Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder - Holger Weinbach - Страница 7
ОглавлениеAnno 966 – Ungewissheit
Neugierig äugten die Krähen von den Dächern der Greifburg in den Innenhof. Die Geschäftigkeit der Menschen scheuchte die mutigeren Krähen vom Boden auf, die mit klagenden Schreien wieder zu den hoch gelegenen Plätzen der Festung flogen.
Dass es auf dem Hof der Burg lebhaft zuging, war nichts Außergewöhnliches. Heute allerdings herrschte unter den Burgbewohnern eine beinahe greifbare Anspannung. Es schien, als fürchteten sie, für jede überflüssige Silbe bestraft zu werden. Schweigsam und mit gesenkten Köpfen gingen die Mägde und Knechte ihren Tätigkeiten nach. Ein junger Stallbursche hielt die Zügel fünf gesattelter Pferde und eines Lastentiers in Händen. Die seitlich angebrachten Körbe waren prall mit Proviant gefüllt. Während die Tiere hufscharrend auf den Aufbruch warteten, schweifte der Blick des Burschen nervös von einem Gebäude zum nächsten. Sobald eine Tür aufging oder zuschlug, zuckte er zusammen.
Prior Walram stand am Fenster der schmalen Kammer und schnaubte verächtlich über die offensichtliche Furcht des Stallburschen vor seinem jungen Herrn. Drogo plante, die Burg mit einigen seiner Getreuen für mehrere Tage zu verlassen, so viel wusste Walram. Und was den Grafensohn aufhielt und letztendlich die Mägde und Knechte in Angst und Schrecken versetzte, war Walrams Anwesenheit auf der Burg. Der Gedanke gefiel ihm. Genüsslich legte er die Hände hinter dem Rücken zusammen.
Doch Walram wusste auch, dass diese Zufriedenheit lediglich ein anderes, viel tiefer liegendes Gefühl zu überdecken suchte. Ein beklemmendes Gefühl. Nervosität stieg erneut in ihm auf. Seine Hände verkrampften sich, während er die Unruhe niederkämpfte. Nein, er fürchtete sich nicht vor Drogo. Nicht wie dieser Stallbursche, auch wenn der Grafensohn ihn, den Prior der Abtei, wie einen solchen gerufen hatte. Widerwillig war Walram diesem Ruf gefolgt.
Drogos Zeit als Novize war längst vorbei. Sie war unter der wohlwollenden Obhut des Priors vorteilhaft für den Burschen verlaufen. Walram hoffte, dass diese Tatsache seinem einstigen Schützling noch in guter Erinnerung war. Seit Drogos Austritt aus dem Kloster vor Jahren hatte sich das Verhältnis zwischen den beiden stark verändert. Walram war sich nicht sicher, ob Drogo die Klosterzeit gleichermaßen bewertete.
Zudem lag die gravierendste Veränderung, die mit den misslichen Ereignissen in Neustatt einherging, erst wenige Tage zurück. In direktem Vergleich dazu war das Noviziat eine Ewigkeit her.
Der Anflug von Zufriedenheit war wie fortgefegt. Selbst ein erneuter Blick auf den Stallburschen brachte sie nicht wieder. Stattdessen verstärkte er jetzt Walrams Unsicherheit. Er sah zum westlichen Horizont. Unter den dunklen Wolken, hinter den dichten Wäldern lag Neustatt.
Neustatt – wie der Prior diesen aufstrebenden Flecken hasste. Dort hatte er verloren, was er zu gewinnen sich erhofft hatte. Täglich quälten ihn die Erinnerungen daran. Nicht nur, dass die beiden Heidinnen der Gerichtsbarkeit entgangen waren. Sein größter Zorn richtete sich gegen Faolán. Er allein machte in kürzester Zeit alles zunichte, was Walram sich über Jahre erarbeitet hatte. Dabei hatte er den Lieblingsnovizen seines Abtes längst tot geglaubt. Doch statt in irgendeinem Loch zu verrotten, besaß Faolán die Dreistigkeit, von den Toten aufzuerstehen, in Neustatt zu erscheinen und den angeklagten Frauen zur Flucht zu verhelfen.
Wie oft hatte Walram in den vergangenen Tagen seinen Amtsbruder Martin aus dem Columbankloster verflucht. Ihm hatte er aufgetragen, Faoláns Schicksal zu besiegeln. Ihn aus dem Weg zu schaffen. Weshalb nur war er so gutgläubig gewesen, jemand anderes als er selbst könnte diese Aufgabe zufriedenstellend erledigen? Hätte er doch nur Martins Nachricht vom Tod des Burschen auf seine Richtigkeit überprüft. Ohne den Leichnam hätte er sich nicht zufriedengeben sollen. Töricht war er gewesen! Hatte sein Mentor, Bruder Lothar, ihn einst nicht gelehrt, wichtige Angelegenheiten niemals fremden Händen anzuvertrauen?
Ähnliches Vertrauen hatte Drogo in Walram gelegt und wie dieser war er enttäuscht worden. Und diese rapide Entwicklung hatte jegliche Bande zwischen einstigem Novizen und Prior durchtrennt. Dabei hatte Walram den Jüngling noch vor wenigen Tagen unter seinem Einfluss, wie es ihm bei Rurik nie gelungen war: Drogo schien gewillt, dem Prior zu gewähren, was sein Vater stets verweigert hatte. Alles war zum Greifen nahe gewesen – und dann war Faolán erschienen!
Walram schloss die Augen und atmete tief durch. Er wusste, dass Drogo ihn aufgrund dieses Vorfalls auf die Burg beordert hatte. Beordert! Und Walram war keine andere Wahl geblieben, als zu gehorchen! Das Kloster befand sich im Besitz der Grafenfamilie. Widerstand hätte weitere Konsequenzen bedeutet und er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass dieser Vorfall größere Kreise zog.
