Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder - Holger Weinbach - Страница 9

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Anno 966 – Gewissheit

Nasses Haar hing ihm in die Stirn. Das war das Erste, was Faolán wahrnahm.

Es kühlte seine Stirn.

Linderte den Schmerz.

Schmerz! Das war das Zweite, was sein Bewusstsein füllte. Mit einer Brachialgewalt beanspruchte er schlagartig all seine Sinne. Sein Kopf, nein, sein gesamter Körper schrie auf in Agonie.

Feine Wassertropfen sprühten ihm ins Gesicht. Ein willkommener Regen? Für einen Moment brachten die Tropfen ein wenig der ersehnten Linderung.

Faolán hielt die Augen geschlossen. Er wollte nicht sehen, wo er vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden lag. Der Wahrheit ins Auge zu blicken wäre noch unerträglicher als sein geschundener Körper. Doch je länger er es verneinte, umso quälender verlangte sein Verstand nach Gewissheit.

Dieses sanfte Schaukeln … es war so angenehm einschläfernd. Vielleicht wären ihm noch weitere Stunden der Ungewissheit vergönnt, wenn er nur Schlaf fände …

Stattdessen drängten Faoláns Sinne immer stärker darauf zu erkunden, was jenseits der Dunkelheit und der Schmerzen lag. Seine Finger waren klebrig, ließen sich nur mühsam bewegen. Ein süßlich-metallener Geschmack haftete an seinem Gaumen, gespickt mit Sandkörnern. Der Geschmack war vertraut.

Blut!

Ein Brechreiz überkam Faolán. Doch bevor er ausspucken konnte, brach ein neuer, stechender Schmerz über ihn herein, der alles andere verblassen ließ. Gliedmaßen, Rumpf und Schädel schrien gleichermaßen auf. Er wusste nicht, wohin er sich zuerst fassen sollte. Faolán zog die Stirn kraus und bemerkte, dass seine Schläfen verkrustet waren. Fesseln hinderten ihn daran, sie abzutasten. Ein weiterer Riemen schnitt in seine Fußgelenke.

Wie der Hammerschlag eines Schmiedes kehrte die Erinnerung zurück!

Die Flucht … Drogos Provokation im Fluss … und dann seine Dummheit, auf Drogos Worte zu reagieren. Faolán war vom Rücken seines Pferdes ins Wasser gestürzt. Die Wellen hatten ihn sofort unter sich begraben. Wild um sich schlagend hatte er versucht, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Vergebens. Orientierungslos war er von der Strömung unter Wasser gezogen worden.

Als seine Lungen nach Luft schrien, war er mit einem kräftigen Ruck aus dem Wasser gefischt worden. Da war ein Drachenkopf. Würgend und nach Luft ringend hatte man ihn fallen lassen. Auf Planken wie diese. Auf das Deck eines Schiffes.

Einem Schiff der Nordmänner.

Danach gab es nur noch Leere in Faoláns Erinnerungen, abgelöst von den lebhaften Bildern eines Albtraumes, die sein Unterbewusstsein bisher zurückgehalten hatte.

Jetzt aber stürmten sie in sein Bewusstsein. Darin besaß er die Gestalt eines weißen Wolfes – oder war er dessen schwarzer Bruder gewesen? Zwei Wölfe – er war beide zugleich. Sie hetzten durch einen endlosen Wald. Mit gigantischen Sprüngen flogen sie über Steine und altes Laub. Sie waren auf der Jagd. Auf der Jagd nach … nach einer Frau!

Faolán versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu drängen, doch sie waren mächtiger als sein Wille. Der schwarze Wolf brachte seinen weißen Konkurrenten zu Fall. Als Erster erreichte er das Ziel. Oder waren beide Wölfe am Ende zu einem verschmolzen? Faolán wusste es nicht mehr. Er wusste nur, dass das Ungeheuer mit weit aufgerissenem Maul zum Sprung ansetzte und die Kehle der jungen Frau zerriss. In diesem Augenblick begriff Faolán, dass er dieser Wolf gewesen war!

So sehr er es wollte, er konnte die Bilderflut in seinem Kopf nicht unterdrücken. Als wären es frische Erinnerungen, waren sie voll des Lebens. Und des Todes. Die Gerüche. Die Farben. Sogar das Gefühl des Blutrausches. Das Entsetzen im Gesicht seines Opfers und der stumme Schrei der Frau. Und als er ihr Blut in seinem Mund schmeckte, wurde Faolán bewusst, wen er in seinem Traum gerissen hatte: Svea!

Mit überwältigender Wucht kehrte der echte Geschmack in seinem Mund zurück. Übelkeit übermannte ihn, als wäre es Sveas Blut. Faolán würgte tonlos, doch sein Magen besaß nichts, was er hätte ausspucken können. Blutroter Speichel tropfte auf die feuchten Planken.

Die Übelkeit ließ nach. Faolán holte tief Luft. Er hatte Sveas Tod gesehen. Nein, korrigierte er sich in Gedanken. Du hast ihn gebracht. Ihn durchlebt. Mit tiefstem Hass und Freude zugleich hast du ihre Kehle zerrissen.

Faolán versuchte, diesen Irrsinn aus seinem Schädel zu verbannen, und schüttelte den Kopf. Sofort bereute er die Arglosigkeit. Unzählige Nadeln fuhren in seinen Schädel und rissen ihn entzwei. Doch nicht einmal der Schmerz schaffte es, die Traumbilder zu verdrängen!

Beharrlich blieben sie in seiner Erinnerung. Faolán hatte die Gestalt eines Wolfes angenommen und hatte als Bestie nur ein Ziel gehabt: töten! Diese Gefühle der Macht, der Stärke und des Blutrausches waren erschreckende, zugleich aber auch unbeschreiblich befreiende Erfahrungen gewesen. In seinem Traum hatte Faolán als ein anderes Wesen die Welt anders erlebt.

Freier. Weiter. Schärfer.

Er konnte hinter die Schatten der Sterne blicken und mit seiner Schnauze die exotischsten Düfte des fernen Orients riechen. Er war mit seinen Pfoten über den Waldboden geflogen, überwand mit einem Satz ganze Berge, stieg regelrecht zu seinem Ziel auf – bis es keinen Boden mehr unter ihm gab. Bis Blut tropfte.

