Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder - Holger Weinbach - Страница 15

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Anno 966 – Vorbereitungen

Ering stand vor einem Rätsel. Seit Abt Degenars Rückkehr aus Neustatt wohnte das Klosteroberhaupt keiner Andacht mehr bei. Auch sonst zeigte er sich kaum noch unter den Brüdern. Sogar die Mahlzeiten nahm er in seinen Gemächern ein.

Auch wenn es keine offizielle Stellungnahme zu den Ereignissen in Neustatt gab, konnte Ering an einer Hand abzählen, dass so ziemlich alles schiefgelaufen war, was der Abt beabsichtigt hatte. Weder Faolán noch der Edelherr waren zurückgekehrt. Und was aus den beiden Frauen geworden ist, wagte Ering sich erst gar nicht auszumalen.

Wiederholt hatte Ering versucht, Bruder Ivo Einzelheiten zu entlocken. Der Kellermeister aber wich ihm aus, sobald Ering das Thema ansprach. Mit Vorwänden speiste er Ering ab. Erings einzige Informationsquelle waren die mannigfaltigen Gerüchte. Sein Verstand musste ausreichen, um Wahrheit von Dichtung zu trennen.

Dass an jenem Schicksalstag sowohl der Abt als auch der Prior das Kloster verlassen hatten, war in der Bruderschaft nicht unbemerkt geblieben. Dass Degenar dies in wildem Galopp getan hatte, war schon Anlass genug für Gerede gewesen.

Auf die skeptischen Blicke folgten bald erste Gerüchte: Der Abt sei vor den Häschern des Grafen geflohen. Andere behaupteten, er sei vom Heiligen Vaters höchstpersönlich nach Rom berufen worden.

Nachdem aber das Klosteroberhaupt noch am selben Abend sichtlich niedergeschlagen zurückgekehrt war, fielen die Gerüchte düsterer aus. Nach einer knappen Woche lautete eine Version, der Abt sei in Neustatt auf das Podest gestiegen und habe es vor aller Augen mit den angeklagten Weibern getrieben. Danach habe er ihnen den Segen erteilt, sie wie Heilige davonziehen und an ihrer Stelle zwei Ritter enthaupten lassen.

Spätestens da wusste Ering, dass einige der Gerüchte von Prior Walram in die Welt gesetzt worden waren. Denn je länger der Abt die selbst gewählte Isolation vorzog, umso aktiver wurde sein Stellvertreter. Ering vermutete, dass Drogo seine Finger im Spiel hatte. Der Grafensohn hatte erst kürzlich das Kloster aufgesucht und den Abt gesprochen. Keiner der Brüder wusste Näheres darüber, nicht einmal Ivo. Am meisten beunruhigte Ering, dass es noch nicht einmal Gerede über diese Zusammenkunft gab.

Ering versuchte, die Gerüchte aus seinem Kopf zu bannen. Er brachte sich in eine aufrechte Position auf seinem hölzernen Platz im Chorgestühl, atmete tief durch und bat den Herrn um Verzeihung für seine Unaufmerksamkeit.

Das Quietschen der Seitentür schreckte Ering auf. Er traute seinen Augen nicht. Abt Degenar betrat das Gotteshaus und schlurfte auf den Altar zu. Die gesamte Bruderschaft blickte ungläubig auf. Selbst Bruder Ignatius stockte beim Vorlesen der Psalmen. Der Schreck durch das Geräusch war nicht halb so erschütternd wie Degenars Anblick.

Erst nach mehrfachem Räuspern des Kellermeisters fuhr Bruder Ignatius mit brüchiger Stimme fort. Ering flehte den Herrn an, dies möge ein übler Traum sein. Doch als er die Augen wieder öffnete, war das Bild unverändert: Auf seinen Stab gestützt, schleppte Abt Degenar sich die drei Stufen zum Chorgestühl hinauf.

Sein zerknittertes Habit war fleckig und besudelt. Die Haare des Oberhauptes standen zerzaust in alle Richtungen von seinem Schädel ab. Sein Kinn war gespickt von einem unmöglichen, stacheligen Bart. Ering widerstand dem Impuls, den schmuddeligen Abt ins Badhaus zu bringen. Stattdessen sah er paralysiert zu, wie Degenar an ihm vorbeischlurfte und seinen Platz im Chorgestühl einnahm.

Es gelang Ering nur mäßig, sich auf Bruder Ignatius zu konzentrieren und das Getuschel der anderen Mönche zu ignorieren. Der Knall eines Stockes auf die Seite des Chorgestühls brachte schließlich alle zum Schweigen. Nur Ignatius fand seine Stimme wenige Augenblicke später wieder.

Für den Rest der Andacht ließ Ering den Abt nicht aus den Augen. Degenar wirkte müde. Ering wusste nicht, ob der Alte die Augen demütig geschlossen hielt und betete oder ob er schlief, kraftlos, wie sein Kopf vornüber hing.

Was hatte den Abt aus seiner Kammer getrieben? Hatte Drogos Besuch damit zu tun? Was es auch sein mochte, es musste etwas Gravierendes sein. Oder kam Degenar endlich zur Vernunft? Ering fiel erneut ins Grübeln und schenkte den Psalmen keine Aufmerksamkeit mehr. Erst als die Brüder sich erhoben, kam er zur Besinnung und folgte ihnen. Sein besorgter Blick fiel auf Degenar, der unverändert zusammengesackt im Gestühl hing und die Bruderschaft ziehen ließ.

* * *

Das Holz des Chorgestühls drückte sich unbarmherzig in Degenars Oberarme. Am liebsten wäre er seiner Herde gefolgt. Hätte sich von der Last, von dieser Haltung befreit. Sich erlöst. Doch wie konnte er auf Erlösung hoffen, wo doch sein Versagen unweigerlich die Verdammnis für andere bedeutete? Für Faolán, den Edelherrn, dessen Ritter und die beiden Frauen!

