Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder - Holger Weinbach - Страница 14

Оглавление

Anno 966 – Ankunft

Dem Zusammenbruch nahe, sehnte Faolán sich nach einer Pause unter dem Segeltuch. Er wusste nicht, wie lange er schon Wasser schöpfte. Seine Arme und Hände spürte er längst nicht mehr. Dass er überhaupt noch genügend Kraft hatte, den Eimer zu halten, wunderte ihn. Ein ums andere Mal zog er den halbvollen Kübel empor und goss ihn in die See. Erschöpft lehnte Faolán sich gegen die Bordwand. Nur so konnte er sich noch auf den Beinen halten.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Wie aus dem Schlaf gerissen, schreckte Faolán auf. Brandolf stand neben ihm und zeigte mit einem entkräfteten Lächeln zum Horizont. »Wir haben es überstanden!«

Faolán blinzelte in die Ferne. Tatsächlich! Die See war zwar noch aufgewühlt, die Wellen aber kaum noch höher als die Bordwand. Nur selten brach die Gischt herein und der Regen hatte sich zu einem Nieseln abgeschwächt. Worauf Brandolf zeigte, war ein heller Streifen Himmel zwischen dem westlichen Horizont und der Wolkendecke.

Jetzt lächelte auch Faolán müde. Das Ende der Sturmfront! »Überstanden!«

Bald würde das Segel wieder gesetzt werden. Da brach die Wolkendecke auf. Die Nachmittagssonne blitzte hindurch und überzog das Meer mit einem himmlischen Glanz aus purem Gold. Eine beruhigende Wärme legte sich um Faoláns Herz. Gott hatte sie nicht verlassen. Seine Gebete waren erhört worden. Er dankte dem Herrn.

Blinzelnd sah er sich um. Auf gleicher Höhe schnitt das zweite Langschiff durch die Wellen. Svea! War sie auf diesem Schiff? »Wisst Ihr, ob Svea …?« Ihm versagte die Stimme. Faolán wusste nicht, ob aus Furcht, die Wahrheit zu erfahren, oder aus Kraftlosigkeit.

Doch Brandolf verstand. »Ich weiß nicht, ob sie den Sturm überlebt hat.«

Faoláns Herz schlug ihm bis zum Halse. Je länger er Svea auf dem Langschiff nicht ausmachen konnte, umso nervöser wurde er. Plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Blitz. War das ein Rotschopf, den er da sah? Bitte, Herr, lass es Svea sein. Sie muss es einfach sein!

Als hätte der Rotschopf seine Gedanken gelesen, drehte er sich für einen kurzen Augenblick zu ihm, ehe er wieder verschwand. Es war Svea!

Mit einem beinahe irren Lachen sank Faolán auf die Planken. »Sie lebt!«, flüsterte er atemlos. »Brandolf, sie lebt!«

»Es sieht so aus, als hätten wir drei es vorerst überstanden«, antwortete der Edelherr, der neben Faolán in die Hocke ging. Sein Lächeln war ungebrochen und aus seiner Stimme hörte Faolán eine unbeschreibliche Erleichterung heraus. »Gott ist mit uns, mein Junge. Noch ist nicht alles verloren.«

Faolán nickte. In Stillem jubilierte er. »Ja, Gott ist mit uns. Dabei sind die Nordmänner sicherlich der Ansicht, ihr Menschenopfer habe die See beruhigt!«

»Heidenbräuche …!« Brandolf schnitt eine abfällige Grimasse. »Aber lass sie in diesem Glauben. Dann sind sie zufrieden und womöglich gnädiger gestimmt.«

Sollten die Heiden glauben, was sie wollten. Faolán war es egal. Es zählte allein, dass sie überlebt hatten.

»Weshalb hast du den Anschlag auf Bjoren verhindert?«, unterbrach Brandolf seine Gedanken.

Faoláns Lächeln schwand. »Ihr habt es bemerkt?« Wenn Brandolf es wusste, wer außer Bjoren wusste es sonst noch? »Ich habe einfach reagiert. Vielleicht … weil er Svea gut behandelt hat, an diesem Kiesstrand.« Dann ließ er die ganze Geschichte noch einmal vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Schließlich flüsterte er: »Ich habe die längste Zeit meines Lebens in Klöstern verbracht. Es gibt Regeln, die mir ins Blut übergegangen sind. Du sollst nicht töten!, lautet eine von ihnen«, zitierte Faolán das fünfte Gebot. »Ich habe beobachtet, wie Gorm den Attentäter angestiftet hat.«

Der Edelherr hob die Augenbrauen und pfiff durch die Zähne. »Bringe das Gebot Gorm bei … Davon abgesehen, täte es dir zur Abwechslung gut, nicht bei jeder Gelegenheit und allem, was du anstrebst, an Svea zu denken. Dein unüberlegtes, impulsives Handeln könnte uns in Schwierigkeiten bringen. Du erinnerst dich an Neustatt?«

Faolán hatte seine Verantwortung für ihre augenblickliche Lage nicht vergessen.

»Was diesen Gorm betrifft«, fuhr Brandolf fort, »solltest du dich besser von ihm fernhalten. Wenn er erfährt, dass du seinen Handlanger zu Fall gebracht hast …«

»Ich weiß«, unterbrach Faolán ihn. »Alles, was Ihr mir über Vorsicht und sich nicht auf eine Seite schlagen sagen wollt, habe ich mir selbst schon zum Vorwurf gemacht. Aber es ist nun einmal geschehen.«

Brandolf nickte. »Ich meinte es nicht als Vorwurf. Dein Eingreifen war sogar ehrenhaft. An deiner Stelle hätte ich genauso gehandelt. Ich mahne nur zur Vorsicht.«

Der Ruf eines Nordmanns beendete ihre Unterhaltung. Er winkte sie herbei. Faolán ließ den Kübel fallen und kroch unter das Segeltuch. Die Mischung aus Freude und Vorwürfen wichen einer bleiernen Müdigkeit, kaum saß er auf den Planken. Sie fegte die unzähligen Fragen aus seinem Kopf und schenkte ihm endlich den ersehnten Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte Faolán, als die Nordmänner das Segel über ihm zusammenrafften. Er rappelte sich auf und packte ohne Aufforderung mit an, den Mast aufzustellen. Kurz darauf fuhr auch das zweite Schiff wieder unter voller Takelage. Der Mast und die Rah ächzten auf, als das schwere, nasse Segel sich blähte. Der neue Tag war wolkig und ein kräftiger Wind herrschte. Die Schiffe bahnten sich wie unermüdliche Raubfische ihren Weg durch die Wellen.