Sveas Blut! Es tropfte auf seine Pfoten und auf unberührten Schnee. Doch es schmolz den Schnee nicht. Stattdessen sammelte es sich auf der eisigen Oberfläche zu einer Lache, bis das Rot alles ausfüllte, was Faolán sah, roch und spürte! Als wollte es ihn daran erinnern, was er tatsächlich war. Er brachte den Tod.

Nein! Er war der Tod!

Faolán riss die Augen auf. Die Traumbilder wurden von der Flutwelle der Realität hinweggespült. All seine Sinne weiteten sich. Lärmendes Wasser, Rufe von Menschen und Wind drängten von allen Seiten auf ihn ein. Er lag auf nassen Holzplanken, die seine geschwollene Wange kühlten. Gestank von Schweiß und Urin hing in der Luft. Faoláns Magen rebellierte erneut. Mit Anstrengung drehte er sich auf den Rücken. Der Geruch verflog.

Das grelle Sonnenlicht verstärkte die Nadelstiche in seinem Kopf. Er widerstand dem Drang, die Augen wieder zu schließen, und drehte sich auf die andere Seite. Der Schmerz ließ etwas nach. Eine junge Frau lag zusammengerollt neben ihm und sah mit hohlem Blick durch ihn hindurch. Sie reagierte nicht, als Faolán sich räusperte. Eine Seite ihres Gesichts war rot geschwollen. Die Tränenspuren auf ihren schmutzigen Wangen erzählten Faolán genug, um zu ahnen, was geschehen war.

Er schob sich mit dem Rücken ein wenig die Schiffsplanken hinauf. In seiner Nähe lagen mehrere junge Frauen und Männer auf dem Schiffsboden. Sie waren allesamt gefesselt, die meisten auch verletzt. Faolán ließ seinen Blick schweifen, in der Hoffnung, Svea unter ihnen zu entdecken. Dann wäre sie zumindest Drogo entkommen und am Leben. Wenn auch in einer misslichen Lage. Dann wusste er zumindest, dass sein Traum nicht der Wirklichkeit entsprach.

Ein schmales Zelt in der Mitte des Schiffes versperrte Faolán die Sicht. Zwei Ruderbänke weiter lagen mehrere an den Hufen gefesselte Schweine. Käfige mit Federvieh standen daneben. Volle Säcke stapelten sich gut vertäut an mehreren Stellen und versperrten Faolán den Blick über das gesamte Schiff. Dahinter konnten sich weitere Gefangene befinden.

Unweigerlich fiel sein Blick auf die Männer, die ihn aus dem Wasser gezogen und gefesselt hatten. Die Männer, die ihn dem Tod entrissen und ihn dafür in die Hölle auf Erden gesteckt hatten: Die Nordmänner!

Die Barbaren in seiner Nähe saßen auf Truhen an den Riemen, die sie taktgleich durch das Wasser zogen. Weitere hockten auf dem Deck und gingen irgendeiner seemännischen Tätigkeit nach. Einer kümmerte sich um die Tampen des einzigen Segels, das sich an einem hohen Mast in der Mitte des Schiffes blähte. Andere nahmen Reparaturen vor oder ruhten sich vom Rudern aus. Gekleidet waren sie in einfache Tuniken und Leinenhosen, ungewohnt farbenfroh für Faoláns Empfinden. Fast alle waren barfuß. Oft besaßen sie helles Haupthaar und ihre Bärte waren windzerzaust.

Wölfe des Nordens wurden sie genannt. Sie waren groß gewachsen und sahen furchteinflößend aus. Sie waren unterschiedlichen Alters. Den erfahrenen Seeleuten unter ihnen bezeugten ledrige, faltenreiche Gesichter ein ereignisreiches Leben. Die Jünglinge allerdings waren kaum älter als Faolán. Der Flaum in ihren Gesichtern konnte schwerlich Bart genannt werden.

Einer der Burschen, kleiner als die meisten und mit rotblondem, welligem Haar, begab sich zur Bordwand gegenüber von Faolán. Er zog sich die Hosen herunter und setzte sich mit nacktem Hintern über die Reling. Faolán fragte sich, wie er im Ernstfall dieses Kunststück mit gefesselten Händen und Füßen meistern sollte.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie der Jüngling seine Notdurft verrichtete, von der Bordwand sprang, die Hose wieder hochzog und zum Bug zurückging.

Faoláns Blick folgte ihm. Da fiel ihm ein Nordmann auf, der sich von den anderen abhob. Er war von beeindruckender Statur und trug edlere Kleidung als die übrigen Männer. Feine Bordüren schmückten die Säume seiner Tunika und Hose. Er trug lederne Schuhe, die in einer Art Wadenwickel endeten. Über seinen Schultern lag ein pelzbesetzter Mantel, der mit einer goldglänzenden Fibel zusammengehalten wurde. Die Innenseite des Umhangs war mit einem Stoff gefüttert, der im Sonnenlicht wie klares Wasser glitzerte. War dies ein Fürst der Barbaren, wenn sie so etwas überhaupt kannten? Faoláns Mutmaßung wurde bekräftigt, als er unter dem Mantel das Futteral eines Schwertes erkannte. Es war kein einfaches Futteral, sondern kunstvoll verziert. Das erkannte Faolán selbst auf diese Entfernung. Kein anderer der Barbaren trug eine ähnliche Waffe.

Erhobenen Hauptes sah der Fürst sich um. Sein langes, helles Haar wurde von einer pelzbesetzten Mütze geziert und wehte im Fahrtwind wild und ungezügelt. Konzentriert hielt er seinen Blick über den hochgezogenen Bug in die Ferne gerichtet. Dies konnte nur der Anführer sein.

Faolán beobachtete ihn weiter und sah für einen kurzen Moment ein zweites Schwert unter dem Mantel des Anführers hervorblitzen. Das Futteral war ebenfalls kunstfertig verziert. Faolán hielt den Atem an. Diese Verzierungen kamen ihm bekannt vor. Sie sahen aus wie auf … nein, dies war die Waffe des Edelherrn Brandolf!