Zweifel plagten ihn inzwischen bei all seinen Handlungen. War es richtig, sich der Bruderschaft zu zeigen? Er war sich seines nachlässigen Aufzugs bewusst, doch es war ihm gleichgültig. Er registrierte die Blicke der Gemeinschaft. Aber es war nicht sein fleckiges Habit, weshalb sie ihn angafften, sondern sein Versagen in Neustatt! Die unbekümmerten Novizen, Bruder Wunhold und sogar der vielversprechende Bruder Johannes. Sie alle senkten schuldbewusst ihre Köpfe, als er sie ansah.

Bis auf Degenars treuen Freund Ivo! Und der junge Ering. In ihren Augen konnte Degenar sowohl Ratlosigkeit, Entsetzen wie auch Mitgefühl ablesen. Wenigstens scheuten sie sich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Ebenso wenig wie Walram, der zwei Plätze weiter aufrecht im Chorgestühl stand. Überheblich hatte er auf Degenar herabgesehen.

Degenar rief sich ins Gedächtnis, dass alles, was mit Faolán schiefgelaufen war, auf Walrams Interventionen beruhte! Es war sogar seinethalben, weswegen Degenar sich heute in die Klosterkirche geschleppt hatte. Er war fest entschlossen, ihm die Stirn zu bieten.

Er hoffte, Walram darüber noch im Ungewissen zu lassen und war zuversichtlich. Zu schlurfend waren seine Schritte gewesen, zu gebeugt seine Haltung und zu müde sein Gesicht. Nicht unbedingt beabsichtigt, aber es könnte Walram verunsichern. War dies ein letztes Aufbäumen seines Abtes oder befand er sich auf dem Weg der Besserung? Bei dem Gedanken schmunzelte Degenar. Er wollte keinesfalls dem Prior das bestellte Feld widerstandslos überlassen.

Stille legte sich über die Apsis, nachdem der letzte Mönch die Kirche verlassen hatte. Degenar genoss die wärmenden Sonnenstrahlen noch einen Augenblick. Dann atmete er tief durch, stemmte sich empor und folgte der Bruderschaft in den Kreuzgang. Auf seinen Stab gestützt schloss er die Seitentür hinter sich. Es kostete ihn erschreckend viel Kraft, die schwere Holztür zu bewegen und den eisernen Riegel vorzuschieben. Verausgabt lehnte er sich an den nächsten Pfeiler der Arkadenbögen und holte Luft. Er musste sich seine Kraft einteilen.

Mit beiden Händen hielt er sich fest. In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, und Ivo betrat den Kreuzgang. Sofort sah er seinen Freund sich abstützen und hastete besorgt zu ihm. »Geht es dir gut?«

Degenar winkte ab. »Mir ist lediglich etwas schwindelig geworden.«

Sein Lächeln beruhigte Ivo. »Ich freue mich, dich endlich wieder außerhalb deiner Gemächer zu sehen.«

Degenar ging nicht darauf ein. »Begleite mich ein Stück durch den Kreuzgang. Ich habe beinahe vergessen, wie wohlduftend der Garten im Frühjahr ist und wie gut es tut, an diesem Ort der Stille seinen Gedanken nachzugehen.«

»Du hättest mich auch rufen können, wenn du mit mir sprechen willst«, beteuerte Ivo besorgt. »All die Tage hast du mich nur reden lassen und nichts gesagt. Soll ich dir jetzt die Beichte abnehmen? Du hättest wenigstens das frische Habit anziehen können, das ich dir bereitgelegt habe. Oder wie kann ich dir sonst helfen? Hier, stütze dich auf meinen Arm.«

Müde lächelnd schlug Degenar das Angebot aus und hielt sich an seinem Stab fest. »Es wurde Zeit, mich wieder blicken zu lassen, nicht wahr? Bevor neben den Gerüchten noch Geschichten über mein Ableben in Umlauf geraten …«, schmunzelte er.

»Sprich nicht so leichtfertig daher«, entsetzte Ivo sich. »Fordere den Tod nicht heraus. Ich mache mir ernsthafte Sorgen – und andere in der Bruderschaft auch.«

Degenar ließ ihm die forsche Art durchgehen. Er zuckte mit den Schultern und betrachtete das Beet Narzissen, mit ihren hängenden, verblühten Köpfen. »Ich bin alt geworden, mein Freund. Früher oder später müssen wir alle dem letzten Ruf des Herrn folgen. Ich bin keine Ausnahme. Wenn ich ihn höre, bin ich bereit. Ganz gleich, ob heute oder morgen.«

»Sag so etwas nicht!«, beschwor der Cellerar ihn. »Du hast noch viele gute Jahre vor dir!«

»Sei kein Narr, Ivo«, rief Degenar ihn zur Besinnung. »Wen siehst du vor dir? Einen vor Kraft strotzenden Jüngling oder einen gebeugten, alten Mann? Meine Tage voller Tatendrang sind gezählt. Sie tragen Früchte, wie du an dieser Abtei sehen kannst. Aber darauf folgten Jahre meines Versagens. Sie zehrten an mir und jetzt zolle ich Tribut für meine Arroganz zu glauben, die Geschicke der Grafschaft beeinflussen zu können.«

Irritiert blieb Ivo stehen. »Von welchem Versagen sprichst du?«

»Faolán. Oder hast du die letzten Jahre vergessen? Erst die Verbannung und jetzt Neustatt. Alles, worauf wir hingearbeitet haben, zerfällt vor unseren Augen zur Bedeutungslosigkeit. Mit einem Fingerschnippen unseres Priors!«

»Noch ist nicht alles verloren«, versuchte Ivo, ihm Mut zu machen. »Ich will nicht glauben, dass Faolán verloren ist. Und was seine Bestimmung betrifft, so glaube ich …«