Während die Seeleute die Sturmschäden am Rumpf behoben, wurden die Gefangenen in der Mitte des Schiffes sich selbst überlassen. Faolán beobachtete Bjoren, der eine merkwürdige Scheibe gegen den wolkenverhangenen Himmel hob und Befehle an den Steuermann erteilte. Die Stimmung an Bord hob sich merklich. Obwohl die Nordmänner den Verlust eines Schiffes zu beklagen hatten, lachten und scherzten sie jetzt. Sie hatten das Unwetter überlebt! Grund genug für gute Laune.

Die Langschiffe hielten sich mehrere Tage in Sichtweite der Küste. Zeitweise waren zu beiden Seiten Uferstreifen zu sehen, sodass Faolán glaubte, sie steuerten in eine breite Bucht hinein. Doch nach einem halben Tag befand sich auf Steuerbord wieder die offene See. Die Mittagssonne stand schon seit Tagen hinter den Schiffen und nach einigen weiteren Tagen befahl Bjoren, die Segel zu reffen. Die Fahrt verlangsamte sich.

Mit konzentrierten Mienen setzten die Nordmänner sich an die Riemen. In der Ferne war der Küstenstreifen im Morgendunst blass zu erkennen. Davor ragten unzählige kleine, dicht beieinanderliegende Felseninseln auf. Je näher die Schiffe dem Ufer kamen, umso mehr Felsen konnte Faolán ausmachen.

Bjoren begab sich wieder an den Bugsteven und erteilte Befehle. Die Mannschaft reagierte mit präzise abgestimmten Riemenschlägen. Sicher kommandierte Bjoren sein Drachenschiff zwischen den Klippen hindurch. Das zweite Schiff folgte ihm und nach unzähligen Wendungen gelangten beide in eine ausladende Förde. Die Segel wurden wieder gebrasst, und obwohl die Boote Fahrt aufnahmen, blieben die Männer an den Riemen sitzen, um den Kurs auf Bjorens Befehl hin schnell korrigieren zu können. Bjoren blieb am vorderen Steven und ließ weder das Wasser noch die beidseitigen Gestade aus den Augen.

Die Uferfelsen wuchsen haushoch aus dem Wasser empor. Dichter Wald aus Nadelhölzern und Laubbäumen säumte ihre oberen Ränder. Das Grün der aufsteigenden Hügel dahinter schien endlos zu sein, und nur gelegentlich waren zwischen den Bäumen vereinzelt Rauchsäulen zu sehen. Mehr Anzeichen auf Siedlungen fand Faolán in dieser Wildnis nicht.

Die Schiffe segelten daran vorüber, drangen immer tiefer ins Landesinnere vor. Die anfänglich lang gezogene Bucht verzweigte sich mehrere Male und entwickelte sich zu einem Labyrinth aus Wasserwegen, Seen und Inseln. Faolán verlor bald die Orientierung. Bjoren hingegen führte seine Schiffe sicher um jedes Eiland und jede Untiefe herum.

Die Strömung machte es erforderlich, dass die Riemen ständig im Einsatz waren. Auch die männlichen Gefangenen mussten jetzt rudern. Nach der Einfahrt in die Bucht waren sie wieder an Händen und Füßen gefesselt worden, wenn auch mit größerer Bewegungsfreiheit. Faolán beobachtete die Nordmänner beim Rudern. Es sah nicht sonderlich schwierig aus. Eine monotone Abfolge von Bewegungen, die sich endlos wiederholte. Er besaß kräftige Arme und war harte Arbeit gewöhnt. Als er aber auf eine Kiste gedrückt wurde und versuchte, die unverständlichen Anweisungen eines Nordmanns in Riemenschläge umzusetzen, erkannte er seinen Irrtum. Faoláns Riemenblatt stieß mit anderen zusammen, behinderte sie am rhythmischen Eintauchen und brachte sie aus dem Takt. Das handelte ihm mehrere Nackenschläge und Flüche seines Hintermanns ein, bis er endlich im Einklang mit ihm war.

Es dauerte nicht lang und auf Faoláns Handflächen bildeten sich die ersten Schwielen. Das Rudern wurde zunehmend zur Qual. Als er endlich abgelöst wurde, konnte er seine verkrampften Hände nur mit Mühe vom Riemen lösen. Seine Oberarme und sein Rücken schmerzten, als hätte er sich tagelang nicht ausruhen dürfen.

Es sollte keine einmalige Erfahrung bleiben. Bei seinem zweiten Einsatz platzten die Schwielen auf. Das Blut färbte das abgegriffene, glatte Riemenholz dunkel, machte es rutschig und das Rudern noch beschwerlicher.

Zur Tagesmitte hin wurden die Nordmänner überschwänglich. Faolán folgte den Blicken der Barbaren, die einen Punkt in der Ferne anvisierten. Einige der Seeleute stimmten ein Lied an, andere wiederum scherzten ausgelassen. Die Heimat der Nordmänner war nah, Faolán spürte es.

Schließlich drehten die beiden Schiffe bei und steuerten auf eine Insel zu, die inmitten eines großen Sees lag. Bjoren führte die Langschiffe dicht am westlichen Ufer des Eilands entlang, dessen Felsmassiv kirchturmhoch beinahe senkrecht im Wasser stand. Auf der obersten Felskante prangte eine Wehranlage aus Palisaden, mit einem Wachturm an exponiertester Lage.

Von diesem Turm aus mussten die Schiffe längst gesichtet worden sein, überlegte Faolán. Jeder, der sich dieser Insel bei klarer Sicht näherte, wurde frühzeitig entdeckt. Mit einem lang gezogenen Hornsignal, das weit über das Gewässer tönte, wurden die Heimkehrer begrüßt. Die steile Felsküste fiel abrupt ab und ging in flaches Ufer über. Vor Faoláns Augen öffnete sich eine Bucht. Zunächst sah er nur ein paar Häuser. Wenige Riemenschläge später kamen eine weitere Wehranlage, Anlegestege und Schiffe in Sicht. Die Siedlung entrollte sich vor Faolán wie ein großes Stück Pergament und gedieh innerhalb weniger Herzschläge zu einer Stadt mit einer befestigten Hafenanlage, größer als Neustatt.