Die Tür zur Kammer schlug auf, und riss Walram aus den Gedanken. Drogo betrat den Raum. Selbstsicher, breitschultrig und mit einem gewissen Maß Verachtung. Der junge Herr war für eine Reise gekleidet. Ein leichter Umhang lag auf seinen Schultern, darunter trug er eine Lederrüstung. Wie sehr er seinem Vater in jener Nacht ähnelt, als die Greifburg fiel, bemerkte Walram. Drogo wurde von zwei seiner engsten Vertrauten begleitet, die im Flur stehen blieben. Der Grafensohn schickte sich nicht an, die Tür zu schließen. Offenbar legte er, im Gegensatz zu seinem Vater früher, keinen Wert auf Diskretion.
Ohne den Mönch eines Blickes zu würdigen, ergriff der Jüngling verärgert das Wort: »In Neustatt ist sehr viel geschehen – mit Ausnahme dessen, was Ihr mir mit schönen Worten versprochen habt.« Der Grafensohn trat mit festen Schritten an das Fenster, sodass Walram eingeschüchtert zurückwich. Auch Drogo richtete seinen Blick in die Ferne. »Wie erklärt Ihr es Euch, dass ausgerechnet Faolán zur Rettung dieser Weibsbilder erschienen ist? Hattet Ihr nicht erst wenige Tage zuvor beteuert, er sei tot? Hattet Ihr nicht einen Zeugen, dem Ihr volles Vertrauen schenktet?«
Walram würgte den Kloß in seinem Hals hinunter. »Ich … ich hatte dir erklärt, dass die Nachricht über Faoláns Tod nicht von mir stammte, sondern von einem befreundeten Mönch aus dem Columbankloster, in das die beiden Novizen verbannt wurden. Er versicherte mir …«
»Offenbar war es eine Lüge!«, unterbrach Drogo die Ausflüchte des Priors mit zusammengepressten Zähnen. »Tatsache ist, dass Faolán lebt. Tatsache ist auch, dass er meinen Triumph vereitelt hat. Ihr hattet mir versichert, es könne nichts dazwischen kommen. Ihr hattet versichert, dass ein Urteil über die Frauen dem Volk zeigen würde, wer das Sagen in der Grafschaft hat. Und die Menschen würden glauben – laut Euren Worten – ich täte alles Erdenkliche zu ihrem Wohl! Sogar Flüche auf mich nehmen!«
Als Drogo den Fluch erwähnte, den diese Svea über ihn und seine Männlichkeit ausgesprochen hatte, senkte er seinen Blick für einen Moment, als wollte er sich vergewissern, dass ihm dort unten nichts fehlte, hob seinen Kopf aber rasch wieder. Mit wütendem Zittern in der Stimme fuhr Drogo fort: »Statt eines Sieges errang ich nur den Spott des Pöbels. Wisst Ihr, wie sie sich hinter vorgehaltener Hand über mich das Maul zerreißen?«
Walram senkte seinerseits den Blick. Er wusste, wovon Drogo sprach. Es war Häme, die sowohl gegen Drogo wie auch ihn gerichtet war. Allerdings war das Gelächter über den jungen Herrn weitaus größer. Die Geschichte um Drogos verfluchte Manneskraft hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Männer gaben sich in den Schenken lachend derben Erzählungen hin und wähnten hinter vorgehaltener Hand, Drogo sei jetzt das letzte Glied in Ruriks Blutlinie, da sein eigenes nach dem Fluch zu schwach oder gar verkümmert sei, um überhaupt noch etwas zustande zu bringen.
Eine Schmach, die der Bursche nicht auf sich sitzen lassen wollte. Walram konnte es nachfühlen. Die Rage darüber machte Drogo jedoch blind für wichtige Entscheidungen. Walram versuchte den Grafensohn zu beschwichtigen: »Was geschehen ist, war nicht vorhersehbar. Dass meinem Vertrauten im Columbankloster ein derart gravierender Fehler unterlief, traf niemanden härter als mich. Auch wenn es anders aussehen mag: Diese delikate Angelegenheit war von ihm bis ins letzte Detail …«
»Beinahe«, schnitt Drogo ihm das Wort ab. Speichel sprühte durch die Luft, als er wutentbrannt herumfuhr und weitersprach: »Ein kleines Detail hat er übersehen: In der Umsetzung mangelt es seinem Plan an TOTEN!«
Walram atmete tief durch und blieb gefasst. »Du kannst mir glauben: Faolán ist mir seit Jahren ein Dorn im Auge. Es liegt in meinem eigenen Interesse, ihn tot zu wissen. Du kennst die Bewandtnisse, die mich mit deinem Vater verbinden …«
»Lasst meinen … Vater aus dem Spiel!«, grollte Drogo und richtete seinen Blick jetzt erstmals auf Walram, der unweigerlich zusammenzuckte. Sofort schoss ihm das Bild des Stallburschen durch den Kopf und er straffte sein Rückgrat wieder.
»Verzeih, doch dein Vater und ich …«
»SCHWEIGT!«, herrschte Drogo den Prior an. »In Zukunft werdet Ihr mir den gebührenden Respekt entgegenbringen! Ich bin nicht mehr Euer Novize, den Ihr kommandieren könnt. Diese Zeiten sind vorbei! Vor Euch steht der künftige Graf.«
Trotz des Tonfalls zuckte Walram diesmal nicht zusammen. Dennoch trat er einen Schritt zurück, hob die Augenbrauen und besah sich Drogo von Kopf bis Fuß. Wahrlich, vor ihm stand nicht mehr der Knabe von einst, sondern ein gerüsteter Mann, der bereit und entschlossen war, jede Schlacht zu schlagen, ganz gleich welchen Preis er dafür zahlen müsste.
»Wie Ihr wünscht, Drogo«, lenkte Walram ein, um kein unnötiges Risiko einzugehen. »Dennoch hoffe ich, dass Ihr berücksichtigt, was wir bisher gemeinsam erreicht haben.«
»Was haben wir denn gemeinsam erreicht? Nichts! Das Gegenteil ist der Fall: Faolán lebt, taucht aus dem Nichts auf und befreit diese Metze, die Flüche wie den kirchlichen Segen austeilt! Das Volk lacht über mich, und der Irrsinn des Grafen ist auch nicht gerade förderlich. Was davon wollt Ihr mir als Erfolg verkaufen?«, schleuderte Drogo dem Prior entgegen.