»Glauben … glauben …«, sinnierte Degenar. »Glauben kannst du, was du willst. Die Fakten schreien dir aber das Gegenteil ins Gesicht: Es ist vorbei. Dabei hatte ich in diesem Edelherrn endlich den Verbündeten gesehen, den wir so lange gesucht haben.« Degenars Hände griffen nach der leeren Luft. »Keinen halben Tag hat es gedauert, und alles stürzte in sich zusammen, als hätten die himmlischen Heerscharen die Jericho-Posaunen angestimmt. Jetzt geht es für den Jungen nur noch ums Überleben – wie damals, als er zu uns kam. Weißt du noch?«

Degenars Blick schweifte für einen Moment in die Ferne der Vergangenheit. »Ich befürchte, mit unserer vermeintlichen Weitsicht und den Aufgaben für Faolán haben wir ihn als Mensch, als Burschen mit all seinen Bedürfnissen, über die Jahre vergessen und am Ende verloren. Und jetzt sage mir, Ivo, welche Hoffnung hast du noch für ihn?«

Der Cellerar suchte vergeblich nach einer Antwort.

»Siehst du!«, unterstrich Degenar seine Ausführung. »Aber Faolán ist nicht der Grund, weshalb ich meine Kammer verlassen habe«, fuhr er fort und ging behäbig weiter. »Ich fühle mich, wie ich aussehe, Ivo: alt! Ausgezehrt und kraftlos! Wie lange werde ich noch das Oberhaupt dieses Ordens sein? Walram strebt mein Amt an, machen wir uns nichts vor.«

»Er ist dir mehrfach unterlegen. Erinnere dich an seinen letzten Versuch, Abt zu werden.«

»Er vergisst keine seiner Niederlagen, Ivo!«

»Du wirst wieder erstarken«, widersprach Ivo der düsteren Aussicht. »Dein Schwächeanfall geht sicher bald vorüber. Bruder Wunhold braut ein Mittel für dich, das dich schnell auf die Beine stellt.«

Erschöpft sah Degenar seinen Freund an. »Wogegen soll dieses Mittel helfen? Das Alter? Ein gebrochenes Herz? Nein, mein Freund, gegen meine Gebrechen kann Bruder Wunhold nichts ausrichten, so sehr ich Vertrauen in sein Wissen und Können habe. Aber eines ist mir in den letzten Tagen klar geworden: Ich darf nicht tatenlos zusehen, wie Walram alles an sich reißt. Deshalb müssen wir einige Belange regeln. Suche mich später in meinen Gemächern auf, sobald es deine Aufgaben erlauben.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ Degenar seinen Freund stehen und schlurfte aus dem Kreuzgang. Ivo hatte ihn noch nie im Stich gelassen und würde kommen, Degenar wusste es. Aber er spürte die Enttäuschung, die er bei Ivo zurückließ und dessen bohrenden, fragenden Blick in seinem Nacken.

* * *

Die Dämmerung war bereits fortgeschritten, als Ering und Bruder Ivo durch die Klostergassen huschten. Ering wunderte sich über die Eile und die Heimlichtuerei, als suchte Ivo jeden Schatten auf, der sich ihnen darbot. Der Cellerar hatte die Kerze in der Laterne, die er bei sich trug, nicht entzündet. War sie für den Rückweg gedacht oder führte Ivo ihn in einen seiner Keller?

Ein paar Biegungen später wusste Ering zumindest, welches Ziel Ivo anstrebte: die Räumlichkeiten des Abtes. Der Himmel war dunkelviolett, als sie vor der Eichentür stehen blieben. Ivo hob eine Hand zum Klopfen, senkte sie aber wieder. Er sah sich nach Ering um, befeuchtete seine Lippen und nickte, als benötigte er die Bestätigung des jungen Mönches. Schließlich klopfte der zaghaft an.

Keine Antwort.

Wieder sah er seinen jungen Begleiter an und klopfte erneut, diesmal kräftiger. Ering hielt den Atem an. Gemeinsam lauschten er und Ivo in die Nacht. Nichts! Behutsam legte der Kellermeister ein Ohr auf das Türblatt.

Ering rätselte, weshalb sie nicht einfach eintraten. Noch nie hatte er den Kellermeister so ängstlich gesehen. Der sonst so selbstsichere Mönch war unstet und unschlüssig.

Ering räusperte sich und der Kellermeister fuhr zusammen. Mit zitternder Hand öffnete er schließlich die Tür. Der Raum dahinter lag im Dunkeln. Nach ein paar Schritten hielt Ivo inne. »Schhh! Leise jetzt«, flüsterte er. Es war totenstill. In Erings Ohren rauschte das Blut. Sein Atem ging flach. Er fühlte sich wie ein Novize, der in die Vorratskammer einbrach.

»Degenar?«, hauchte Ivo, wagte sich aber keinen Schritt weiter.

Es blieb still. Dann regte sich ein Schatten in der Exedra. »Hier bin ich, alter Freund.«

Ivo zuckte zusammen, atmete aber sogleich erleichtert auf. »Warum sitzt du hier im Dunkeln? Warte, ich entzünde eine Kerze!« Kurz darauf flackerte eine kleine Flamme auf. Ivo trug die Kerze in die Exedra und leuchtete Degenar ins Gesicht. Ering erschrak, wie blass er war.

Der Abt rieb sich die Augen und sah in die Schatten hinter seinen Freund. »Du bist nicht allein gekommen! Wen bringst du mit?«

»Ich hielt es für das Beste, einen Freund mitzubringen. Bruder Ering ist bei mir.«

Degenar schob sich an die Bankkante und sah die beiden mit stechendem Blick an. »Ich habe dich nicht wegen Faolán einbestellt, falls du Ering in dieser Hoffnung mitgebracht hast. Er kann getrost wieder gehen«, antwortete er kühl.