Landseitig wurde die Stadt von einer halbrund angelegten Wehranlage aus Palisaden umgeben, die in regelmäßigen Abständen Wehrtürme besaß. Sie endete jeweils am Ufer und ging in das Hafenbecken über. Dort lagen unzählige Schiffe vor Anker. Allein die Zahl der Masten brachte Faolán ins Staunen, vom Treiben entlang der Stege und Kaimauer ganz abgesehen.

Bjoren befahl, die Segel einzuholen. Die erfahrensten Seeleute setzten sich jetzt an die Riemen. Ihr Anführer starrte angespannt auf das Wasser. Auf sein Kommando hin schwenkten die Schiffe rechtwinklig ein und steuerten hintereinander geradewegs auf die Mitte des Hafens zu. Faolán verstand nicht, weshalb dieses merkwürdige Manöver notwendig war. Die Langschiffe hätten aus seiner Sicht auch direkt an der Küste entlang in den Hafen einlaufen können.

Auf halbem Wege in den Hafen aber sah Faolán dicht unter der Wasseroberfläche dunkle Schatten. Als die Schiffe daran vorbeifuhren, entpuppten sie sich als baumdicke Pfähle, die dicht aneinandergereiht in den Seegrund gerammt worden waren. Ein auf den ersten Blick unsichtbarer Wall. Doch sogar Faolán, der keine Erfahrung in Kriegskunde besaß, erkannte seine rumpfbrechende Eigenschaft. Dies war ein effektiver Wall gegen Angreifer, die einen Überfall von der Wasserseite aus durchführen wollten.

Zielsicher manövrierten die Schiffe durch die einzige Lücke zwischen den Unterwasserpfählen hindurch. Sie waren zuhause. Faolán hingegen war ferner der Heimat denn je. Und mit ihm Svea und der Edelherr Brandolf.

Ein Nordmann ging durch die Reihe der Gefangenen und straffte ihre Fesseln an Händen und Füßen. Obwohl Faolán wusste, dass womöglich schon auf dem Steg über sein Schicksal entschieden wurde, konnte er sich der Faszination des Hafens nicht entziehen. Er kam sich wie bei seinem ersten Besuch in Neustatt vor. Seine Neugier gewann die Oberhand und Faolán sah sich um.

Schiffe unterschiedlichster Bauarten lagen im Hafen. Ihre Masten ragten in den Himmel empor, und aus Faoláns Perspektive sah es so aus, als wären die Wolken ihre Segel. Unweit der Kaimauer drängten sich die ersten Häuser. Soweit Faolán sehen konnte, standen sie in mehreren Reihen fast ausnahmslos mit dem Giebel zum Hafen hin ausgerichtet. Aus dreieckigen Öffnungen in der Außenwand direkt unterhalb der Firste stiegen feine Rauchsäulen empor und verloren sich in der klaren Luft. Wo Faolán hinsah, waren Menschen unterwegs. Auf Straßen, Stegen und Schiffen. Und sie sahen ebenso vielfältig und bunt aus, wie die Schiffe und Boote im Hafen und die Marktstände entlang der Kaimauer. Dies war eine pulsierende Handelsstadt, stellte Faolán überrascht fest. Er hatte eine Festung der Barbaren erwartet, ein einfaches Dorf oder eine befestigte Siedlung vielleicht. Aber nicht im Traum hatte er geglaubt, dass die Nordmänner in einer derartigen Stadt regen Handel betrieben!

Die beiden Schiffe steuerten auf einen freien Anlegesteg zu. Frauen, Kinder und Männer, Alt und Jung standen dort, mit erwartungsvollen Gesichtern. Viele waren farbenfroh gekleidet, wie Faolán es nur von Festtagen aus Neustatt kannte. Prächtige Banner und Tücher wehten zur Begrüßung in der Brise.

Mit beeindruckender Präzision legten die Schiffe zu beiden Seiten des Steges an. Burschen fingen die ausgeworfenen Taue auf und schlangen sie um die nächsten Pfähle. Gemeinsam zogen sie die Schiffe heran, bis nur noch ein Spalt die Bordwand vom Steg trennte. Jubel brach unter den Stadtbewohnern aus, und die Seeleute winkten und riefen ihnen zu. Faolán spürte die Welle der Freude über das Schiff hinwegrollen. Familien fanden sich, die lange getrennt waren. Ehegatten und Väter kehrten zurück, sehnsüchtig erwartet.

Plötzlich fühlte Faolán sich allein. Obwohl Brandolf an seiner Seite war, fühlte er sich hilflos und verlassen. Er hatte nie eine Familie gehabt. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. In Faoláns Augen verloren die Barbaren in diesem Moment einen Teil ihrer Unmenschlichkeit.

Ein Ruck an den Handgelenken ließ ihn aufstehen. Er und die anderen Gefangenen wurden an ein langes Seil gebunden. Aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Faolán wunderte es nicht. Sie waren ein Teil der Trophäen dieses Raubzuges und sollten entsprechend präsentiert werden.

Während Faolán auf die Zurschaustellung wartete, beobachtete er die Seeleute. Plötzlich wurde es still, zunächst auf dem Steg und dann auch auf den Langschiffen. Faolán reckte den Hals, um zu sehen, was vor sich ging. Eine Menschengasse bildete sich auf dem Steg und vor Bjorens Drachenschiff machten die Leute Platz.

Ein edel gekleideter Mann, flankiert von mehreren Bewaffneten, schritt die Gasse entlang. Er grüßte die Leute mit wohlwollendem Nicken und einem breiten Lächeln. Schließlich blieb er vor Bjorens Schiff stehen. Er sah zwar deutlich jünger aus als Bjoren, etwa Mitte Zwanzig, schätzte Faolán, doch die beiden ähnelten sich so sehr, dass sie Brüder sein könnten. Aber der Jüngere genoss ohne Zweifel höchstes Ansehen unter diesem Nordvolk. Dies war sicherlich ihr Fürst.