Walram räusperte sich, hielt aber Drogos Blick stand. »Faolán ist lediglich ein … ein bedeutungsloser Bestandteil wesentlich komplexerer Umstände«, suchte Walram nach einer Möglichkeit, Drogo zu besänftigen. »Er hat keinerlei Auswirkungen auf Eure Stellung, auch wenn er … Euer Vetter ist. Unabhängig davon, wie unglücklich die Situation in Neustatt verlaufen ist, so ist das Resultat am Ende zumindest das gleiche.«
Drogo zog die Augenbrauen zusammen. »Was meint Ihr damit?«
»Faoláns Schicksal ist endgültig besiegelt!«, stellte Walram fest, nicht ohne ein gewisses Maß an Genugtuung, Drogo überrascht zu sehen.
»Woher wollt Ihr das jetzt wieder wissen?«, wiegelte der Grafensohn mit einer abfälligen Handbewegung ab. »Ihr habt es mir schon einmal versichert und das Gegenteil hat sich bewahrheitet. Die Einzigen, deren Tod wir uns sicher sein können, befinden sich zur Schau vor den Toren und auf dem Marktplatz Neustatts – zumindest das, was von ihnen übrig geblieben ist.«
Walram verzog das Gesicht bei der Erinnerung daran, was Drogo auf angeblichen Erlass seines Vaters angeordnet hatte: Die beiden gefallenen Krieger in Faoláns Geleit waren zum Labsal der Krähen und zur Abschreckung von Schurken und Beutelschneidern gehäutet, auf Pfähle gerammt und vor jeweils einem Tor der Stadt aufgestellt worden. Als sei das nicht abscheulich genug, hatte er die zerstückelten Überreste der alten Kräuterfrau aus dem Fluss fischen und an der alten Linde auf dem Marktplatz aufhängen lassen. Walram hatte sich an jenem Tag beim Anblick und dem Gestank der herabhängenden Gedärme beinahe übergeben müssen.
Die Bewohner nahmen diese Zurschaustellung mit gemischten Gefühlen auf. Zwar hatte ein Großteil von ihnen am Prozesstag lauthals nach einer Bestrafung der beiden Frauen geschrien, doch niemand hatte damit gerechnet, Alveradis’ Schicksal derart vor Augen geführt zu bekommen. Viele hatten die betagte Kräuterfrau seit ihrer Kindheit gekannt. Ausnahmslos war sie allen bei Krankheiten und Geburten eine willkommene Hilfe gewesen. Und jetzt, nach ihrem Tod, wussten die Neustätter nur Gutes über sie zu berichten und niemand konnte sich erklären, wer und weshalb man sie überhaupt bestrafen wollte. Wer sollte die klaffende Lücke nach ihrem Tod schließen?
Walram lenkte seinen Fokus wieder auf Drogo und sein messerscharfer Verstand lieferte ein weiteres Argument: »Wurde trotz aller Widrigkeiten nicht erreicht, was Ihr beabsichtigt?«
Drogos Augen wurden groß. »Ich wollte sie tot sehen!«, spie er dem Mönch entgegen. »Vor allem diese Rothaarige und Faolán. Ich will sie beide tot sehen. Alle!«
»Ich verstehe Euch und teile Euren Eifer«, entgegnete Walram mit besänftigender Stimme. »Aber mir wurde berichtet, dass die Nordmänner Faolán aus dem Wasser und an Bord eines ihrer Schiffe gezogen haben. Entspricht das der Wahrheit?« Drogo nickte und der Prior fuhr mit einer Stimme wie aus warmem Öl fort: »Versteht Ihr nicht, dass dies Faoláns Verdammnis gleichkommt? Selbst wenn sein Leben von den Nordmännern verschont bleiben sollte, so werden sie ihn und alle anderen, die sie noch aus dem Wasser gefischt haben könnten, als Sklaven verkaufen. Als Unfreie werden sie den Rest ihres Daseins irgendwo im rauen Norden fristen. Ich bin davon überzeugt, dass Faolán diesem Schicksal nicht gewachsen ist. Er war schon immer schwächlich und wird unter der Last eines harten Lebens zerbrechen!«
Die einlullenden Worte ließen Drogo nachdenken, doch am Ende waren sie nicht genug. »Was ist mit dem dritten Reiter? Ich will wissen, wer er war! Keiner von ihnen wird davonkommen – so wahr ich hier stehe. Ich lasse mich von niemandem vorführen!«
Walram ignorierte die Besessenheit in Drogos Tonfall und versuchte erneut, den jungen Herrn zu beruhigen: »Könnt Ihr Euch nicht mit dem Erreichten zufrieden geben? Faolán wird Euch nicht mehr im Wege stehen. Das Mädchen sowie auch der letzte Reiter sind wahrscheinlich gefangengenommen worden oder im Fluss ertrunken. Welchen Unterschied macht es? Für sie gilt das Gleiche wie für Euren Vetter: Sie sind keine Gefahr mehr und haben ihre Strafe erhalten.«
»Und wer garantiert mir das? Ihr etwa?«, spottete Drogo. Hass und Misstrauen flammten wieder in seinen Augen auf.