Die Ablehnung traf Ering wie ein Stich ins Herz. Aber es war nicht an ihm, die Entscheidung seines Abtes infrage zu stellen. Er wandte sich zum Gehen, da packte Bruder Ivo ihn am Habit und hielt ihn zurück. »Er bleibt hier!«, widersprach der Kellermeister seinem Freund mit fester Stimme. »Ich habe Faolán noch nicht aufgegeben – und Ering ebenso wenig. Wir sind der Auffassung, dass es noch nicht zu spät ist, etwas für seine Rettung zu unternehmen. Und wir sind nicht die Einzigen, die das glauben. War das nicht der Grund für Drogos Besuch?«

Degenars Blick wechselte zwischen Ivo und Ering. »Wenn du meinst«, gab er nach. »Dann werden wir erst diese Angelegenheit klären, ehe wir über die Zukunft des Klosters sprechen.« Er kratzte seinen zerzausten Bart und bot den beiden Plätze in der Exedra an. »Drogo sucht nach allen Personen, die in die Angelegenheit in Neustatt verstrickt sind. Dass er bei mir damit beginnt, ist naheliegend.«

»Verzeiht, ehrwürdiger Abt«, unterbrach Ering ihn. »Ich könnte Euch besser folgen, wenn ich über die Ereignisse in Neustatt Kenntnis besäße. Bisher kenne ich leider nur Gerüchte, die ich nicht glauben mag.«

Degenar warf Ivo einen Blick zu, als wollte er ihm sagen, dass er genau das vermeiden wollte.

»Ich bitte dich, Degenar«, antwortete der Kellermeister. »Wir müssen uns jemandem anvertrauen. Ering weiß ohnehin mehr als jeder andere. Er hat Faolán und den Edelherrn gesehen, wenn du dich erinnerst. Weshalb ihn nicht einweihen und seine Hilfe in Anspruch nehmen?«

Der Abt musterte sein Gegenüber stumm. Ering hatte Mühe, dem Blick standzuhalten. Schließlich faltete Degenar die Hände im Schoß und begann mit matter Stimme zu berichten, was sich vom Ritt aus dem Kloster bis zu seiner Rückkehr ereignet hatte. Ering sog jedes Wort in sich auf. Als Degenar von seinem Scheitern berichtete, die Vorwürfe gegen die beiden Frauen zu entkräften, lagen Ering unzählige Fragen auf der Zunge. Er hielt sie zurück, um den Abt nicht zu unterbrechen. Als Degenar von Faoláns Eingreifen und der wilden Flucht vom Marktplatz erzählte, ballte Ering die Fäuste, als wollte er Walram eigenhändig vom Podest stoßen.

»Was danach geschah, weiß ich nur aus zweiter Hand«, kam der Abt zum Ende. »Die Kräuterfrau wurde auf der Flucht getötet. Ebenso die beiden Krieger des Edelherrn. Ihre Leichen hängen zur Abschreckung und zum Labsal der Krähen vor den Toren und auf dem Marktplatz Neustatts.«

»Und Faolán? Was ist mit ihm?«, brach es aus Ering heraus.

»Ungewiss. Ebenso das Schicksal des Edelherrn und des Mädchens«, gestand Degenar matt die Wahrheit ein. »Es heißt, aus dem Flussnebel seien mehrere Drachenschiffe aufgetaucht. Die barbarischen Nordmänner sollen Faolán aus dem Fluss gezogen und gefangengenommen haben. Vermutlich auch den Edelherrn und das Mädchen Svea. So schildert es zumindest Drogo.«

»Dann sind die Gerüchte also wahr …«, raunte Ering fassungslos. Seine Zunge war bleischwer, sein Gaumen rau und trocken wie Eichenrinde. Für einige Augenblicke herrschte Ruhe, und die Mönche starrten auf den Boden, wo das kleine Kerzenlicht gegen die Dunkelheit ankämpfte.

Ein Kloß im Hals erschwerte Ering das Schlucken. »Was gedenkt Ihr zu unternehmen?«, brach er das Schweigen. »Was liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten?«

Degenar schnaubte und lehnte sich gegen die kühle Steinwand. »Meine Mittel und Wege sind erschöpft. Drogo ist wie besessen auf der Suche nach den Dreien und wird alles unternehmen, um sie zu fassen. Noch weiß er nicht, dass der Edelherr Brandolf Faolán begleitete. Es wird aber nicht mehr lange dauern, bis er dahinterkommt. Was es bedeutet, als Vasall seines Vaters in die Angelegenheit verstrickt zu sein, brauche ich wohl nicht erläutern.«

Es war Hochverrat, das wusste Ering. Und dafür gab es nur eine Strafe!

Degenars Blick lag prüfend auf Ering. Seine Stimme senkte sich düster. »Drogo hat sich verändert. Er handelt überlegter. Nicht mehr so blauäugig wie einst. Sobald er Brandolfs Identität herausfindet, wird er zur Burg des Edelherrn reiten.«

»Und wenn er ihn dort nicht antrifft …« Ering versagte die Stimme.

»… weiß Drogo, dass Brandolf in Neustatt war«, nahm Degenar ihm die Worte aus dem Mund. »Da er den Edelherrn nicht zur Rechenschaft ziehen kann, wird seine Familie für ihn büßen müssen – und mit ihnen Konrad.«

»Was hat Konrad damit zu tun?« Kaum hatte Ering die Frage ausgesprochen, begriff er. Er stand auf, seine Fäuste vor Aufregung geballt an seiner Seite. »Er lebt! Konrad befindet sich auf der Burg des Edelherrn!«, schrie er beinahe im Taumel der Freude. »All die Wochen habe ich gehofft, dass nicht nur Faolán überlebt hat. Ich habe darum gebetet, dass Ihr seinen Tod nur vorgetäuscht habt.«

»Dein Verstand spricht für dich. Du bist nicht so leicht hinters Licht zu führen wie manch anderer Bruder. Die Geschichte um Konrads Tod habe ich zu seinem Schutz aufrechterhalten. Wüsste Drogo darum, säßen wir nicht mehr hier.«

Erings Gedanken überschlugen sich. Er versuchte einzuordnen, was er in den letzten Minuten erfahren hatte und rang gleichzeitig darum, seine Freude im Zaum zu halten, damit sie seine Ratio nicht übermannte. »Wir müssen sie warnen! Konrad und die Edelfamilie«, sagte er schließlich.