Mit zufriedener Miene musterte er die Seeleute auf beiden Schiffen. Dann erst ergriff er das Wort. Die Anwesenden hingen an seinen Lippen. Faolán bemerkte, dass sogar die Gefangenen ihm zuhörten, obwohl sie nichts verstanden. Der Tonfall des Fürsten klang wohlwollend, aber auch traurig. Als Bjoren dem Edlen antwortete, verflog die überschwängliche Freude. Einige Frauen und Kinder brachen in Tränen aus. Faolán konnte sich denken, dass es um das gesunkene Schiff ging.

Die Ansprache dauerte nicht lange. Auf einen Wink des Fürsten sprang Bjoren auf den Steg.

Der Fürst zog Bjoren vertraulich zu sich. Nach einem kurzen Wortwechsel nickte der Fürst zufrieden und verließ den Steg. Es schien das Signal für die Seeleute zu sein, von Bord gehen zu dürfen. Nichts hielt sie jetzt noch zurück. Sie sprangen über die Reling und suchten ihre Angehörigen. Lachend und rufend umarmten sie ihre Liebsten, küssten sie und nahmen ihre Kinder hoch. Freude und Glück überwogen, doch Faolán entgingen die Trauernden nicht. Sie fanden Trost bei anderen. Einige Frauen sahen mit Tränen in den Augen auf den See hinaus, als hofften sie, die Worte des Kapitäns wären ein übler Scherz gewesen und das dritte Schiff würde jeden Augenblick hinter dem Felsmassiv auftauchen.

Es überraschte Faolán, dass diese Barbaren in einer Gemeinschaft lebten, die ihre Gefühle offen zeigte. Im Kloster wäre das niemals möglich gewesen. Selbst als Knabe war Faolán immer angehalten worden, Emotionen zu unterdrücken, ganz gleich ob Schmerz, Leid oder Freude.

Faolán fragte sich, ob dieses Volk, das den Schmerz des Verlustes von Angehörigen und Freunden durchlebte, auch Barmherzigkeit kannte. Wahrscheinlich nicht, sonst würden sie keine Menschen rauben, um sie als Sklaven zu verkaufen oder zu halten. Faolán rief sich zur Besinnung. Dies waren keine Christen, sondern Heiden. Seine aufkeimende Sympathie für sie erlosch wieder.

Ernüchtert ließ Faoláns seinen Blick über den Steg schweifen, bis er auf Gorm fiel. Der schmächtige Nordmann wurde von einem großen Aufgebot in Empfang genommen. Wahrscheinlich seine Sippe, überlegte Faolán. Eine schmale Frau mittleren Alters, mit grauem, langem Haar, die ihn um einen halben Kopf überragte, trat an ihn heran. Sie reichte ihm einen Becher, den Gorm in einem Zug leerte. Erst dann sprachen sie miteinander, wobei Gorm grimmig zu Bjoren hinübersah. Als spürte dieser den Blick, sah er auf und erwiderte ihn kühl. Faolán fuhr ein eisiger Schauer über den Rücken, als er in Gorms Augen Rivalität bis aufs Blut erkannte.

In diesem Moment stieß Brandolf ihn leicht an und lenkte ihn von Gorm ab. »Bjoren scheint nicht nur auf dem Schiff der Befehlshaber zu sein. Sieht so aus, als hätte er auch in dieser Stadt etwas zu sagen. Er steht unverkennbar in der Gunst dieses Fürsten. Wenn jemand etwas an unserer Situation ändern kann, dann er. Und ganz nebenbei bemerkt: Du hast sein Leben gerettet. Vielleicht kann uns das von Nutzen sein.«

»Wir sprechen noch nicht einmal seine Sprache …«, raunte Faolán und massierte sich seine blutverkrusteten, schmerzenden Hände. »Was ist, wenn mein Eingreifen seinen Stolz verle…«

Ein Ruck ging durch das Seil, an dem er angebunden war. Auf Bjorens Befehl hin, gingen die Gefesselten eine Planke hinunter und stellten sich in einer Reihe vor dem Schiff auf. Die Gefangenen des zweiten Langschiffes standen bereits auf dem Steg. Faolán suchte die Reihe ab – aber Svea war nicht unter ihnen. Er hatte sie nach dem Sturm doch gesehen …! Wo war sie?

In diesem Augenblick tauchte sie hinter dem Steven auf und ging von Bord. Im Gegensatz zu Faolán war sie nicht gefesselt, weder an Händen, noch an Füßen. Faolán traute seinen Augen nicht und sah noch einmal hin. Svea ging tatsächlich wie eine Freie die Planke hinab. Innerlich jubilierte Faolán. Es war ein Lichtblick, wenn auch nicht für ihn oder Brandolf.

Hinter Svea stützten zwei Seeleute den jungen Nordmann mit der schweren Armwunde, die Svea behandelt hatte. Er sah zwar blass aus und war schwach auf den Beinen, dem Tode aber deutlich ferner als noch am Abend des Überfalls. Sein schmales Lächeln war deutlich zu sehen und im Vorbeigehen sagte er etwas zu Svea, das sie strahlend und mit einem Nicken erwiderte.

Obwohl Svea keine Fesseln trug, stellte sie sich an das Ende der Reihe aus Gefangenen. Faolán begriff nicht, was das zu bedeuten hatte. Am liebsten wäre er zu ihr gelaufen, hätte mit ihr gesprochen, sie umarmt und geküsst. So nahe war er ihr seit dem Abend am Kiesstrand nicht mehr gewesen – und doch war sie unerreichbar.