»Wozu eine Garantie? Sie sind fort, aus Eurem Leben verschwunden. Tot oder versklavt ist am Ende doch gleichgültig.«
»Für Euch vielleicht«, zischte Drogo bedrohlich. »Ihr wart einmal zu oft gutgläubig, als es um Faolán ging. Ich brauche Gewissheit, dass er für immer verschwunden ist. Spätestens seit seinem Auftauchen in Neustatt wisst Ihr, wie gefährlich er sein kann. Ich will Klarheit über das Schicksal dieser drei und werde erst ruhen, wenn ich sie oder ihre Gräber gefunden habe. Wobei Ersteres auf das Zweite hinauslaufen wird«, sinnierte Drogo und musste über seine eigene Schlussfolgerung schmunzeln. Doch sogleich verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Glaubt Ihr etwa, ich riskiere nochmal einen Auftritt wie in Neustatt?«
Walram hielt dem Blick stand, wenn auch mit Mühe. »Selbstverständlich nicht. Wenn das Euer primäres Ziel ist, werde ich Euch nicht davon abbringen. Allerdings möchte ich Euch einen Rat geben: Hütet Euch vor den verzehrenden Flammen der Rache. So wohlig warm sie im Augenblick erscheinen, sie können Euch blenden und wichtigere Gegebenheiten übersehen lassen. Das Kaiserreich und seine Mächtigen werden nicht schlafen, während Ihr Euch auf einer hoffnungslosen Suche nach Eurem Vetter befindet.«
»Seid unbesorgt.« Drogo musterte den Mönch verächtlich. »Euren Rat benötige ich nicht.«
Drogos Worte trafen Walram wie eine Ohrfeige. Er mühte sich dennoch, unbeeindruckt zu wirken. »Dies wirft die Frage auf, weshalb Ihr mich habt rufen lassen?«
»Ihr seid trotz allem nicht ganz so nutzlos, wie Ihr vielleicht befürchtet. Zudem seid Ihr in die Angelegenheit ebenso verstrickt wie ich.« Drogos Blick ließ keinen Zweifel daran, dass die nächsten Worte keinesfalls eine Bitte, sondern eine Anweisung waren. »Ihr werdet meine Augen und Ohren sein, Walram. Davon besitzt Ihr mehr, als die Euch von Gott gegebenen. Haltet sie nach Faolán offen. Seht und hört Euch um und bringt in Erfahrung, wer der dritte Reiter war. Sendet Boten aus, fragt Eure Helfer oder geht damit direkt zu Eurem Abt. Womöglich steckt der mit Faolán unter einer Decke, schließlich war er ebenfalls in Neustatt. Faolán und sein Kumpan waren nicht zufällig in Habite gekleidet. Glaubt mir, Degenar ist tiefer darin verwickelt, als Ihr denkt. Unterschätzt den Alten nicht!«
Walram grunzte bei dem Versuch, ein Lachen zu unterdrücken. »Abt Degenar, den ich wie ein Häufchen Elend auf dem Podest in Neustatt zurückgelassen habe? Ihn unterschätzen? Seit jenem Tag hat er seine Gemächer nicht mehr verlassen. Er ist ein gebrochener alter Mann, der sich in Gebete flüchtet. Was könnte er mir anhaben?«
»An Eurer Stelle wäre ich mir nicht so sicher, was Degenars Rolle betrifft. Nutzt Eure Kontakte innerhalb der Kirche. Lasst im Norden nach Hinweisen auf Faolán fahnden. Kennt Ihr keine Missionare, die zu den Heiden unterwegs sind? Vielleicht nutzt Ihr Degenars Fühler, die er gewiss nach Faolán ausstrecken wird. Sobald Ihr einen Hinweis erhaltet, mag er noch so unbedeutend erscheinen, setzt mich in Kenntnis!«
Walram schluckte den Befehl und bändigte seinen Zorn darüber, wie ein Knecht behandelt zu werden. Er musste in Drogo den Eigentümer des Klosters sehen, mehr nicht. Der Grafensohn hatte ohnehin alles gesagt und war auf dem Weg aus der Kammer. Ihm aber das letzte Wort zu überlassen, war Walram nicht gewohnt. Ehe er sich versah, hatten die Worte seinen Mund verlassen: »Aber woher soll ich wissen …?«
Drogo hielt im Türstock inne, ohne sich umzudrehen. »Das Wie und Wo überlasse ich Euch. Mich interessieren lediglich Ergebnisse. Und ich rate Euch, sie früher als später zu liefern. Und jetzt langweilt mich nicht mit weiteren Details, ich muss mich um andere Belange kümmern. Jeder verschwendete Tag könnte das Auffinden von Leichen am Flussufer erschweren.«
»Ganz der Vater …«, murmelte Walram.
Drogo hatte es gehört. Langsam schloss er jetzt die Tür und kam auf Walram zu. Dicht vor ihm blieb er stehen. Seine Stimme war ruhig, doch die Bedrohlichkeit darin war weitaus größer, als wenn er geschrien hätte: »Ich sage es Euch noch ein einziges Mal: Vergleicht mich nie wieder mit meinem Vater! Nie wieder! Habt Ihr das verstanden?«
Walram wagte kaum zu atmen. Er rang mit sich, den Mund zu halten, doch seine Eitelkeit siegte und seine Antwort kam krächzend: »Dann – dann handelt nicht wie er. Enttäuscht mich nicht, wie er es einst getan hat.«
Drogos Hand schoss vor, packte den Mönch bei der Kehle und drückte ihn gegen die schroffe Wand. »Es dreht sich hier nicht darum, ob ich Euch enttäuschen könnte. Ihr seid es, der mich nicht mehr enttäuschen sollte. Einmal habt Ihr es bereits getan. Ein weiteres Mal hätte fatale Folgen für Euch.«
»Habe ich Euch so wenig gelehrt in all den Jahren?«, hauchte Walram mit zugeschnürter Kehle. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er wusste, dass er totenblass war.
»Wahrlich, Ihr habt mich Einiges gelehrt, Mönch. Unter anderem, wie man mit unliebsamen Zeitgenossen wie Faolán umgeht. Mein Dank dafür ist Euch gewiss. Doch gebt Acht, dass Ihr Euch nicht ebenso unliebsam macht wie er – sonst bekommt Ihr Eure Lehren am eigenen Leib zu spüren.«
Drogo versicherte sich mit eindringlichem Blick, dass die Botschaft angekommen war, löste dann seinen Griff, riss die Tür auf und ließ den Mönch allein zurück. Walram blieb an der Wand stehen, rang nach Atem und rieb sich die Kehle. Seine Gedanken rasten. Es war erschreckend zu erkennen, dass Drogo sich innerhalb kürzester Zeit zum Ebenbild seines Vaters entwickelt hatte. Zumindest wie Rurik vor vielen Jahren gewesen war, bevor er dem Irrsinn verfiel.
