsere Pflicht, den Kaiser vor subversiven Kräften zu bewahren.«
Thomas sah Drogo an, als wäre er eben aus einem Traum geweckt worden. »Ich … ich kann es nicht fassen! Aber was kann ich kleiner Mönch schon tun, um das zu verhindern? Wie können ein paar Informationen diese Mächte aufhalten?«
»Das ist keine leichte Aufgabe«, bestätigte Drogo, bot aber sogleich Rückhalt. »Du sollst den Kampf auch nicht allein aufnehmen. Du wirst einen kleinen Teil der Aufgabe für mich übernehmen, die aber nicht minder wichtig ist.« Thomas atmete auf, während Drogo weitersprach. »Gehe mit Bedacht vor. Unauffällig. Leise. Und mit Geduld.«
»Weniger Worte sind mehr Inhalt – der Leitspruch unseres Skriptors!«, entgegnete Thomas nickend. »Auf diese Weise werde ich Ering mit der Zeit erreichen.«
»Wenn du auf Schwierigkeiten triffst, unterrichte mich umgehend. Ich werde unter einem Vorwand wöchentlich Boten ins Kloster schicken. Über ihn werden wir Kontakt halten. An der Nordostecke dieses Hauses befindet sich ein loser Sockelstein. Dort wirst du deine Briefe deponieren und in Empfang nehmen. So wird dich niemand mit meinem Abgesandten in Verbindung bringen. Bist du bereit, dieses Risiko im Namen des Kaisers und des Heiligen Vaters einzugehen, zum Schutze des Reiches und der Kirche?«
Thomas überlegte nicht lange. »Ich werde nichts unversucht lassen, um dich zu unterstützen und die Verschwörung gegen den Kaiser aufzudecken.«
Drogo musterte Thomas eingehend. Dieser halbherzige Schwur war ihm nicht genug. Thomas musste bereit sein, über seine Grenzen zu gehen. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er ihn dazu bewegen konnte. »Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Je erfolgreicher du bist, umso großzügiger werde ich mich erkenntlich zeigen. Eine Tätigkeit im Scriptorium wäre das Mindeste. Aber auch andere Ämter könnten bald frei werden. Bedenke, Abt Degenar ist alt und schwach.«
»Willst du damit andeuten …?« Thomas Augen wurden groß, als er sich ausmalte, der Abt dieses Klosters zu sein. Die Falle war zugeschnappt.
»Es vergeht kein Jahr mehr und das Kloster wird ein neues Oberhaupt wählen«, behauptete Drogo mit fester Überzeugung. »Prior Walram muss nicht der einzige Anwärter auf das Amt sein. Die Familie des Grafen kann einen anderen Exspektanten benennen und ihn mit allen Kräften unterstützen.«
Bruder Thomas’ Augen quollen beinahe über. Die Vorstellungen schienen alles zu übersteigen, was er bisher für möglich geglaubt hatte. Feierlich begab er sich auf die Knie: »Ich gelobe, bei dem Heiligen Vater in Rom, dich und die gerechte Sache zu unterstützen. Gott ist mein Zeuge.«
Die Wärme der Genugtuung durchströmte Drogo. Der Anfang war gemacht, ein Verbündeter im Kloster gefunden. Gönnerhaft legte er ihm eine Hand auf das Haupt, dann zog er Thomas empor. »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, alter Freund. Jetzt aber spute dich, sonst kommst du zu spät zur Andacht.«
Erschrocken sah Thomas zum Fenster hinaus. Die Sonne war längst hinter den Gebäuden verschwunden und färbte den Himmel in ein kräftiges Orange. Ein verhaltener Fluch kam über seine Lippen. Eilig entriegelte er die Tür, lief aus dem Haus und über den Hof. Drogo schüttelte schmunzelnd den Kopf. Noch nie hatte er einen Mönch derart laufen sehen. Sein Schmunzeln wuchs zu einem Lachen.
Er läuft nicht aus Furcht vor dem Dicken, sondern aus Ehrfurcht vor mir. Dieser Gedanke gefiel Drogo, und er war sich sicher, dass Thomas der richtige Mann für diese Aufgabe war.