Brandolf stieß Faolán mit dem Ellbogen an. »Verhalte dich unauffällig. Jede Aufmerksamkeit, die du auf uns ziehst, könnte fatale Auswirkungen haben! Auch für Svea.«

»Keine Sorge, Herr«, raunte Faolán ihm zu. »Mit diesen Fesseln kann ich mich ohnehin kaum rühren.«

»Ein loses Mundwerk kann mehr Schaden anrichten als eine närrische Tat«, zischte Brandolf. »Schweig jetzt besser und halte die Augen offen! Was auch immer geschieht, wir dürfen uns nicht verlieren.«

Faolán schluckte die Frage herunter, wie er das anstellen sollte. Als könnte er darüber entscheiden! Stattdessen sah er Svea an, die Faolán mit ihren langen, roten Haaren und ihrer selbstbewussten Haltung in ihren Bann zog. Für einen Herzschlag erwiderte sie seinen Blick. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, ehe sie ihren Kopf senkte. Faoláns Herz ging über, Svea zu sehen und sie wohlauf zu wissen. Zugleich aber befürchtete er, in den nächsten Minuten wieder von ihr getrennt zu werden.

Die Umtriebigkeit um sie herum legte sich. Nur wenige Seeleute hatten den breiten Steg mit ihren Angehörigen verlassen. Die meisten blieben bei den Schiffen. Sie berichteten von ihren Abenteuern, zeigten die Schäden des überstandenen Sturmes und ließen sich erzählen, was in den vergangenen Monaten in ihrer Heimat vorgefallen war. Gorm hingegen war mit seiner Sippe abgezogen.

Kaum hatte Bjoren damit begonnen, die Beute aufzuteilen, bildete sich erneut eine Gasse in der Menschenmenge. Diesmal sah Faolán zwei Personen, die auf den ersten Blick unauffällig wirkten: Ein Greis, gestützt auf einen verzierten Stab, und eine wesentlich jüngere Frau, die ihn am Arm führte. Der Alte trug ein helles, wollenes Gewand, das beinahe bis zum Boden reichte und an einigen Stellen geflickt war. Sein kurz geschorenes Haar war weiß, ebenso der gestutzte Bart. Als Faolán in das Gesicht des Mannes sah, stockte ihm der Atem. Der Alte besaß Augen, wie Faolán sie noch nie gesehen hatte: Sie waren nahezu weiß. Einzig ein leichter, grauer Schatten deutete an, wo Pupille und Iris hätten sein sollen.

Obwohl Faolán bei diesem Anblick ein Schauer überzog, besaßen diese Augen eine Anziehungskraft, die ihn nervös machte. Die Nordleute grüßten den Alten respektvoll. Merkwürdig, dachte Faolán, in seiner Heimat wäre jeder Blinde dazu verdammt, sich seinen Lebensunterhalt zu erbetteln. Dieser Mann barg aber etwas Besonderes in sich, das ihm wie eine unsichtbare Aura vorauseilte. Das spürte sogar Faolán, obwohl er nicht Sveas sensible Fähigkeiten besaß.

Die Frau an seiner Seite war zierlich und hatte glänzend schwarzes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Die Haarfarbe stach unter den Angehörigen des Nordvolkes exotisch hervor, denn es gab keinen zweiten Schopf wie diesen unter ihnen, soweit Faolán sehen konnte. Ihre Gesichtszüge wirkten ebenfalls fremd, verglichen mit den umstehenden Frauen.

Die Sklavin des Blinden, ging es Faolán durch den Kopf. Doch dafür war ihre Haltung zu selbstbewusst und ihre Augen funkelten zu freudig. Ihr farbenprächtiges Kleid war an den Säumen mit kunstvollen Webereien verziert und wurde von einem Gürtel mit einer handtellergroßen Schnalle zusammengefasst. Daran hing, für alle gut erkennbar, ein großer Schlüssel. Ein Symbol ihrer Stellung, überlegte Faolán. Je näher sie Bjoren kam, umso breiter wurde ihr Lächeln.

Der Greis blieb vor Bjoren stehen und sprach mit leiser Stimme zu ihm. Faoláns Aufmerksamkeit wanderte zum mannshohen Stab des Alten, der offensichtlich mehr als eine Stütze war. Schnitzereien und aufgemalte Symbole zierten das Holz über die gesamte Länge. Vom oberen, verzweigten Ende hingen Ornamente aus Metall, Knochen und Holz an Bändern und Schnüren herab. Bei jeder Bewegung schlugen sie mit hellen Klängen aneinander, als spielten sie eine bizarre Melodie. Federn und Kleintierschädel entlang des Schaftes verliehen dem Stab ein groteskes Aussehen.

Die Worte waren ausgetauscht und Bjoren senkte sein Haupt. Der Alte berührte es sanft mit der flachen Hand, als erteilte dieser Heide einen christlichen Segen. Danach wandte der Anführer sich der wartenden Frau zu.

So berechnend und nüchtern Bjoren bisher auf Faolán gewirkt hatte, so überschwänglich begrüßte er jetzt die Schwarzhaarige. Er hob sie in die Luft und drehte sie im Kreis. Als Antwort küsste sie ihn stürmisch, sodass der Nordmann einen Schritt nach hinten taumelte. Sie sah ihn an und begutachtete mit finsterer Miene die blutverkrustete Schnittwunde auf seiner Wange. Bjoren ging nicht darauf ein, setzte sie mit einem Kuss ab und holte den Blinden ein, der gemächlich über den Steg ging.

Wieder sprachen sie gedämpft miteinander. Bjorens Gesichtsausdruck wurde ernst. Schließlich nickte er und führte den Alten vor die Reihen der Gefangenen. Mit einer großzügigen Geste präsentierte er seine menschliche Beute.

Auf seinen Stab gestützt ging der Greis die Reihen ab. Trotz seiner Blindheit hielt er bei jedem Gefangenen an und richtete seine weißen Augen auf ihn oder sie. Faolán schien es, als starrte er sie förmlich an. Die Gefesselten wagten meist nicht, diesen gespenstischen Blick zu erwidern und sahen auf die Dielen des Steges.

Der Stock hämmerte bei jedem Schritt des Greises. Er wurde lauter, näherte sich Faolán. Schließlich pochte er vor Faoláns Füßen und hielt dort inne. Auch er wollte zu Boden sehen, diesem angsteinflößenden Blick ausweichen. Doch jetzt, da der Alte vor ihm stand, konnte er sich nicht von den trüben Augen abwenden. Faolán fuhr es durch Mark und Knochen. Er hatte das Gefühl, als könnte der Blinde ihn tatsächlich sehen. Zwar nicht mit diesen Augen, dafür aber direkt in seine Seele. Faolán betete, der Greis möge rasch vorübergehen. Stattdessen packte die ledrige Hand des Alten Faoláns Kinn und drehte den Kopf ruckartig zur Seite. Finger mit spitzen Nägeln tasteten sich voran, fanden die Narbe der alten Bisswunde und fuhren zitternd ihre Konturen ab. Wie konnte dieser Alte davon wissen? Hatte Bjoren es ihm verraten?