Zu Walrams Leidwesen befand er sich Drogo gegenüber jetzt in der gleichen Position wie einst vor Rurik. Und das war die verhasste Position eines Bittstellers. Dabei hatte er über Jahre bei dem Jüngling auf das Gegenteil hingearbeitet und große Hoffnungen in ihn gesetzt. Als Walram sich das vor Augen führte, erwachte er aus seiner Starre und fluchte leise vor sich hin. Es war Zeit, aus dem Schatten der Grafenfamilie herauszutreten. Je früher, umso besser!
Dicht gefolgt von seinen Männern eilte Drogo die steinerne Treppe
hinunter. »Habt ihr gehört, wie dieser Pfaffe es gewagt hat, mich mit meinem Vater zu vergleichen? Der Graf …«, Drogo spie aus, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, »… ist doch nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein Irrsinniger, der nicht mehr weiß, wer sein eigen Fleisch und Blut ist. Ich frage mich, wem er näher steht – mir oder meinem Vetter?«
Die Männer sahen sich fragend an. Drogo murmelte weiter vor sich hin. »Nein, der große Graf hat erst im vergangenen Winter deutlich gemacht, dass er alles daran setzt, Rogar zu finden. Eher riskiert er die Grafschaft und den Titel, als seinem Sohn zu helfen. Schwachsinn! Ein Bad und ein Haarschnitt brächten den alten Mann vielleicht wieder zur Besinnung.«
Die beiden Männer bekundeten murrend ihre Zustimmung. Nur die Wenigsten in der Burg sahen den Grafen noch als Weisungsbefugten an, das wusste Drogo. Die Befehle erhielten die Burgbewohner von ihm oder der Gräfin. So offensichtlich die Verhältnisse auf der Burg auch waren, noch nie hatte Drogo seinen Unmut darüber in Gegenwart anderer ausgesprochen, geschweige denn seinen Vater diskreditiert.
Und dann auch noch der Vergleich mit ihm. Zornig über die Dreistigkeit des Mönches und die Schwäche seines Vaters, betrat Drogo den Burghof. Bevor er nach seinen Gefolgsleuten und Pferden rufen konnte, kam ihm ein älterer Bediensteter mit fuchtelnden Armen entgegen. Drogo blieben die Worte im Halse stecken. Der Alte verneigte sich vor ihm. »Verzeiht, dass ich Euch aufhalte, junger Herr, doch die Gräfin hat mir aufgetragen, Euch in ihre Gemächer zu führen.«
Drogo war sprachlos. Seine Mutter sandte so gut wie nie nach ihm – weshalb ausgerechnet jetzt, wo er aufbrechen wollte? Drogo holte tief Luft. »Richte ihr aus, ich werde in einigen Tagen zurück sein und sie dann aufsuchen.« Und mit etwas Spott fügte er hinzu: »Sollte in der Zwischenzeit ihr Mitteilungsbedürfnis überhandnehmen, kann sie sich ja an den Grafen wenden. Er wird gewiss mit ein paar amüsanten Geschichten aufwarten und ihr die Wartezeit verkürzen.«
Der Alte richtete sich halb auf und spielte mit dem Saum seiner einfachen, fleckigen Tunika. »Verzeiht, mein Herr, soll ich der Herrin genau diesen Wortlaut überbringen?«
Drogo kannte die Furcht in den Augen des Alten. Er hatte sie unzählige Male in den Augen der Männer und Frauen auf der Burg gesehen, selbst wenn nur der Name der Gräfin Wulfhild fiel. Niemand konnte wissen, wie sie auf eine derartige Antwort reagieren würde, nicht einmal Drogo. Wütend trat er nach einem Stein. »Hat sie gesagt, weshalb sie mich zu sehen wünscht?«
»Nein, mein Herr. Sie wirkte aber sehr besorgt …«
»Gottverflucht! Ausgerechnet jetzt!« Der Bedienstete zuckte zurück, als Drogo seine Handschuhe abstreifte und sie einem seiner Männer reichte. »Gut, ich werde zu ihr gehen.« Der Alte atmete auf, doch Drogo ließ ihn noch nicht gehen. »Suche meine Männer auf. Sage ihnen, ich erwarte sie in Kürze auf dem Hof.«
»Aber … aber soll ich Euch nicht zur Gräfin …« Drogos strenger Blick ließ die Worte ersterben, und den Mann erneut buckeln. »Sehr wohl, mein Herr. Eure Männer verständigen. Ich eile …«, antwortete er und lief davon.
Drogo sah ihm nach und schmunzelte. Im Respekteinflößen stand er seiner Mutter in nichts nach. Allerdings, und das gestand er sich nur ungern ein, besaß sie darin eine besondere Gabe. Sie bekam stets ihren Willen. Sein Schmunzeln erstarb, als Drogo sich bewusst wurde, dass sie auch bei ihm ihren Willen durchsetzte.
Wütend ließ er seine beiden Getreuen auf dem Hof zurück und machte sich auf den Weg zur obersten Kammer des Bergfrieds, wo Wulfhild wie eine Glucke saß und alles im Blick hatte. Er hastete die Treppen hinauf in der Hoffnung, dadurch seinen Zorn zu bändigen. Mit rasendem Herzen und schwer atmend kam er am obersten Podest an, blieb dann aber vor der Tür stehen. Würde er jetzt eintreten, hätte es den Anschein, als sei er eiligst ihrem Ruf gefolgt. Die vorläufig gebändigte Wut flammte wieder auf. Stets bekam sie ihren Willen, aber nicht mit ihm. Diese Zeiten waren vorbei. Er beruhigte seinen Atem und sein Herzschlag normalisierte sich.
Ohne zu klopfen, betrat Drogo den Raum. Die Gräfin saß auf einem gepolsterten Stuhl mit Armlehnen und las in mehreren Dokumenten. Sie sah nicht auf und schien dennoch zu wissen, wer soeben das Gemach betreten hatte. Kein Anzeichen von Neugier, keine Regung von Verärgerung wegen des fehlenden Klopfens. Drogo rief sich in Erinnerung, dass keiner der Bediensteten es wagen würde, unaufgefordert einzutreten.