Der Kellermeister räusperte sich. »Wir sollten noch mehr anstreben.«

»Was sonst noch?«, fragte Degenar mit geschlossenen Augen, als sei es ihm zu mühselig, die Wahrheit zu sehen.

»Wir sollten Faolán suchen gehen«, brachte Ivo Erings Gedanken auf den Punkt.

Degenar schnaubte. Den Kopf gegen die Wand gelehnt, antwortete er, als hielte er einen auswendig gelernten Sermon. »Faolán ist verschollen und verschleppt. Sieh es endlich ein. Wir haben keine Handhabe mehr, seit ich ihn aus unserem Kloster verbannt habe. Wir werden ihn nicht ohne weiteres finden.«

»Du hast recht. Ohne weiteres werden wir ihn beileibe nicht finden«, bestätigte Ivo, befeuchtete seine Lippen und rieb sich die Handflächen. »Und dennoch sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben. Wie viel aus der Heiligen Schrift hätte heute Bestand, hätten die Heiligen ihren Glauben trotz aller Widrigkeiten aufgegeben? Sie folgten oft nicht mehr als dem spärlichen Licht der Hoffnung!«

»Ich bin weit davon entfernt, ein Heiliger zu sein!«, stellte Degenar unberührt fest und gähnte ausgelassen.

»Für Faolán brennt das Licht der Hoffnung!« Wie zum Beweis schob Ivo die Kerze in die Mitte der Exedra. Die drei Augenpaare starrten auf die kleine Flamme. »Es muss eine Möglichkeit geben, Faolán zu finden und heimzuholen.«

Die eindringlichen Worte des Kellermeisters prickelten auf Erings Haut wie ein Schauer. »Faolán finden …«, wiederholte er leise. Aufgewühlt begann er, auf und ab zu gehen. Sein Verstand raste, analysierte. Seine Stimme war nüchtern. »Das wäre ein Unternehmen … von einer Größe … Wie wäre das zu bewerkstelligen? Wir wissen nicht, wo er sich befindet. Nicht, wo wir mit der Suche beginnen sollen! Einzig, dass er von gottlosen Barbaren verschleppt wurde. In den heidnischen Norden. Doch dort könnte er überall sein … falls er überhaupt noch lebt.«

Nachdem er diese Überlegung ausgesprochen hatte, fasste er das kleine Laternenlicht ins Auge. Hatte es eben noch die Exedra hoffnungsvoll erleuchtet, schien es mit einem Mal viel zu klein zu sein, um die düsteren Schatten zu vertreiben. Ernüchtert setzte Ering sich wieder.

»Er begreift die Ausweglosigkeit schneller als du, Ivo.«

Der Kellermeister antwortete mit einem Kopfschütteln: »Es gibt Möglichkeiten!«, warf er beharrlich in den Raum. Degenar öffnete die Augen und Ering hob den Kopf. »Die schwierigste Aufgabe besteht darin, einen Hinweis auf Faoláns Aufenthaltsort zu erhalten. Aber wir kennen die Himmelsrichtung, die wir einschlagen müssen.«

»Das ist äußerst vage«, brummte Degenar matt. »Der Norden ist endlos. Selbst wenn du bereits eine Ahnung hättest, wo mit der Suche zu beginnen wäre, vergisst du dabei eines: Den Heiden kann man nicht geradewegs hinterhersegeln. Sie sind längst in ihrer Heimat angelangt.«

»Eine Ahnung habe ich tatsächlich«, gestand Bruder Ivo und Ering sah ein Funkeln in seinen Augen. »Allerdings ist sie noch weit davon entfernt, ein Plan zu sein. Zuvor gilt es, viele Steine aus dem Weg zu räumen. Einer davon ist der Graf. Über Ruriks Kopf hinweg Faolán zu suchen, gilt als Aufbegehren gegen die Obrigkeit.«

Degenar kratzte sich nachdenklich den Bart, blieb am Ende aber bei seiner Sichtweise. »Das ist doch nichts weiter als eine fixe Idee, mein Freund.«

»Im Kreuzgang hast du mir erst heute gesagt, dass du nicht kampflos das Feld überlassen willst. Weshalb also willst du jetzt Faolán aufgeben?«

An Degenars unveränderter Miene erkannte Ering, dass er nicht überzeugt war. Ivo wirkte verunsichert. Er hatte gewiss gehofft, seinen Freund innerhalb kürzester Zeit für seinen Vorschlag begeistern zu können. Doch jetzt fragte Ering sich, wie fest der Glaube des Cellerars an ein solches Unterfangen überhaupt war.

Ering spürte den auffordernden Blick des Kellermeisters auf sich liegen. »Ja … ja, selbstverständlich! Ich teile Eure Ansicht. Ihr könnt auf mich zählen, Bruder Ivo.«

»Du klingst unsicher«, zweifelte der Abt Erings Zustimmung an. »Es wäre ein gefährliches Unternehmen. Vor allem, wenn du der Rolle zustimmst, die unser Freund hier«, Degenars Kopf neigte sich zum Kellermeister, ehe er fortfuhr, »dir zugedacht hat. Ich kenne ihn schon lange und ich glaube zu wissen, weshalb er dich mitgebracht hat. Entscheide also nicht voreilig.«

Ivo sah streng zu Degenar hinüber, richtete seine Augen aber sogleich wieder auf Ering. Er leckte sich die Lippen, während er nach Worten suchte.