Faoláns Herz begann schneller zu schlagen. Sofort sah er sich nach allen Seiten um. War es möglich, dass der Edelherr ebenfalls …? So schnell es seine Schmerzen zuließen, schob Faolán sich ein Stück weiter die Bordwand hinauf. Soweit er sehen konnte, lagen etwa ein Dutzend Gefangene im Rumpf des Schiffes verteilt. Wie er waren auch sie an Händen und Füßen gefesselt. Nicht allen Gefangenen konnte Faolán ins Gesicht sehen. Von einigen sah er lediglich die Füße hinter dem Zelt, Säcken oder Körben hervorschauen.

An die Bordwand gelehnt, wartete er geduldig. Hin und wieder wurde ein Gefangener durch einen Fußtritt oder die Bewegungen des Schiffes in eine andere Lage gebracht. Aber wenn Faolán in das Gesicht sehen konnte, war es nie das des Edelherrn.

Unsicher, ob er sich darüber freuen oder fluchen sollte, ließ Brandolfs Schwert bei diesem Nordmann nur zwei Möglichkeiten offen. Entweder war Brandolf gefangen genommen oder getötet worden. Mit jedem weiteren Gesicht, das sich Faolán zuwandte, schwand seine Zuversicht, dass die erste Möglichkeit zutraf.

Faoláns Blick folgte dem Kapitän. Auf Höhe des Zeltes stolperte der Hüne über ein Paar gefesselter Stiefel. Mit einem Fluch, der bei seinen Landsleuten Gelächter hervorrief, packte er die schlaffen Beine und zog sie aus dem Weg. Sie gehörten einem Mann, der eine Lederrüstung trug. Einer der Seeleute trat dem Gefangenen in die Seite, damit er Platz machte. Stöhnend und hustend wand sich der Gefesselte.

Faolán sah in ein blutverkrustetes Gesicht. Lange, dunkle Strähnen hingen über Stirn und Augen. Ihm blieb beinahe das Herz stehen. Es war der Edelherr Brandolf!

Erfreut und besorgt zugleich hoffte Faolán, der Ritter möge ihn ebenfalls sehen. Doch nichts dergleichen geschah. Brandolf lag da wie ein geprügelter Hund, zusammengerollt und mit geschlossenen Augen.

Faolán musste zu ihm! Doch wie sollte er das bewerkstelligen? Zwischen ihnen lag eine Handvoll Gefangener, an die rudernden Nordmänner wollte er erst gar nicht denken. Der einzige Weg führte direkt zwischen ihnen hindurch. Faolán schluckte.

Für einen Moment schloss er die Augen und versuchte, die Kopfschmerzen auszublenden. Es half nichts. Eine Stimme in ihm flüsterte, sich nicht zu regen. Unauffällig liegen zu bleiben wäre gefahrloser. Nur so könne er überleben. Und das war das Einzige, was in seiner Lage zählte. Eine andere Stimme aber war lauter. Steh auf und beweg dich, schrie sie förmlich in seinem Kopf und übertönte seine Schmerzen. Wenn du jetzt liegen bleibst, wirst du auch das nächste Mal liegen bleiben und Svea nie finden!

Svea!

Zum Teufel mit seiner Vorsicht! Faolán schob sich wankend auf die Füße. Er holte tief Luft, sprach in Gedanken ein Stoßgebet, und tippelte los. Kaum war er einen Schritt gegangen, hatte er die Aufmerksamkeit der Nordmänner gewonnen. Einer schrie ihn an und gestikulierte wild, er solle sich wieder hinlegen. Furcht krallte sich um Faoláns Herz und seine Knie wurden weich. Am liebsten hätte er sich fallen gelassen, wäre damit jedem Ärger aus dem Weg gegangen. Doch dann beschleunigte er seine kleinen Schritte.

Die Nordleute machten sich lustig über ihn. Einige lachten, andere riefen ihm etwas zu. Pfiffe begleiteten Faolán, als feuerten einige Barbaren ihn an. Sollten sie doch ihren Spaß haben. Wahrscheinlich wetteten diese Wilden darauf, wie weit er es schaffte. Faolán hielt seinen Blick starr auf die Planken gerichtet und watschelte unbeirrt weiter, bis ein Paar schmutziger Füße ihm den Weg versperrte.

Früher als erhofft. Viel zu früh! Es waren nicht Brandolfs Stiefel!

Keuchend sah Faolán auf. Vor ihm stand ein gedrungener Nordmann. Er lächelte Faolán mitleidig an und seine Worte klangen, als spräche er zu einem Kind. Gelächter dröhnte in Faoláns Ohren wie Posaunen des Untergangs. Ihm wurde schwindelig.

Bevor die Faust Faolán niederstrecken konnte, fiel er von selbst wie ein Sack zu Boden und blieb zwischen zwei Gefangenen liegen. Der gedrungene Seemann runzelte verärgert die Stirn. Faolán hatte ihn um seinen Spaß beraubt. Halbherzig verpasste er Faolán einen Tritt in die Seite und spuckte über ihm aus. Dann ging auf seinen Platz zurück. Das Lachen der Männer verebbte und jeder widmete sich wieder seiner Arbeit, ohne Faolán weiter zu beachten.

Eine Weile blieb er einfach nur liegen. Sein Schädel fühlte sich an, als sei er als Amboss missbraucht worden. Das Hämmern wollte kein Ende nehmen und drohte, ihm das Bewusstsein zu rauben. Doch er kämpfte dagegen an. Jetzt war nicht die Zeit, das schmerzlose Nichts willkommen zu heißen.

Es dauerte eine Weile, bis der Schmerz nachließ. Faolán wusste nicht, ob er nicht doch für kurze Zeit eingeschlafen war. Er öffnete die Augen. Die Sonne stand tief am Himmel und tauchte das Barbarenboot in ein unwirkliches, freundliches Licht. Neben Faolán aber herrschte die grausame Wirklichkeit. Ein Bursche lag da, zusammengerollt wie ein Kleinkind. Eine Hand war mit alten, blutigen Bandagen verbunden, wo vor wenigen Tagen noch zwei Finger gewesen sein mussten. Die Wunde stank selbst durch das Leinen.