Ohne ihr langes, geflochtenes Haar und die ausladend mächtigen Brüste hätte seine Mutter aufgrund ihrer massigen Statur für einen kräftigen Mann gehalten werden können. Da schoss Drogo eine Frage durch den Kopf: Welche Not hatte Rurik getrieben, dieses Weib zu ehelichen?
Wulfhild unterbrach seine Gedanken, den Blick weiter auf die Dokumente gerichtet: »Drogo, mein Sohn, schließ die Tür und setz dich zu mir.«
Selten betonte die Gräfin, dass Drogo ihr Sohn war, und es ließ nie etwas Gutes erahnen, wenn sie es tat. Irritiert und gespannt zugleich gehorchte er, setzte sich auf den einfachen Stuhl ihr gegenüber und wartete geduldig. Seine Mutter verwaltete die Güter mit aller Sorgfalt und überließ nichts dem Zufall. Sie würde die Pergamente erst zur Seite legen, wenn sie am Ende der Register angelangt und zufrieden war. Drogo hatte dieses Geduldsspiel bereits als Kind erlernen müssen und wagte es auch jetzt nicht, sie zu stören.
Schließlich legte Wulfhild die Pergamente beiseite und wandte sich mit kühlem Tonfall Drogo zu. »Was hatte dieser Prior hier zu suchen?«
Drogo war nicht überrascht, dass sie über Walrams Anwesenheit informiert war. Dass sie ihn aber derart unverfroren darauf ansprach, ärgerte ihn dennoch. »Ich habe ihn gerufen!«, antwortete er spitzzüngig.
»Was hast du mit ihm zu schaffen?«
»Ich bitte Euch, Mutter«, raunte Drogo und rollte mit den Augen. »Versucht mir jetzt nicht zu erzählen, Euch seien die Gerüchte aus Neustatt noch nicht zu Ohren gekommen. Eigens dafür habt Ihr doch ein paar Mägde mehr, als Ihr eigentlich benötigt, nicht wahr? Ich schwöre jeden Eid darauf, dass sie noch in der gleichen Nacht alles aus meinen Männern herausgevögelt haben, was Ihr wissen wollt. Wie viele Bälger müssen wir wegen Eurer Neugier eigentlich schon durchfüttern?«
Wulfhild schwieg und sah ihren Sohn scharf an. Mit einem Fingerschnippen lag sein Blick wieder auf ihr. »Sind sie wahr, diese Geschichten?«
»Welche davon meint Ihr? Die Männer reden viel zwischen den Beinen einer Metze. Je kleiner ihr Gemächt, umso größer ihr Mundwerk«, entgegnete er mit einem Lächeln, zufrieden, den Beginn dieser Unterredung zu steuern.
»Spiel keine Spielchen mit mir!«, wies Wulfhild ihn kaltschnäuzig zurecht. »Ich bin deine Mutter und erwarte den gebührenden Respekt, wie ihn die Kirche und die Bibel verlangen. Also, sind sie wahr?«
»Was wisst Ihr über diesen Faolán?«, wich Drogo aus. »Hat Vater ihn jemals erwähnt? Hat er Euch erläutert, in welchem Zusammenhang er zu uns steht?«
»Faolán? Diesen Namen kenne ich«, überlegte Wulfhild. »Steckt er mit Walram unter einer Decke?«
Drogo klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel. Wulfhild strafte ihn mit einem noch strengeren Blick. »Beherrsche dich!«, fuhr sie ihn an.
»Ihr habt keine Ahnung, wer dieser Faolán sein könnte?«, fragte Drogo und wischte sich die Tränen aus den Augen. Die Gräfin gab sich nicht die Blöße einer Verneinung, was Drogo ausreichende Genugtuung war, und er sprach weiter. »Faolán ist kein geringerer als Rogar, Euer Neffe. Und er ist am Leben. Ja, da gehen Euch die Augen über, nicht wahr? Bemüht Euch nicht, ich kenne die Wahrheit jener Blutnacht, als die Burg in Vaters Hände fiel. Er hat mir alles erzählt. Wie Ihr seht, hat sein Irrsinn auch Vorteile: Er wird redselig.«
»Spotte nicht über den Grafen«, rügte Wulfhild ihn halbherzig, knüpfte aber sogleich an seine Worte an. »Du sagst, Rogar lebt. Wo ist er und was hat dieser Mönch damit zu tun?«
»Seid unbesorgt, Mutter. Ich bin mir sicher, weder Faolán noch Walram stellen eine Gefahr für uns dar. Euer Geheimnis ist gut gehütet.«
»Weshalb nennst du ihn nicht bei seinem richtigen Namen, wenn es sich bei dem Burschen um deinen Vetter handelt? Er heißt Rogar!«
»Ich kenne ihn seit vielen Jahren unter einem anderen Namen und deshalb bleibt er für mich Faolán«, erklärte Drogo gleichgültig. »Er war ebenfalls Novize im Benediktinerkloster. Ein Schützling des Abtes. Ich vermute, Degenar wusste all die Jahre um seine wahre Identität. Er lebte sozusagen direkt vor Eurer Nase, saugte von Eurer Titte, Mutter.«
»Dieser alte Mann wagte es …«, brüskierte Wulfhild sich, verlor auf der vergeblichen Suche nach den passenden Worten für diese Dreistigkeit aber den Faden.