Widerwillig ließ Faolán die Berührung über sich ergehen. Ebenso abrupt, wie er zugegriffen hatte, ließ der Blinde von ihm ab. Er murmelte Bjoren etwas zu, woraufhin der Anführer nur verhalten brummte. Der Greis zeigte mit seinem dürren Finger auf Faolán und stupste Bjoren mit dem Stock an, ehe er weiterging. Faolán zitterte am ganzen Leib, als wäre er soeben aus einem seltsamen Bann entlassen worden. Was hatte das zu bedeuten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Was hatte der Alte über ihn gesagt?

Faolán schloss die Augen, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Als er sie wieder öffnete, standen die beiden Nordmänner vor Svea. Faoláns Herz hämmerte wild in seiner Brust. Sein Magen verknotete sich.

Geht weiter … geht weiter … bitte, Herr, lass sie weitergehen.

Doch der Alte blieb länger vor Svea stehen als vor allen anderen. Er hielt seinen Kopf schräg, als lauschte er einer Stimme, die nur er hören konnte. Schließlich reichte er seinen Stab an Bjoren und begann, vor sich hinzumurmeln. Mit geschlossenen Augen legte er eine knochige Hand auf Sveas Stirn. Ihre Lider schlossen sich. Die zweite knorrige Hand legte sich auf Sveas linke Brust. Sie wich nicht zurück, zuckte nicht einmal zusammen. Ihr Mund öffnete sich, aber kein Laut kam heraus.

Faolán spannte die Handfesseln an. Mit jedem Herzschlag wurde dieser Anblick unerträglicher. Unfähig, seine Augen abzuwenden, sah Faolán zu, wie der Alte Sveas Brust befingerte. Niemand außer Faolán hatte Svea dort je berührt … wie konnte sie es von diesem Greis ertragen? Oder war es etwas ganz anderes, was dort vor sich ging? Etwas, das Faolán nicht greifen konnte? Und dennoch …

Es hat nichts zu bedeuten … nicht das Geringste … und ihr wird nichts geschehen! Das ist alles, was im Augenblick zählt … Sie lebt. Sie lebt!

Unweigerlich schossen Fantasien durch Faoláns Kopf, die er nicht sehen wollte. Er konnte sie nicht verhindern. Bilder, was der Alte mit Svea anstellen mochte. Dinge, von denen Faolán bisher nur geträumt hatte!

Zorn wallte in ihm auf. Zorn auf diesen blinden, alten Mann. Seine Fäuste ballten sich. Brandolfs besänftigendes Flüstern war nur ein unwichtiges Summen in seinen Ohren, übertönt vom Dröhnen seines Herzschlags.

Nach schier endloser Zeit nahm der Blinde seine Hände fort, öffnete die trüben Augen und sprach mit Bjoren. Svea blieb wie benommen stehen, wankte leicht vor und zurück. Bjoren nahm ihre Hand und legte sie auf die des Blinden. Für einen Augenblick standen sie da wie das groteske Abbild eines frisch vermählten Paares. Schließlich setzten sie sich in Bewegung und verließen den Steg. Zu Faoláns Entsetzen zögerte Svea nicht einmal.

Faolán war fassungslos. Was hatte der Alte mit ihr getrieben? Welchen Zauber hatte er auf sie gelegt, dass sie ohne einen Blick auf Faolán so einfach mit ihm ging?

Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte sich geschworen, in Sveas Nähe zu bleiben. Ausgerechnet jetzt, wo sie in der Fremde zusammenbleiben sollten, wurde sie ihm entrissen. Das durfte nicht geschehen. Er konnte es nicht zulassen, musste irgendetwas unternehmen. Alles um ihn herum verlor an Bedeutung. Seine Fesseln hatte er vergessen, ebenso wie seine Mitgefangenen und das gemeinsame Tau, das sie aneinanderband.

Geh ihnen nach war alles, was sein Verstand ihm zuschrie. Geh ihnen nach und kümmere dich um Svea! Sonst verlierst du sie!

Und dann durchdrang Brandolfs Stimme das Chaos in Faoláns Kopf: »Bleib standhaft, mein Junge. Deine Zeit wird kommen. Eure Zeit. Doch nicht jetzt!«

Zornig funkelte Faolán ihn an. »Und wann wird diese Zeit wohl anbrechen, was meint Ihr? Morgen? In einem Monat? In einem Dutzend Jahre? Ich bin es leid zu warten!«

»Komm zur Vernunft«, zischte Brandolf mit finsterer Miene, beherrschte sich aber und sprach weiter geduldig auf Faolán ein: »Erinnere dich an Neustatt! Ungeduld wird uns jetzt nicht weiterhelfen. Wir wissen, wem Svea anvertraut wurde. Es ist wahrscheinlich, dass sie in dieser Stadt bleibt. Benutze endlich deinen Verstand und lass dich jetzt nicht von deinen Gefühlen fehlleiten!«

Vernunft … Verstand … Geduld … Wie Faolán diese ewigen Parolen satt hatte! Und doch wusste er, dass der Edelherr recht hatte. Zähneknirschend versuchte er, seine Wut im Zaum zu halten, während er sich selbst marterte und Svea nachsah, bis sie und der Alte von der Menschenmenge verschluckt wurden. Ratlosigkeit und Ohnmacht breiteten sich in ihm aus. Wie sollte er je Svea, Brandolf und sich aus der Gefangenschaft befreien? Selbst ein erfahrener Ritter wie Brandolf musste gefesselt und machtlos zusehen, was vor seinen Augen geschah.

Um Faolán herum luden die Seeleute ihre Habseligkeiten aus den Schiffen. Die Sklaven wurden zur Seite geschoben. Brandolf raunte seinem Schützling noch etwas zu, doch seine Worte gingen in schallendem Gelächter unter. Faolán verlor den Überblick. Er versuchte, noch einen letzten Blick auf Svea zu erhaschen.