Faolán konnte nichts für den Burschen tun. Er drehte sich auf die andere Seite – und starrte in Brandolfs Gesicht. Er benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er sein Ziel doch erreicht hatte. Als er endlich wieder Worte fand, krächzte er heiser: »Mein Herr … wie geht es Euch?«

Eine dämlichere Frage hätte er nicht stellen können, schalt Faolán sich im Stillen. Der Zustand des Edelherrn war offensichtlich. Schlimmer als Faoláns, wie es aussah. Doch die Worte zeigten Wirkung: Brandolfs Augenlider flatterten auf. Er benötige einen Moment, hob leicht den Kopf und schließlich zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen.

»Faolán …? Dem Herrn sei Dank.« Mit großer Erleichterung atmete Brandolf aus und ließ seinen Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf die Planken sinken.

»Was ist geschehen?«, flüsterte Faolán. »Ihr seid übel zugerichtet worden.«

»Mir … mir geht es gut, Junge«, keuchte der Ritter. »Wie … wie steht es um dich? Du siehst aus, als hättest du dich mit … mit den Nordmännern angelegt.«

»Sie hatten zumindest schlagkräftige Argumente, mich zu dieser Fahrt zu überreden«, antwortete Faolán spitzzüngig. Brandolfs gequältes, gurgelndes Lachen mündete in einen Hustenanfall.

»Ich kenne ihre Argumente, mein Junge … ich kenne sie … Das muss man ihnen lassen … Auf diese Weise können sie sehr überzeugend sein.«

»Mein Herr, wisst Ihr, wo Svea ist? Ich kann sie nirgendwo entdecken.«

Brandolf schüttelte den Kopf. »Ich habe sie aus den Augen verloren … als ich dich … aus dem Wasser ziehen wollte. Ihre Schreie … doch da war ich schon bei den Nordmännern. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Faoláns Magen drehte sich um.

»Mein Herr, was ist geschehen, nachdem ich …?«

»Nachdem du dich wie ein … verfluchter Narr verhalten hast? Dass du dich von diesem Drogo hast provozieren lassen … war das Dümmste überhaupt!«, schalt Brandolf ihn und strafte Faolán mit einem finsteren Blick. »Was auch immer du Drogo an den Kopf werfen wolltest … du kamst nicht mehr dazu … Du bist aus dem Sattel gerutscht. Svea und ich … wir haben versucht, dich zu packen … doch der Fluss riss dich fort. Dann tauchten die Schiffe aus dem Nebel auf. Als ich sah, wie die Barbaren … dich aus dem Wasser zogen, griff ich nach … dem erstbesten Riemen, den ich zu fassen bekam.« Brandolf machte eine Pause. »Ich zog mich an Bord dieses Schiffes, um dich zu retten … sonst hätte alles keinen Sinn gehabt … und mein Eid wäre …«

»Alles meinetwegen …?« Faolán versagte die Sprache. Brandolf hatte alles aufs Spiel gesetzt, um ihn zu retten! Seine Freiheit, seine Familie, sein Leben. »Ihr könntet heute noch ein freier Mann sein, wäre ich nicht so töricht gewesen.«

Brandolf ignorierte Faoláns Einsicht und zog eine eigene Bilanz. »Ich hatte nicht die geringste Aussicht auf Erfolg gegen … diese Übermacht. Ich war also … nicht minder töricht«, murmelte der Edelherr. Mit qualvollem Gesichtsausdruck brachte er sich in eine bequemere Position. »Ich glaube, ich habe nur einen von ihnen niedergerungen. Dann traf mich ein Schlag von hinten. Eine Sekunde später fielen sie über mich her.« Brandolf sah an sich herab und bemerkte das fehlende Futteral. »Natürlich haben sie mir alles genommen. Dass ich meine Stiefel noch trage …« Plötzlich sah er sich nach allen Seiten um, so schnell es ihm sein Zustand erlaubte. »Hast du… hast du das lederne Bündel gesehen, das ich bei mir trug?«

»Welches Bündel, Herr?«

»Es war ein ledernes Bündel … ich trug es auf meinem Rücken … mit einem Riemen verschnürt. Erinnerst du dich nicht? Abt Degenar hat es mir anvertraut …«

Jetzt erinnerte Faolán sich. Der Abt hatte es wie eine Reliquie behandelt. Etwas Wichtiges musste sich darin befunden haben, denn auch Brandolf schien es heilig zu sein. Aber Faolán konnte dem Edelherrn nicht helfen. »Ich habe es nicht gesehen, mein Herr. Was befand sich darin?«

Brandolf hob den Kopf und ließ seinen Blick schweifen. Schließlich sank er erschöpft auf die Planken zurück. Diesmal von Faolán abgewandt, als wollte er dessen fragendem Blick ausweichen.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Faolán verfiel ins Grübeln. Brandolf verschwieg ihm etwas, das über das Bündel hinausging. Aus welchem Grund war der Edelherr ihm auf das Schiff gefolgt, wenn die Aussicht auf Erfolg so gering war? Töricht, wie er es selbst nannte, war er sicherlich nicht aus reiner Nächstenliebe gewesen. Zudem war Brandolf nicht zum ersten Mal ein großes Wagnis wegen Faolán eingegangen. Im vergangenen Winter hatte er den Gesandten des Grafen Rurik angelogen. Das konnte weittragende Konsequenzen haben. Faolán begriff nicht, weshalb ein Adliger immer wieder sein Leben für ihn riskierte. Für ihn, einen einfachen Novizen!

Die Antworten auf seine Fragen blieben aus und bald drängten sich die Sorgen um Svea wieder in den Vordergrund. Sie war nicht auf diesem Schiff, so viel hatte er in Erfahrung gebracht. In Gedanken ging Faolán noch einmal Brandolfs Schilderung der Unheilsnacht durch. Svea hatte versucht, ihn zu packen. Und dann … Die Worte des Edelherrn kamen ihm wieder in den Sinn: Dann tauchten die Schiffe aus dem Nebel auf. Schiffe! Plural! War es möglich, dass Svea sich in einem anderen Langschiff befand? Hoffnung keimte in Faolán auf, und er streckte den Hals, um über das oberste Bordbrett zu schauen.