»Ihr habt mir bereits eine Rolle zugedacht? Bevor Ihr wusstet, ob ich zusage?«, kam Ering ihm zuvor und versuchte, nicht allzu sehr überrascht zu klingen. Eben erst hat er von Faoláns Schicksal erfahren und Bruder Ivo hatte bereits eine Aufgabe für ihn in seinem Plan! »Darf ich fragen, was genau Ihr für mich vorgesehen habt?«

»Es geht nicht darum, welcher Teil des Vorhabens dir zuteilwird, sondern ob du grundsätzlich und uneingeschränkt einem derart waghalsigen Unterfangen zustimmen wirst«, wich Ivo einer Antwort aus. Es war ihm sichtlich unwohl, dass Degenar ihn in diese Erklärungsnot gebracht hatte. »Du musst eine Entscheidung für oder wider die Rettung deines Freundes treffen. Darum geht es. Ganz gleich, was kommen mag. Das ist es, was Degenar hören möchte. Und eine Antwort solltest du dir gut überlegen.«

»Du etwa nicht?«, hakte der Abt ein. »Ich habe ihn nicht in meine Gemächer mitgebracht. Ich glaube, dein Interesse an Erings Bereitschaft ist größer als meines.«

»Verzeiht, ehrwürdiger Abt, ehrwürdiger Cellerar«, unterbrach Ering das sich anbahnende Wortgefecht. »Über eine derartige Frage muss ich nicht lange nachdenken. Ich scheue weder steinige noch gefährliche Wege. Nichts wird mich abhalten, meinen Freunden zu helfen! Ganz gleich, ob es um Faolán oder Konrad geht.«

Aus heiterem Himmel begann Degenar kehlig zu lachen. Hustend endete er schließlich und schüttelte den Kopf. »Er ist und bleibt ein Idealist, Ivo. Ich habe es geahnt. Bitte, er muss sich wie auf der Streckbank fühlen. Erlöse ihn und offenbare, welche Rolle du ihm zugedacht hast.«

Ivo räusperte sich. »Ich beabsichtige, dich in den Norden auf die Suche nach Faoláns Spur auszusenden.«

Jetzt war Ering überrascht. Er hatte erwartet, Informationen einzuholen. In den Büchern das Wissen über die Nordmänner zu sammeln und einen Plan auszuarbeiten. Aber selbst zu gehen, das war …

»Wenn ich mich nicht täusche, käme das der Hauptrolle gleich«, schlussfolgerte Degenar mit gefalteten Händen. »Erfolg oder Niederlage, alles hinge von dir ab. Nicht mehr und nicht weniger. Dort oben herrscht ein schrofferes, gefährlicheres Leben als in unserer Grafschaft. Aber das ist dir ja gleich, wenn ich dich richtig verstehe.«

»Ihr meint, ich soll zu den Heiden fahren und …«, vergewisserte Ering sich bei Ivo.

»Nicht nur die Fahrt dorthin wäre waghalsig«, antwortete Degenar für Ivo. »Gefahren lauern schon viel früher. Beispielsweise in unserem Kloster. Drogo wird nicht untätig bleiben. Er weiß, in welche Richtung die Nordmänner gesegelt sind. Wenn er nicht seine Aufmerksamkeit bereits dorthin ausgerichtet hat, wird er es bald tun. Und wir sollten Walram im Auge behalten. Die beiden haben schon immer die Köpfe zusammengesteckt!«

»Dann müssen wir den beiden stets einen Schritt voraus sein«, befand Ering und wunderte sich, wie unbekümmert ihm die Worte über die Lippen kamen. Noch immer leicht betäubt von der Vorstellung, in den Norden zu ziehen, war es nicht einfach, klare Gedanken zu fassen.

»In diesem Fall sollten wir gleich damit beginnen!« Der Kellermeister klatschte sich voller Tatendrang auf die Schenkel. »Als erstes müssen wir Konrad und die Familie des Edelherrn warnen, bevor Drogo auf die Idee kommt, sie aufzusuchen!«

»Konrad zu warnen ist eine Sache«, hielt der Abt entgegen, als sei dies die geringste seiner Sorgen. »Faoláns Spur zu finden eine völlig andere. Die bloße Himmelsrichtung wird kaum ausreichen, um ihn ausfindig zu machen. Wäre es so leicht, hätte Drogo ihn sich längst geholt. Hierzu bedarf es aber etwas Köpfchen.«

»An Köpfchen mangelt es uns nicht.« Der Kellermeister nickte Ering zu. »Mit einem ausgereiften Plan und Gottes Hilfe haben wir die besten Aussichten auf Erfolg. Unser Glaube und das Wort des Herrn sind unser größter Ansporn.«

Degenar sah seinen Freund mit müden Augen an. »Manchmal führen selbst der stärkste Glaube und die größte Demut nicht zum Ziel. Gottvertrauen allein wird euch nicht helfen. Ihr müsst alles tadellos durchdenken, dürft nichts vergessen und benötigt dazu noch verdammt viel Glück.«

Irritiert sah Ering den Abt an. Derartige Worte war er aus dem Mund seines Oberhauptes nicht gewohnt. Auch Ivo sah befremdlich drein. Bevor die beiden etwas erwidern konnten, erhob Degenar sich, stützte sich an der Wand ab und ging ohne weitere Worte zu seiner düsteren Schlafkammer. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Da wir heute ohnehin nicht besprechen werden, wozu ich dich einbestellt habe, nutzt die Zeit für eure Pläne. Seid meine Gäste und löscht das Licht, wenn ihr geht. Komme morgen wieder, Ivo, dann widmen wir uns den Klosterangelegenheiten.«

Degenar verschwand im Dunkel der Schlafkammer und schloss die Tür. Das Kerzenlicht wirkte gedämpfter als zuvor. Ivo und Ering blieben zunächst sprachlos in der Exedra sitzen und starrten auf die spärliche Flamme. Schließlich beendete der Kellermeister flüsternd die Stille: »Wenn du tatsächlich bereit bist, Faolán zu suchen, werde ich dich in meine Überlegungen einweihen.«

Ohne darüber nachzudenken, nickte Ering. »Für Faolán und Konrad!«, bekräftigte er. Und diesmal fiel es ihm leicht, sich mit dem Gedanken anzufreunden. Er spürte einen Unternehmungsgeist und eine Aufregung in sich wachsen, dass er am liebsten gleich aufgebrochen wäre. Allein die Vorstellung, dass er nicht mehr tatenlos im Kloster sitzen musste, übte einen ungewohnten Reiz auf ihn aus, der sogar seine Furcht vor dem Unbekannten überflügelte.