»Er wagte sogar noch mehr. Er hat vor einigen Tagen in Neustatt Partei für die beiden Frauen ergriffen, die ich der Zauberei überführt hatte. Walram und ich waren gerade im Begriff, dem Volk das Urteil zu verkünden, als Degenar auftauchte und versuchte, uns falsche Worte in den Mund zu legen. Sein Bemühen war vergebens und ich sah die beiden Frauen schon am Baum hängen. Doch dann tauchte Faolán auf, obwohl Walram mir erst wenige Tage zuvor versichert hatte, mein Vetter sei tot.«
Wulfhild hatte bei der Erzählung die Luft angehalten. Ein Zustand, den Drogo selten bei seiner Mutter sah und äußerste Anspannung bedeutete. Er genoss diesen Anblick und wartete, bis die Gräfin wieder Luft und Worte fand. »Wie kam der Prior zu dieser gravierenden Fehleinschätzung? Wenn er um den angeblichen Tod des Jünglings wusste, war ihm all die Jahre über auch dessen Identität bekannt? Welch schlechtes Spiel hat er mit uns getrieben? Wie lange weißt du davon?«
»Zumindest behauptet er, es früh geahnt zu haben. Angeblich hat er Vater mehrfach davon zu überzeugen versucht, dass Faolán der verlorene Sohn sei. Das erste Mal kurz nach der Einnahme der Greifburg.«
Drogo beobachtete seine Mutter jetzt genau. Im Gegensatz zu Rurik schien die Vergangenheit Wulfhild kein schlechtes Gewissen zu machen. Während der Graf seit Monaten der Wahnvorstellung erlag, von seinem toten Bruder heimgesucht zu werden, blieb Wulfhild bei der Konfrontation mit der Vergangenheit nüchtern. »Walram ist in mehrfacher Hinsicht unfähig und für solche Angelegenheiten offensichtlich der falsche Mann.«
Drogo nickte. »Ich habe ihm heute deutlich zu verstehen gegeben, dass seine Unfähigkeit und Gutgläubigkeit eines Tages eine Gefahr für uns darstellen könnte.«
»Was ist mit Rogar? Wo ist er jetzt?«
»Ich erspare Euch die Einzelheiten. Ihr müsst lediglich wissen, dass er von Nordmännern verschleppt wurde, die flussabwärts gefahren sind. Sie bringen ihn weit weg von uns, in den heidnischen Norden, um ihn dort als Sklaven zu verkaufen oder – mit ein wenig Glück – gleich zu töten, weil sie ihn für wertlos halten.«
Wulfhilds Blick schweifte in die Ferne jenseits der undurchdringlichen Mauern ihrer Kammer. »Von den Nordmännern entführt«, hauchte sie, als könnte sie nicht glauben, was Drogo berichtet hatte. Hastig bekreuzigte sie ihre Stirn, als zeichnete sie Ruriks Narbe nach. »Ich hoffte, wenigstens dieser Teil der Erzählungen meiner Mägde sei ein Gerücht.«
»Beherrscht Euch, Mutter, und fangt nicht an, wie Vater daherzureden. Auch wenn Ihr Euch damals für den Überfall den Ruf der Nordmänner zunutze gemacht habt, stellt ihr Auftauchen keine göttliche Rache dar. Im Gegenteil, sie scheinen ihre von Euch zugedachte Rolle weiterzuspielen. Sie bringen Faolán weit weg, wo er uns nicht schaden kann. Wobei ich ihn lieber …«
»… eigenhändig getötet hättest!«, beendete Wulfhild den Satz. Langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück. Drogo nickte stumm. Zumindest in dieser Angelegenheit waren sie einer Meinung.
»Ich verstehe dich, mein Junge. Rogar – ja, ich nenne ihn bei seinem richtigen Namen! – mag zwar weit weg sein, womöglich versklavt und gedemütigt. Doch solange er am Leben ist, stellt er eine Bedrohung dar. Er könnte uns alles nehmen, was …«
»… Ihr Euch von ihm genommen habt und rechtmäßig seins wäre?«, beendete Drogo den Satz und hielt dem eiskalten Blick seiner Mutter stand.
»Nein«, widersprach Wulfhild und zeigte keinerlei Regung. »Er könnte uns alles nehmen, was wir für dich erobert haben. Wir haben gehandelt, wie es alle Eltern bedeutender Familien tun: Den Fortbestand ihrer Blutlinie sichern.«
Drogo konnte nicht glauben, was er hörte. Sein Lächeln erstarb, und er spuckte vor seiner Mutter aus. »Als hätte ausgerechnet ich Euch am Herzen gelegen, als Ihr diese Burg im Blick hattet! Der Kaiser und die Kurie sind alles, was für Euch zählt. Verschont mich also mit Geschichten über Eure angebliche elterliche Fürsorge. Oder habe ich deshalb die unendlichen Jahre im Kloster verbringen müssen, wegen Eurer Fürsorge? Fortbestand der Blutlinie …«, verächtlich schüttelte er seinen Kopf, »… Euch ging es doch nur um die eigene Macht und das gemachte Nest!«
Wulfhild erhob sich in all ihrer Massigkeit schneller, als Drogo es ihr zugetraut hätte, und schlug ihm ins Gesicht. Mit offenem Mund sah er seine Mutter an.
»Untersteh dich, derart mit mir zu reden!«, herrschte sie ihn an. Wut zeichnete ihr Gesicht und in ihren Augen spiegelten sich Drogos Kälte und Hass. Er tat nichts, um dies zu verbergen. Als Wulfhild das begriff, wandte sie sich ab und ging zu einem der Fenster. »Auch wenn du es nicht glaubst oder hören magst, dein Aufenthalt im Kloster war die beste Erziehung, die wir dir zuteilwerden lassen konnten. Du magst es anders sehen, doch eines Tages wirst du es verstehen und zu schätzen wissen.«
Drogos Stimme war pures Eis. »Was ich gesagt habe, meinte ich auch so: Verschont mich mit diesem Gerede.« Er widerstand dem Verlangen, seine pochende Gesichtshälfte zu reiben. »Was Ihr damals getan habt, geschah in erster Linie für Euch – nicht für mich.«
Wulfhild fuhr herum. »Haben dich die Mönche nicht die heiligen Gebote gelehrt? Vater und Mutter sollst du ehren!«
Drogo winkte ab, erhob sich und ging zur Tür. Er hatte genug von diesem Geschwätz. Zufrieden spürte er den entsetzten Blick seiner Mutter im Nacken, die es nicht gewohnt war, dass man sie einfach stehen ließ. Als sie sprach, klang ihre Stimme so weich, wie Drogo sie selten gehört hatte und das ließ ihn erstarren, bevor er die Tür erreichte.