Kaum rührte er sich, näherte sich der stämmige Nordmann mit wütenden Rufen, der sich ihm zuvor schon in den Weg gestellt hatte.

»Willst du noch einmal Prügel beziehen?«, zischte Brandolf, der regungslos liegen blieb. »Leg dich sofort wieder hin!«

Faolán ignorierte sowohl Drohung wie auch Anordnung. Er wollte Gewissheit, auch wenn er dafür Prügel beziehen müsste. Der Stämmige würde jeden Augenblick bei ihm sein. Noch einmal streckte Faolán sich und versuchte, hinter das Heck zu sehen. Stattdessen sah er aus den Augenwinkeln den Burschen, der vorhin seine Notdurft verrichtet hatte. Eine Idee schoss Faolán durch den Kopf. So gut es seine gefesselten Hände erlaubten, begann er seine Hosen herunterzuziehen und sich hinzuhocken.

Der untersetzte Nordmann stockte kurz, zog die Stirn in Falten, kam dann aber weiter auf Faolán zu, noch immer laut auf ihn einredend. Doch statt seinen Gefangenen mit einem Hieb auf die Planken zu schicken, zog er Faolán empor. Der Nordmann band ihm ein langes Tau um den Bauch, das andere Ende befestigte er am Querbalken eines Spanten. Dann löste er die Handfesseln des Jünglings und gestikulierte zur Bordwand.

Das war es, was Faolán erreichen wollte: Die Erlaubnis, seine Notdurft verrichten zu dürfen. Er rieb sich die wunden Handgelenke, wo die Fesseln eingeschnitten hatten, dann zog er sich auf die breite Kante, die sich bedrohlich im Takt des Flusses hob und senkte. Mit Mühe hielt er das Gleichgewicht und täuschte vor, sich zu erleichtern.

Von dieser Position aus hatte Faolán einen besseren Überblick über das Schiff. Es war länger als gedacht. Hin und wieder spritzte Wasser zu Faoláns nacktem Hintern hinauf, sodass er erschrocken zusammenzuckte. Der gedrungene Nordmann lachte laut, als er sah, wie sich der Gefangene bei etwas so Alltäglichem anstellte. Faolán sollte es recht sein. Je lauter der Barbar lachte, umso besser war seine Täuschung.

Rasch sah Faolán den Fluss hinauf. Hinter dem Heck kamen sie schließlich zum Vorschein: zunächst eines, dann ein zweites der gefürchteten, schlanken Langschiffe. Faoláns Herz schlug schneller. Aufgeregt suchte er auf den anderen Booten nach Sveas Rotschopf. Außer den Silhouetten einiger Nordmänner konnte er jedoch nichts erkennen. Sicher würden Ladung und Gefangene auch in diesen Schiffen im Bug liegen. Faolán müsste schon tiefer in das Schiff blicken können …

Vorsichtig löste Faolán seinen Griff und reckte sich. Er stand mehr, als dass er saß. Vergebens. Die Schiffe waren zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Ernüchtert sprang er von der Bordkante und zog die Hosen wieder hoch. Kaum war er damit fertig, fesselte der stämmige Nordmann ihm wieder die Hände und löste das Seil um seinen Bauch. Zum Dank für die zusätzliche Mühe, erhielt Faolán einen Schlag in die Magengrube.

Faolán sackte auf die Planken und krümmte sich vor Schmerz. Hustend rang er nach Atem. Als die Krämpfe nachließen und er sich wieder bewegen konnte, lehnte er sich keuchend gegen die Bordwand. Sein Blick fiel auf Brandolf, der neben ihm lag.

Der Edelherr rührte sich nicht. Faolán wusste nicht, ob er nur vorgab, nichts mitzubekommen. Wahrscheinlich war das klüger, als sich nach anderen Gefangenen umzusehen, begriff Faolán.

Dennoch sah er sich wieder zum Heck um, in der Hoffnung, die anderen Schiffe noch einmal zu sehen. Auch wenn er wusste, dass er nicht mehr als zuvor entdecken würde, musste er einfach in die Richtung sehen, wo er Svea erhoffte. Stattdessen blickte er in die eisblauen Augen des Nordmann-Kapitäns.

Sieh weg!, schrie eine Stimme in Faoláns Kopf und er wusste, dass es klüger wäre, diesem Rat zu folgen. Doch die Augen des Anführers zogen ihn an, als wollten sie ihm etwas sagen. Als fände Faolán in ihnen die Antwort auf ein Geheimnis, von dessen Existenz er nicht einmal wusste.

Plötzlich verfinsterte sich das Gesicht des Nordmanns. Verflucht! Mit großen Schritten stieg der Hüne über alle Hindernisse hinweg und baute sich vor Faolán auf. Er packte ihn am Kinn und drehte Faoláns Kopf zur Seite. Zornig betrachtete er das Wundmal auf der Wange, das Faolán vor Jahren durch einen Rattenbiss erhalten hatte. Er wehrte sich nicht. Er unterdrückte das Schamgefühl, das ihn jedes Mal überkam, wenn jemand seine Narbe anstarrte. Was wollte dieser Barbar von ihm? Würde er ihn jetzt über Bord werfen?

Zwei Worte raunte der Nordmann ihm zu, als wären es die Antworten auf seine Fragen. Zwei Worte, die Faolán nicht verstand. Und doch klangen sie merkwürdig vertraut. Als verstünde er ihre Bedeutung, die er nur nicht greifen konnte. Furcht stieg in ihm auf. Er versuchte, sich aus dem Griff zu winden, doch der Nordmann hielt ihn so lange fest, bis es ihm gefiel, ihn loszulassen. Ohne einen weiteren Blick oder ein Wort ließ er Faolán liegen und ging zum Bug zurück.

»Was hattest du vor, dort oben auf der Bordkante? Nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau halten?«, raunte Brandolf.