Der Kellermeister begann mit gedämpfter Stimme seine Gedanken offenzulegen. Ering sog alles in sich auf und ließ seine eigenen Ideen einfließen. Ivo war von den konstruktiven Vorschlägen begeistert und ging auf jeden einzelnen ein.

Als die Sprache auf die Nordmänner kam, äußerte Ering seine größten Bedenken: »Gesetzt den Fall, ich finde Faolán, werde ich die Barbaren nicht mit schönen Reden zu seiner Freilassung überzeugen können. Geschweige denn, sie mit dem Wort Gottes im Handumdrehen bekehren. Es sind Heiden. Sie plündern, morden und brandschatzen. Das Einzige, was sie von einer Freilassung überzeugen könnte, wäre ein Lösegeld!«

»Das habe ich mir auch schon gedacht«, stimmte Ivo zu.

Bei dem Gedanken, ein Lösegeld mit auf die Reise zu nehmen, wurde Ering unbehaglich zumute. »Die Summe wird beträchtlich sein. Wie können wir sie aufbringen? Wir können unmöglich jemanden darum fragen. Das Risiko, dass dadurch unser Vorhaben aufgedeckt werden könnte, ist viel zu groß.«

»Eines der kleineren Probleme, um die ich mich kümmern muss«, tat Ivo die Frage ab, nicht ohne ein gewisses Maß an Stolz in seiner Stimme. Der Kellermeister kannte Quellen und Möglichkeiten der Beschaffung, die Ering schon immer rätselhaft vorgekommen waren.

»Mich treiben zwei andere Probleme um«, erweiterte Ivo die Liste der Hindernisse. »Die unberechenbare Größe des Nordens und die Herausforderung, wie wir unser Vorhaben vor Drogos und Walrams Argwohn verborgen halten können.«

»Wenn wir eine logische Begründung für Walram fänden, und er mit Drogo gemeinsame Sache macht, könnte das auch Drogo in die Irre führen. Eine offizielle Fahrt in den Norden, womöglich zur Missionierung der Heiden, wäre vielleicht ausreichend, um …«

»Drogo auf den Plan zu bringen«, fiel Ivo Ering ins Wort. »Eine Reise zur Bekehrung der Heiden wäre zu offensichtlich. Aber du bringst mich auf eine Idee. Wenn ich mich recht erinnere, ist ein Jugendfreund Degenars Bibliothekar im Erzbistum Bremen. Und Bremen ist das Tor in den Norden. Mit einer Bitte um Abschriften einiger Bücher könnten wir dich ohne Verdacht in das Bistum schicken. Unser Skriptor führt sicherlich ein langes Register mit begehrten theologischen Abhandlungen, die er nur allzu gerne in seinen Regalen sähe. Selbst Walram könnte sich diesem Vorsatz, der Abtei zu mehr Wissen und Ruhm zu verhelfen, nicht in den Weg stellen. Und dass du derjenige sein wirst, der dafür nach Bremen fährt, wird er erst kurz vor deiner Abreise erfahren.«

»Das brächte mich nach Bremen. Dort müsste ich dann dieser Aufgabe nachgehen. Wie wollt Ihr mich davon freistellen, ohne Misstrauen zu wecken?«, hielt Ering entgegen.

»Du hast Recht. Das würde dich viel zu lange dort binden …« Ivo tauchte in seine Gedanken ab.

»Aber es gäbe eine andere Möglichkeit, die sowohl die Problematik um das Lösegeld, Drogos Argwohn und Walrams Erlaubnis für die Reise beheben würde«, brach es aus Ering hervor, sodass Ivo irritiert aufsah.

»Spanne mich nicht länger auf die Folter, Junge. Spucke es schon aus!«

»Ihr schickt mich aus, eine Reliquie zu erstehen, die unserem Kloster für die Zukunft Pilger- und Geldströme garantieren soll. Der Graf wird kaum gegen die in Aussicht stehenden Geldströme, die er besteuern wird, Einwände erheben. Und Drogo erst recht nicht. Walram wird keinen Verdacht schöpfen und für das Lösegeld bräuchten wir keine Erklärung abzugeben.«

»Das wäre eine Möglichkeit …«, murmelte Ivo und versank ins Grübeln. »In der Tat …« Er sah Ering mit funkelnden Augen an. »Die Idee hätte von mir sein können. Hervorragend! Und Walram erzählen wir, du reist nach Santiago de Compostela!«

Unerwartet sprang Ivo auf und verpasste seinem Gegenüber eine Ohrfeige. Ering hielt sich die Wange und sah den Cellerar verstört an. »Womit habe ich das verdient?«

Aufgebracht stand Ivo vor ihm und stocherte mit dem Zeigefinger in seine Richtung. »Die gibst du schön Faolán weiter, wenn du ihn findest. Für all die Scherereien und die Umstände, die er uns bereitet! Und für all die Lügengebilde, die wir seinetwegen konstruieren. Gott möge unseren Seelen gnädig sein. Aber wehe, du vergisst es, die Backpfeife weiterzugeben. Dann verpasse ich euch beiden höchstpersönlich eine!«

* * *

Wie eine in die Enge getriebene Katze zog Walram in seiner Kammer Bahnen, auf und ab. Die Ereignisse der letzten Wochen zehrten an seinen Nerven. Er gestand es sich ungern ein, doch er war froh, wenn er nachts zur Andacht gerufen wurde. Den Psalmen zu lauschen, lenkte zumindest ab. Manchmal gelang es ihm sogar, im Chorgestühl ein wenig zu schlafen, was ihm in seiner Kammer immer seltener möglich war.