Plötzlich stand Bjoren vor ihm und packte das Tau mit beiden Händen. Mit kühlen Augen musterte er Faolán. Dann zog Bjoren seinen Dolch und richtete die Klinge auf ihn. Was hatte der Nordmann vor? Gedanken überschlugen sich in Faoláns Kopf. Jede falsche Bewegung konnte das Ende für ihn bedeuten. Aber vielleicht war genau das seine Bestimmung!

Statt Demut oder Furcht, wallte Zorn in ihm auf und gewann wieder Überhand. Sollte es das jetzt tatsächlich gewesen sein? Svea war von ihm genommen worden, als Sklavin eines alten Blinden! Und auf ihn war ein Dolch gerichtet. Was hatte er in Gottes Augen verbrochen, dass er dieses Schicksal erleiden musste? Aber wenn das Gottes Wille war, so war er bereit, sein Leben zu beenden. Nur ein Stoß. Mehr war nicht vonnöten. Es würde schnell gehen. Besser so, als ein Leben lang in Sklaverei dahinzusiechen und irgendwann wie ein wertloses Stück Vieh zu verrecken.

Faolán hatte nichts mehr zu verlieren! Mit Svea hatte er bereits alles verloren, was ihm jemals teuer war! Was sein Leben lebenswert machte. Dieser Dolch war nicht mehr als ein Sinnbild dafür, dass alles auf des Messers Schneide stand. Und es lag nicht mehr in Faoláns Hand, wie es ausging. Mit diesen Gedanken, dieser Gewissheit, legte sich eine seelentiefe Ruhe über ihn. Sie überdeckte seinen Zorn und besänftigte seinen Herzschlag. Er war bereit, und legte sein Schicksal in Gottes Hände.

Er schloss die Augen, holte noch einmal tief Luft und betete in Gedanken.

Möge der Allmächtige sich meiner annehmen und meiner Seele gnädig sein.

Doch es geschah nichts.

Faolán öffnete die Augen und erwiderte den Blick des Nordmanns mit dieser übermächtigen Ruhe. »Ich fürchte den Tod nicht! Nicht mehr. Ich bin bereit, meinem Schöpfer und Herrn gegenüberzutreten.«

Bjorens Augen verengten sich. Die Schneide des Dolches legte sich an Faoláns Kehle.

»Tu es«, flüsterte Faolán. »Nur ein Schnitt und es ist vorbei – warum zögerst du? Ich habe nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt!«

»Bist du des Irrsinns?«, rasselte Brandolfs Stimme neben ihm. »Nichts ist verloren! Wir haben alle Möglichkeiten. Du musst sie nur erkennen. Dein Verstand belügt dich! Wach auf, verdammt nochmal!«

»Keineswegs. Mein Verstand war nie klarer«, antwortete Faolán, und die Gefasstheit in seiner Stimme hätte ihn selbst zu jedem anderen Zeitpunkt erstaunt.

Der Druck des Dolches nahm zu. Bjorens messerscharfen Augen versuchten, Faoláns Schädel zu durchbohren. Wie viele Herzschläge blieben ihm noch …? Es war ohne Bedeutung. Er zählte sie nicht. Ohne Svea schlug sein Herz hohl. Ohne Sinn!

Plötzlich senkte die Klinge sich. Bjoren legte sie am Tau an und durchtrennte Faoláns Handfesseln mit einem kräftigen Ruck.

Faolán starrte auf seine schwieligen, blutverkrusteten Hände. Er war kein Bestandteil der Sklavenkette mehr. Bjoren durchtrennte auch Faoláns Fußfesseln, dann steckte er den Dolch ein.

Der gefesselte Bursche neben Faolán murmelte kopfschüttelnd: »Frei …! Er ist tatsächlich frei …!«

Frei, hallte das Echo in Faoláns Schädel. Seine Gedanken überschlugen sich. Svea war auch nicht gefesselt gewesen. Am Ende aber war auch sie nicht frei, sondern war dem Alten übergeben worden.

Fragend sah Faolán Bjoren an. »Weshalb …?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Getauscht Leben«, erwiderte der Nordmann gebrochen in Faoláns Sprache.

Vor Überraschung wäre Faolán beinahe einen Schritt nach hinten getreten. Er suchte nach Worten, fand aber keine.

Der Nordmann zuckte mit den Schultern, rief die Schwarzhaarige zu sich und sprach eindringlich auf sie ein. Sie nickte und überlegte kurz, dann sagte sie zu Faolán: »Du hast dem Jarl von Birka das Leben … gerettet.«

Faolán schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, doch die Frau ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Er weiß, was du getan hast. Nach Gesetz unseres Volkes … er ist in deiner … Schuld? Schuld, die er jetzt begleicht. Er schenkt dir Frei- Freiheit. Gibt dir … früheres Leben zurück.«

»Er …«, setzte Faolán an, stockte dann aber. Sein früheres Leben? Meinte sie das ernsthaft? Was wusste dieser Jarl schon von seinem früheren Leben? Doch die Frage, die er stellte, war eine ganz andere: »Er hat es gesehen?«

»Bjoren hat waches Auge und Götter gaben ihm Licht im Verstand. Deshalb hat der … König ihm diese Stadt gegeben.« Die Schwarzhaarige machte eine allumfassende Geste.

Bjoren raunte ihr etwas zu und sie übersetzte weiter: »Bjoren Langarm macht dir noch ein … Gabe.«

Faolán zog die Stirn in Falten. »Eine Gabe?«

»Nicht Gabe?«, fragte die Dunkelhaarige und sah zwischen den Schiffsmasten in die Ferne, auf der Suche nach einem passenderen Wort. »Wu… Wunsch?«

»Wunsch? Er gewährt mir einen Wunsch?«, vergewisserte Faolán sich. Als die Frau nickte, machte sein Herz einen Sprung. Er konnte nicht glauben, was gerade geschah. Eben hatte er noch alles verloren geglaubt, und jetzt eröffnete sich ihm eine Gelegenheit, die er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Er sah in die Richtung, in der Svea verschwunden war. Er würde sie zurückholen können. Sie könnte bei ihm bleiben und alles würde sich zum Guten wenden. Gütiger Gott, ich danke dir für deine Barmherzigkeit!