»Ich wollte sehen, ob Svea sich in einem der anderen Schiffe –«

»Du wagst zu viel!«, unterbrach ihn Brandolf. Seine Stimme klang jetzt mehr wie das Knurren eines gefährlichen Hundes. »Sei froh, dass du dafür nur einen Hieb abbekommen hast. Kurzen Prozess hätte der Anführer eben mit dir machen können, nur weil du dich nicht im Griff hast.«

»Verzeiht, ich wollte –«

»Halte dich in Zukunft bedeckt! Lerne, dich zu beherrschen! Dann muss dir auch niemand etwas verzeihen – oder dich beerdigen.«

Faolán schluckte seine Entschuldigung hinunter. Was würde der Edelherr an seiner Stelle tun, wenn er seine Gemahlin auf einem der anderen Schiffe vermutete? Seelenruhig warten bis zum Sklavenmarkt, in der Hoffnung, sie dort wiederzusehen?

»Ich frage mich …?«, begann Brandolf nach einer Weile und seine Stimme klang wieder normal. »Hast du eine Ahnung, weshalb der Anführer an deiner Narbe interessiert war?«

»Nein, Herr«, murmelte Faolán, der keine Lust hatte, sich über sein Wundmal zu unterhalten. Der Impuls, es mit einer Hand zu verdecken, war groß. Aber die verfluchten Fesseln hielten beide Hände fest hinter seinem Rücken. Unweigerlich musste er an die Umstände denken, weshalb der Rattenbiss sich zu dieser Narbe entwickelt hatte. Es war Drogos Spezialbehandlung der Wunde mit einer Auflage aus Schweinedung gewesen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die Verletzung entzündet. Von ihr ging ein Fieber aus, das lange in Faolán brannte. Wäre Bruder Wunhold nicht gewesen, hätte er daran sterben können.

Die Erinnerung verdüsterte sein Gemüt. Das passte doch zu seinen Zukunftsaussichten, dachte Faolán sich. »Was werden sie mit uns vorhaben?«

»Die Nordmänner?«, fragte Brandolf, obwohl auf der Hand lag, was Faolán meinte. »Sie rauben Menschen, um sie als Sklaven zu verkaufen! Ich denke, genau so werden wir früher oder später enden.«

Das war keine Neuigkeit. Faolán hatte aber gehofft, der Edelherr sähe noch eine andere Möglichkeit für sie. Vielleicht eine Lösegeldforderung, zumindest für ihn, einen Adeligen. Aber vielleicht war auch ein Edelherr zu unbedeutend, um eine Lösegeldforderung zu stellen. Faolán verlor das letzte Körnchen Hoffnung und sackte in sich zusammen. Er wandte sich von Brandolf ab und schloss die Augen. Er wollte nichts und niemanden mehr sehen. Sie befanden sich in einer ausweglosen Lage. Von Svea fehlte jede Spur. Seine Freunde hatte er verloren. Nach all den Wagnissen und Anstrengungen der vergangenen Jahre war das ein niederschmetterndes Resultat!

Wozu hatte er all die Strapazen auf sich genommen? Die Flucht aus dem Columbankloster, das vergiftete Brot und den harten Winter überlebt? Der einzige Grund war, Svea wiederzusehen, und nicht, um erneut in Schwierigkeiten zu geraten. War nicht die Liebe das reinste Gefühl, das Gott den Menschen gab? Weshalb sollte Faoláns Gottvertrauen derart enttäuscht werden, dass alles, was er dafür tat, zum Scheitern verurteilt war?

Konnte Faolán nichts weiter als Unheil heraufbeschwören? Nicht nur für sich, sondern auch für diejenigen, die ihm halfen? Brandolf saß seinetwegen geschlagen und gefangen neben ihm. Vielleicht war Svea sogar tot! Tot wie Alveradis und Brandolfs Ritter. Und weshalb? Nur weil er töricht und unüberlegt gehandelt hatte. Wo war er vom Weg abgekommen?

»Wir fahren flussabwärts, Richtung Norden«, nur leise drang Brandolfs Stimme in Faoláns Bewusstsein. »Ich vermute, die Barbaren hatten ein Winterlager im Kaiserreich, sonst befänden sie sich um diese Jahreszeit nicht so tief im Landesinneren. Wahrscheinlich fahren sie zurück in ihre Heimat. Sei wachsam und beobachte, aber provoziere die Nordmänner nicht wieder. Vielleicht können wir aus ihrem Handeln weitere Schlüsse ziehen.«

Faolán erwiderte nichts. Was könnte es schon ändern, wenn er die Nordmänner beobachtete? Sollte doch der Edelherr seine Augen offen halten. Das Wanken des Schiffes umhüllte Faolán mit willkommener Müdigkeit, die ihm hoffentlich mit einem traumlosen Schlaf auch Vergessen bringen würde.

* * *

Knirschen und Erschütterungen des Schiffsrumpfes rissen Faolán aus dem Schlaf. Das Schiff war auf Grund gelaufen! Jeden Augenblick würden die Planken bersten und Wasser einbrechen. Faolán wollte aufstehen, hatte jedoch die Fesseln vergessen und fiel geradewegs zurück auf das Deck. Wie sollte er schwimmen …?

Panisch sah er sich um, doch kein Wasser schoss in den Schiffsrumpf. Nichts zerbrach oder splitterte. Faolán spähte über die Bordwand. Das Schiff lag regungslos auf einem Kiesstrand.

Das gleiche knirschende Geräusch war zwei weitere Male zu hören, als die beiden anderen Langschiffe mit ihren flachen Rümpfen rechts und links neben dem ersten Schiff auf Grund liefen. Dies war eine gewollte Landung, begriff Faolán. Die Bestätigung sah er in den Gesichtern der Barbaren. Sie strahlten Anspannung aber auch Begierde aus.