»Warte! Vielleicht hast du … recht. Aber wir hatten ebenso dich im Sinn. Ein Sohn, der eines Tages an seines Vaters Stelle treten soll.« Drogo schüttelte ungläubig den Kopf, während Wulfhild fortfuhr: »Glaube es oder glaube es nicht. Du bist unser Sohn, und durch unser Handeln bist du vom einfachen Sohn eines Gutsbesitzers zum Sohn des Grafen geworden. Eines Tages wirst du ihn beerben. Und wenn es so weit ist, liegt es da nicht in deinem Sinne, eine Grafschaft zu erhalten statt eines Hofes?«
Drogo schwieg. Seine Gedanken rasten, suchten einen Weg, um diese Wahrheit Lügen zu strafen, um den Hass gegen seine Mutter aufrechtzuerhalten. Wulfhild wertete sein Schweigen als Zustimmung. »Sollte Rogar noch am Leben sein, müssen wir alles daran setzen, dies zu ändern.«
»Nichts anderes habe ich vor …«, knurrte Drogo, »und ich weiß auch schon wie. Lass das nur meine Sorge sein.«
»Nein, das lasse ich nicht. Oder willst du am Ende vor dem Kaiser Rede und Antwort für einen Mord stehen? Nein, mein Sohn, das fangen wir geschickter an. Dein Weg ist nicht der eines kaltblütigen Mörders.«
»Und welchen habt Ihr für mich vorgesehen?«, fragte Drogo zynisch, der nichts dagegen hatte, die Klinge öffentlich an Faoláns Kehle anzulegen.
»Du musst die Nähe des Kaisers suchen«, begann Wulfhild, jetzt wieder mit wesentlich sachlicherer Stimme.
»Des Kaisers …?«
»Unterbrich mich nicht!« Wulfhild starrte hochkonzentriert in die Leere des Raumes. »Wir müssen deines Vaters Rücktritt vorbereiten. Es wäre von Vorteil, wenn du bis dahin Einfluss am Hofe des Regenten hättest. Lerne Leute kennen, sei zuvorkommend, sei großzügig; schaffe dir Freunde und Verbündete. Warte dem Kaiser auf. Scheue keine Mühe, ganz gleich, was die anderen sagen werden. Auf diese Weise bleibst du ihm im Gedächtnis und es wird ihm leichter fallen, dich zum Grafen zu ernennen, wenn es soweit ist.«
Drogo schnaubte. »Weshalb so umständlich? Alles, was wir tun müssten, wäre Vater aus dem Weg zu schaffen, und ich wäre der neue Burgherr!«
Zu Drogos Überraschung antwortete seine Mutter keinesfalls bestürzt. »Sei nicht einfältig. Ein derart törichtes Verhalten macht dich noch lange nicht zum Grafen, sondern würde viele Fragen aufwerfen. Der Kaiser ist nicht verpflichtet, Adelstitel an die Nachkommen der Verstorbenen zu übertragen. Gäbe es auch nur den leisesten Zweifel an dir und fände er einen fähigeren Mann für diese Ländereien, könntest du ebenso leer ausgehen. Nein, wir müssen klüger vorgehen. Dein Vater mag zwar wahnsinnig sein, aber uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als ihm das Gnadenbrot zu gewähren.«
»Ein Unglück?«, schlug Drogo ohne Umschweife vor.
»Zu offensichtlich.«
»Ein Jagdunfall?«
»Wann hast du deinen Vater das letzte Mal auf die Jagd begleitet?«, tat Wulfhild auch diese Idee ab. Drogo schwieg und gestand sich ein, dass die Problematik weitaus komplexer war, als er gedacht hatte. »Seit dein Vater von Farolds Erscheinungen brabbelt, traue ich ihm nicht einmal zu, ein Pferd von einem Hund zu unterscheiden, geschweige denn es zu reiten.«
»Was sollen wir mit ihm machen? Ihn einsperren?«
»Wir unternehmen zunächst nichts. Ich werde schon eine Lösung finden, vertrau mir. Du kümmerst dich in der Zwischenzeit um die Nähe zu Kaiser Otto und überträgst die Suche nach Rogar einem anderen. Einem Menschen, dem du uneingeschränkt vertrauen kannst.«
»Ich dachte, das bereits getan zu haben und wurde jäh enttäuscht. Daher bin ich überzeugt, es ist besser, diese Angelegenheit in die eigenen Hände zu nehmen.«
»Das wirst du bleiben lassen, ohne weitere Diskussion.« Wulfhilds Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie keinen Widerspruch duldete.
Drogo hasste sie dafür. Aber wenn er es nüchtern betrachtete, war ihr Vorschlag tatsächlich der bessere. Und wieder würde sie bekommen, was sie wollte. Er brummte seinen Unmut unverständlich vor sich hin, dann sagte er etwas lauter: »Und wie soll ich die Nähe des Kaisers suchen? Ich kann unmöglich am Hofe erscheinen und mich als Vaters Ersatz anbieten.«
Wulfhild dachte nach. Es dauerte nicht lang und ihre Augen begannen zu funkeln. Ein verschlagenes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Das ist gar keine schlechte Idee. Ganz mein Sohn. Doch zuvor musst du dich um die Sache mit Rogar kümmern. Finde einen Mann, der dein Geheimnis wahren kann und die notwendige Schläue besitzt, um ihn ausfindig und unschädlich zu machen. Um die Nähe zum Kaiser kümmere ich mich. Geh jetzt, ich muss in Ruhe darüber nachdenken.«
Die Gräfin setzte sich wieder und griff nach den Registern. Drogo sah sie noch einmal an und verließ dann die Schlafkammer. Während er die Windungen der steinernen Treppe hinabstieg, suchte er in Gedanken nach einem geeigneten Mann für die bevorstehende Aufgabe, um Faoláns Schicksal zu besiegeln. Diese dreckige, kleine Ratte von einem Novizen. Nichts anderes war Faolán für ihn, den er niemals Rogar nennen würde.
Niemals!