Die Frau folgte seinem Blick. Milde lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Dein Wunsch … überlege ihn gut. Unmögliches kann der Jarl nicht machen. Dein Herz zufrieden stellen, das ist zu groß. Sogar für ihn.«

»Aber er hat sie dem Blinden geben können«, widersprach Faolán. Zur Hälfte fühlte er sich ertappt, zur anderen Hälfte war er nur enttäuscht. »Kann er sie ihm nicht einfach wieder nehmen? Wenn er der – wie nanntest du ihn? Jarl? Wenn der König ihm sogar eine ganze Stadt gibt, weshalb kann Bjoren Svea nicht freigeben?«

Faolán wusste nicht, ob er mit seiner Forderung zu weit ging, aber er musste es versuchen. Die Brauen der Frau zogen sich streng zusammen, doch in ihren Augen las er Verständnis. Ihre Worte aber waren ernüchternd. »Du kennst das Nordvolk nicht. Stadt ist nicht geschenkt, nur übergeben für leiten. Ein Geschenk kann nicht … rückgenommen werden. Sie zurückholen, bringt große Schande über ihn und sein Haus.«

Ihr Tonfall ließ keinen Raum für Spekulation. Es war ein Gebot des Nordens und wie sie es ausdrückte, war es klar, dass nicht einmal ein Führer des Nordens dieses Gebot beugen würde. Faolán ließ die Schultern hängen.

»Jemand anderem aber kannst du Freiheit schenken«, riet ihm die Schwarzhaarige. »Oder willst du Freund verlassen, weil du blind der Liebe nachläufst?«

Faolán zuckte zusammen.

Blind. Wie recht sie hatte. Nicht der Alte, sondern er war mit Blindheit geschlagen. Er war ein Narr! Die Sehnsucht seines Herzens hatte ihn vergessen lassen, dass Brandolf neben ihm stand. Betreten räusperte er sich und sah den Edelherrn an, als er seinen Wunsch aussprach. »So bitte ich den Jarl um die Freiheit meines Freundes, den Ritter Brandolf.«

Die Schwarzhaarige übersetzte, woraufhin Bjoren nickte und die Fesseln des Edelherrn durchtrennte. Brandolf rieb sich die Handgelenke. Faoláns Augenmerk blieb auf dem Ritter haften und seine eigenen Worte hallten in seinem Kopf wider. Nur am Rande nahm er Brandolfs gemurmelten Dank zur Kenntnis.

… die Freiheit meines Freundes …

Er hatte den Edelherrn als Freund bezeichnet! Obwohl der Krieger ein Adliger war und Faolán lange Zeit nur dessen Knecht und eigentlich ein unbedeutender Novize, hatte er sich diese Anmaßung herausgenommen. Andererseits fühlte es sich nicht wie eine Unverfrorenheit an. Seit ihrer Gefangenschaft hatten sie sich Dinge anvertraut, die sie auf der Burg niemals ausgetauscht hätten. Und dabei hatte Faolán sich gefühlt, als spräche er mit seinen Freunden Konrad und Ering. Es wäre absurd, den Edelherrn nur wegen seines Standes nicht als Freund bezeichnen zu wollen.

Bjorens Hand auf seinem Arm riss Faolán aus den Gedanken. Der Nordmann sprach und die zierliche Frau übersetzte. »Ihr seid jetzt frei … und willkommen als Gäste im Haus des Jarls. Jetzt dürft ihr mitkommen.«

Nach allem, was heute geschehen war, fühlte Faolán sich wie betäubt. Es war, als hätte ihn die Sturmfahrt aus Gefühlen mehr erschöpft, als die gesamte Überfahrt auf dem Schiff. Er verstand nur das Wort Mitkommen und nickte. Die Frau lächelte, ließ Faolán und Brandolf stehen und ging mit Bjoren zu einer Gruppe Männer nahe der Kaimauer.

Faolán und Brandolf sahen sich sprachlos an, beide perplex von der Schicksalswendung. Der Edelherr fand als Erster wieder Worte. »Danke. Ich muss schon zugeben: Diesmal hat dein Wagemut sich ausgezahlt. Auch wenn es ein verrückter Tanz auf Messers Schneide war, er hat sich gelohnt. Bis zum Schluss glaubte ich, dein letztes Stündlein hätte geschlagen. Und doch hätte mich dein Handeln nicht überraschen sollen. Schließlich entspricht es dem, was ich von dir erwartet habe.«

Faolán wusste nicht, ob der Edelherr scherzte. »Wie meint Ihr das?«

»In dir steckt mehr, als du denkst!«, antwortete Brandolf ernst.

Bevor Faolán fragen konnte, was der Edelherr andeutete, rief ein gellender Pfiff Bjorens Geleit zusammen.

»Wir sollten uns besser beeilen, bevor wir allein auf dem Steg zurückbleiben«, meinte Brandolf und zeigte zu den Männern des Jarls. Er ließ Faolán den Vortritt und folgte ihm. Ein merkwürdiges Verhalten, für Faoláns Empfinden. Normalerweise folgte der Knecht seinem Herrn, nicht umgekehrt. Vielleicht zeigte Brandolf auf diese Weise seinen Dank, indem er Faolán ebenfalls als Freund und Gleichgestellten behandelte.

Doch bevor Faolán den Männern als Gast des Jarls folgte, sah er sich zögerlich um. Die übrigen Gefangenen blieben aufgereiht auf dem Deck stehen. Einige apathisch, ihrem Schicksal ergeben. Andere wiederum schienen ihre letzten Kraftreserven aufzubringen, um sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Nur wenige starrten Faolán an, als wollten sie es nicht glauben, dass er frei war und sie gefangen bleiben sollten.

Faolán zögerte. Könnte er nicht auch die übrigen Gefangenen befreien? Hätte er nicht besser diesen Wunsch geäußert, statt nur an sich und sein nächstes Umfeld zu denken?

Faolán mied die flehenden Blicke der Verdammten und fühlte sich ertappt.

»Vergebt mir«, murmelte er, stieg über das Seil und folgte dem Jarl.

Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder

Подняться наверх