Die ersten Krieger sprangen von Bord und sicherten die Schiffe mit Tauen am Ufer. Der Rest der Mannschaft bewaffnete sich mit Streitäxten, Sax oder Speeren. Rüstungen trugen die wenigsten, allenfalls eine einfache Eisenhaube, lederne Armschienen oder einen Rundschild. In Faoláns Augen waren sie schlecht gerüstet, verglichen mit den Rittern, die er von Brandolfs Burg kannte. Dennoch wirkten die Nordmänner durch ihre wilde, fremde Erscheinung wesentlich furchteinflößender auf ihn. Einige schmierten sich schwarze Streifen mit einem Stück Holzkohle ins Gesicht. Wie Knechte des Leibhaftigen sahen sie aus, wenn sie es nicht ohnehin waren.

Die Horde sammelte sich am nahen Waldrand und wartete auf den Befehl. Da wurde Faolán an den Fußgelenken gepackt. Erschrocken fuhr er herum. Es war der Bursche, den Faolán bei der Verrichtung seiner Notdurft beobachtet hatte. Der Junge lockerte die Fußfesseln, sodass Faolán kleine Schritte machen konnte. Danach löste er die Handfesseln. Faoláns Schultern schmerzten, als er seine Arme nach vorne nahm. Ein wohltuender Schmerz, wie er feststellte.

Der Bursche ging zu den übrigen Gefangenen und löste auch ihnen die Fesseln. Als Brandolfs Hände befreit waren, setzte der Edelherr sich langsam auf, als müsste auch er sich erst noch an die Bewegungsfreiheit gewöhnen. Er tastete einige seiner Verletzungen ab, sah dann Faolán durchdringend an, sagte aber kein Wort. Dennoch wusste Faolán, was der Edelherr damit zum Ausdruck bringen wollte: Mach keine Dummheiten!

Die anfängliche Freude über die Bewegungsfreiheit währte nur kurz. Ein Nordmann ging durch die Reihen und zog die Gefangenen rücksichtslos hoch, wenn sie sich nicht schon aufgrund seiner bloßen Erscheinung aufrafften. Der Barbar trieb sie zum Bug des Schiffes, wo die ersten Gefangenen auf den Strand sprangen.

Faolán ließ seinen Blick über die Abendszene an diesem sonst so friedlichen Strand gleiten. Doch er sah nicht, was er zu sehen erhoffte. Svea war nicht unter den Gefangenen der anderen Schiffe, die ebenfalls auf den Strand getrieben wurden.

Ein Stoß schickte ihn auf das kiesige Ufer hinunter. Faolán fing sich ab, raffte sich auf und sah sich erneut um. Vielleicht befand Svea sich hinter einem der Schiffsrümpfe oder war noch an Bord.

Erneut stieß ihn ein Nordmann stumm vorwärts. Überhaupt ging alles sehr leise vonstatten. Wahrscheinlich gehörte das Schweigen zu den Vorbereitungen des bevorstehenden Überfalls, dachte Faolán sich. Mit kleinen Schritten stolperte er über den Kiesstrand. Die Gefangenen aller Schiffe wurden zusammengetrieben. Ein Dutzend Nordmänner wurde zu ihrer Bewachung abgestellt. Unter den Wächtern befand sich ein auffällig kleiner, schmächtiger Mann, der als einer der wenigen keinen Bart trug. Mit verzogener Miene beobachtete er seine Landsleute, die nacheinander im Wald verschwanden. Dann wandte er sich an den nächststehenden Gefangenen und trat ihm in die Kniekehlen, sodass dieser stöhnend zu Boden ging.

Bedrohliche Ruhe kehrte am Ufer ein und nur noch das Rascheln der letzten Gefangenen, die über den Kies tippelten, war zu hören. Das Dutzend Wachleute hatte alles im Blick. Den Waldrand, den Fluss, ihre Gefangenen und ihre Schiffe mit der Beute.

Faoláns Blick war auf die letzten Gefangenen gerichtet, die von Bord des dritten Schiffes gingen. Angespannt ließ er sich neben Brandolf nieder. Plötzlich stand sein Herz für einen Moment still. Hinter dem hochgezogenen Bug tauchte ein Rotschopf auf. Faolán schloss die Augen und murmelte ein Stoßgebet. Als er sie wieder öffnete, sprang eine junge Frau auf das Ufer.

Svea!

Faolán sog Luft in seine Lungen, als atme er zum ersten Mal. Doch bevor er ihren Namen rufen konnte, packte Brandolf ihn am Arm. »Lass dir nicht anmerken, dass du ihr nahe stehst«, flüsterte er. »Es sei denn, du willst sie ein weiteres Mal in Gefahr bringen.«

Faolán schluckte den Namen seiner Liebsten hinunter. Mit rasendem Herzen beobachtete er, wie ein Nordmann Svea am Handgelenk packte und grob zu den übrigen Gefangenen zerrte. Am liebsten wäre Faolán aufgesprungen und hätte Svea aus diesem Griff befreit, doch zum Glück hielt Brandolf ihn nach wie vor am Arm fest.

Der Nordmann stieß Svea bei den anderen Gefangenen auf den Kies und nahm einen Posten in der Kette der Wachmänner ein. Misstrauisch beobachtete Faolán ihn. Er war sich nicht sicher, aber eben hätte er noch schwören können, dass der Barbar Svea lüstern angesehen hatte. Besorgt sah er wieder zu Svea. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber es schien ihr gut zu gehen. Sie hatte keine sichtbaren Verletzungen.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Kopf hob und sich umsah. Dann endlich trafen sich ihre Blicke. Svea erstarrte. Ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen. Im fahlen Licht der aufkommenden Dämmerung glaubte Faolán, das feuchte Schimmern aufkommender Tränen in ihren Augen zu erkennen. Aller Vernunft und Brandolfs Warnungen zum Trotz, war er im Begriff, aufzustehen. Er wollte sie in die Arme schließen, sie halten und küssen. Sie von diesem grausamen Barbaren fortbringen.