Nicht nur der Vorfall in Neustatt war schuld an seiner Anspannung. Vor allem sein letzter Besuch auf der Greifburg ließ ihn Tag und Nacht Gedanken wälzen. Dass Drogo wenige Tage nach Walrams Rückkehr von der Burg auch noch unerwartet in der Abtei aufgetaucht war, ohne den Prior aufzusuchen, machte Walram noch rastloser. Dieser Bursche brachte es fertig, dass er, Walram, wie ein aufgescheuchtes Huhn durch seine Räumlichkeiten lief.

Als der Prior sich das vor Augen führte, blieb er wie angewurzelt stehen.

Nein, Walram musste dem Einhalt gebieten. Nicht dieser Bursche. Nicht der Sohn Ruriks!

In seinen Albträumen jedoch, wenn Walram endlich Schlaf fand, schwor er Drogo Nacht um Nacht auf Knien und flehend, ihm die Gesuchten zu bringen. Ihm Faolán und das rothaarige Mädchen förmlich zu Füßen zu legen. Und damit die Grafschaft und den Schlüssel der Abtei. In diesen Träumen kauerte Walram nackt auf dem kalten Steinboden, wand sich demütig und flehte um Gnade.

Er hasste nicht nur diese Traumbilder, sondern auch die Furcht, die er mit ihnen durchlebte. Eine Furcht, die er nicht gewohnt war. Wie er diese Schwäche in sich abgrundtief verabscheute, auch wenn sie nur im Traum existierte!

Walram fragte sich inzwischen ernsthaft, weshalb er nicht träumen konnte, dass Drogo ihn um Verzeihung bat und ihm den Saum küsste? Wahrscheinlich, weil es schlichtweg nie eintreffen würde. Nicht im Traum und erst recht nicht im Leben.

Gedanken um Drogo bekamen ihm nicht. Er ballte seine Fäuste. Er musste seine Aufmerksamkeit auf andere Angelegenheiten lenken. Aber es fiel ihm nicht leicht. Obwohl Walram sich stündlich vollauf damit beschäftigte, das geschwächte Klosteroberhaupt zu diffamieren, holten ihn die Gedanken um den Grafensohn immer wieder ein.

»Disziplin!«, maßregelte er sich scharf, als spräche er mit einem Novizen. »Degenar ist schwach. Es geht nicht mehr lange mit ihm. Je früher er seine Niederlage begreift, umso schneller werde ich am Ziel sein!«

Walrams Hände glitten in die Ärmel seines Habits. Die Fingernägel scharrten unterbrochen über seine Unterarme. Es erzürnte ihn, dass er sich noch immer um die Vernichtung des Alten kümmern musste. Dabei gab es Wichtigeres!

Wesentlich Wichtigeres, rief Walram sich in Erinnerung. Sowohl Degenar als auch Drogo durften sich ihm auf keinen Fall in den Weg stellen. Genauso wenig wie Rubrik oder dieser unsägliche Faolán.

Faolán. Oder besser Rogar. Rogar, der Nervige! Rogar, der Unglückliche. Rogar, der Verbannte!

Ein Lächeln huschte über Walrams Gesicht.

Rogar, der Verschleppte und Versklavte. Das traf es eher. Und es gefiel Walram wesentlich besser. Die Enge um seinen Brustkorb löste sich.

Die überstürzte Flucht, die für Faolán und seine Kumpane im Fluss endete, war ein Geschenk Gottes. Nein, korrigierte Walram sich, ein Geschenk der Heiden. Was er bisher nicht hatte einfädeln können, übernahmen die Nordmänner für ihn. Gut, es war jetzt zwar nicht mehr Walrams Verdienst, dass Rogar beseitigt war, doch das machte ihm nichts aus. Wie er die Grafenfamilie einschätzte, hätte er ohnehin keinen Lohn dafür erhalten. Seine Bemühungen und Erfolge waren weder von Rurik noch von Drogo honoriert worden.

Undankbares Pack! Es war längst überfällig, sich von diesem Adelshaus zu trennen! Es war die Zeit, die Fäden seines Schicksals selbst in die Hände zu nehmen, statt auf die Gnade eines Adeligen oder Degenars Tod zu hoffen. Unabhängigkeit. Eigenständigkeit.

Walram zog seine Hände aus den Ärmeln und legte sie auf das Schreibpult. Seine Finger waren gerade und elegant, die Nägel sauber und stets auf die richtige Länge geschnitten. Diese Finger waren geschickt im Umgang mit der Feder und sein Geist war eloquent genug, um die richtigen Worte zu finden. Zu eloquent, als in dieser Grafschaft zu niederen Zwecken vergeudet zu werden!

Es war an der Zeit, sich an mächtigere Männer zu wenden!

Entschlossen griff Walram nach dem Federkiel und legte ein Stück Pergament auf das Pult. Dies würde kein Bittschreiben werden. Nein, diesmal würde er fordern. Geschickt verpackt in Worte, die ihn weit über das Amt eines Abtes hinaustragen würden.

Er wollte für all seine Mühen belohnt werden. Und da ihm das die weltlichen Mächte verwehrten, war es an der Zeit, sich an die kirchlichen Fürsten zu wenden.

Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. Er wusste, wer die richtigen Verbindungen besaß, sowohl im Kaiserreich wie auch nach Rom. Die ersten Worte kamen ihm bereits in den Sinn.

Hochverehrte Eminenz, Bischof Ulrich von Augsburg.

Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder

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