Offenbar bemerkte Brandolf unter seinem Griff, dass sich Faoláns Muskeln anspannten. »Wehe, du rührst dich jetzt!«, drohte der Edelherr ihm zischend. »Wenn du aufstehst, bringe ich dich eigenhändig zu Fall!«

»Aber Svea ist nur wenige Schritte entfernt. Ich könnte doch –«

»Ebenso gut in ein offenes Messer laufen! Genau das wäre es. Dein Todesurteil!« Brandolf festigte den Griff um Faoláns Arm. »Noch ist nicht der richtige Augenblick gekommen. Aber ich halte danach Ausschau. Wenn er kommt, lass ich es euch rechtzeitig wissen. Bis dahin aber musst du Geduld beweisen.«

»Geduld?«, zischte Faolán. »Ich weiß nicht einmal, ob ich je wieder in ihre Nähe kommen, geschweige denn sie berühren werde.«

»Um das zu erreichen, brauchst du Geduld«, flüsterte Brandolf sehr bestimmt. »Jetzt wäre ein Versuch zum Scheitern verurteilt. Also beherrsche dich und beweise endlich Geduld, oder reite euch beide ins Verderben. Komm zur Vernunft!«

Enttäuschung breitete sich in Faolán aus. Sein Verlangen schrie nach Svea. Seine Muskeln waren noch immer angespannt, wie vor einem Sprung. Doch er blieb an Ort und Stelle sitzen. Er musste sich beherrschen. Knapp nickte er Svea zu, dann senkte er sein Haupt, um die Versuchung nicht ständig ansehen zu müssen. Dass Svea am Leben war, musste ihm für den Augenblick genügen.

Während Faoláns Gedanken um Svea kreisten, tastete Brandolf im Kies herum. Schließlich ließ er einen flachen, scharfkantigen Kiesel in seiner Faust verschwinden. Er suchte weiter, stieß dann Faolán an und reichte ihm einen ähnlichen Stein. Wortlos zeigte er dem Burschen, wie er damit den Strick zwischen seinen Knöcheln bearbeiten sollte. Faolán sah zuerst den Stein und dann die wachsamen Nordmänner an.

»Ich dachte, ich solle vorsichtig sein und Geduld beweisen. Ich dachte, der richtige Augenblick sei noch nicht gekommen!«, zischte er. »Wie sollen wir den Kreis Bewaffneter durchbrechen und bei Dämmerung durch einen dichten Wald fliehen? Ich werde Svea nicht zurückzulassen! Oder kannst du auch ihre Fußfesseln durchtrennen?«

Als Brandolf nicht antwortete, ließ Faolán den Kiesel fallen.

Brandolf hielt in seiner Bewegung inne und blickte ihn entschlossen an, als wolle er ihn stumm auffordern, weiterzumachen. Doch Faolán weigerte sich. Das hatte keinen Sinn. Wenn nur er und Brandolf fliehen würden, wie sollten sie dann jemals Svea befreien? Nein, Faolán musste bei ihr bleiben. Und wenn das die Gefangenschaft bedeutete, dann war es eben so.

Brandolf selbst ließ sich davon nicht abbringen und fuhr fort, die Fesseln zu bearbeiten. Der Erfolg war zweifelhaft. Bis jetzt hatte er kaum eine Faser durchtrennt.

Die Dunkelheit hatte beinahe das gesamte Firmament eingenommen, als der Schein eines großen Feuers die Silhouette des Waldes wie eine unheilbringende Aura umspielte. Rauchschwaden stiegen auf und markierten das Werk der Nordmänner. Brandolf murmelte etwas von Unschuldigen und Wehrlosen und widmete sich noch grimmiger seinen Fußfesseln. Als er jedoch sah, dass er kaum Fortschritte machte, ließ auch er entmutigt seinen Stein fallen.

Nicht lange, und die Barbarenkrieger kehrten zurück. Diesmal polterten sie durch den Wald. Mit lauten Rufen, Gelächter und Gesang traten sie aus dem Unterholz auf den Strand. Dem Singen und Lachen folgten verzweifelte Schreie einiger Frauen, die sie mit sich zerrten. Die Wachmänner blickten erwartungsvoll auf die Rückkehrer und die neue Beute.

Brandolf fluchte leise. »Jetzt wäre eine perfekte Gelegenheit zur Flucht! Verdammte Fesseln!«

Am Ufer wurde es lebhafter. Mehr und mehr Nordmänner kehrten zurück. Bei einigen hatte der Überfall deutliche Spuren hinterlassen. Ruß und Blut zeichneten ihre Gesichter, Arme und Kleidung.

Sicherlich das Blut ihrer Opfer, dachte Faolán und ihm fuhr es dabei eiskalt über den Rücken. Wie viele Männer, Frauen und Kinder hatten an diesem Abend ihr Leben lassen müssen? Möge Gott ihnen gnädig sein. Faolán schielte zu den neuen Gefangenen hinüber, die aus dem Wald gezerrt wurden. Es waren einfache Leute. Bauern und Handwerker, wie sie in jedem Dorf lebten. Arme, wehrlose Menschen.

Die neuen Gefangenen, etwa zwei Handvoll junge Männer und Frauen, wurden an ein Seil gebunden und zum Sammelplatz geführt. Sie sahen allesamt gesund und kräftig aus. Die Frauen waren beinahe noch Mädchen, die unaufhörlich vor sich hin schluchzten.

Menschen waren nicht die einzige Beute. Die Rückkehrer mühten sich mit ein paar Ziegen und Schweinen durch das Unterholz, die größeren Widerstand leisteten als die Gefangenen. Die letzten Männer verließen den Wald. Sie trugen ein paar Säcke voll Hühner und einen mit allerlei Glanzstücken und Wertsachen gefüllten Trog mit sich. Die Wölfe des Nordens scharten sich gaffend um den Trog und kümmerten sich nicht weiter um ihre Gefangenen.

Waren es auch Wölfe des Nordens gewesen, die in Faoláns Traum Svea ermordet hatten? Panisch sah er zu ihr hinüber. Sie saß da und starrte die Gefangenen an. Faolán wusste, was in ihr vorging. Er flehte sie in Gedanken an, sitzen zu bleiben und einfach die Wölfe an sich vorüberziehen zu lassen. Doch neben ihr saß kein Brandolf, der sie festhielt.

Wenn sie tat, was Faolán befürchtete, würde sie diesen Wölfen ihre Kehle präsentieren. Er schloss die Augen und betete.

Die Eiswolf-Saga. Teil 3: Wolfsbrüder

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