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Dritter Samstag

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"Globus & Karte" hielt, was der Werbespruch auf dem Schaufenster versprach: Wohin Sie wollen - wir zeigen Ihnen den Weg.

"Ortlkopf - natürlich, einen Moment." Der weißhaarige Verkäufer bewegte sich ungeheuer gemessen, aber die Auswahl an Karten und Messtischblättern, die er präsentierte, war beeindruckend. Kramer wollte ihn zum Schluss nicht enttäuschen und erstand neben einer Panorama-Karte ein Messtischblatt, auf dem in allen Einzelheiten die fünf Gehöfte verzeichnet waren, die er vom Ortlkopf aus betrachtet und fotografiert hatte.

Gegen Mittag klopfte es zaghaft an seine Bürotür, und verwundert öffnete er. Eigentlich stand groß und deutlich auf dem Schild, dass die Privatdetektei Rolf Kramer am Samstag nicht geöffnet hatte...

"Guten Tag, Sie sind Herr Kramer, nicht wahr?"

"Ja. Guten Tag." Der Mann war groß und dünn, zu mager für seine Länge, und das melancholische Lächeln, mit dem er sich für seine Existenz zu entschuldigen schien, passte zu seinem etwas erbärmlichen Aussehen.

"Mein Name ist Marx. Kann ich Sie bitte einen Moment sprechen?"

"Ja, bitte", willigte Kramer unwirsch ein.

Marx setzte sich vorsichtig in den Besuchersessel und presste eine Sekunde die Lippen zusammen, als bereite ihm die Bewegung Schmerzen. Seine Augen schimmerten in einem trüben Grau.

"Was kann ich für Sie tun, Herr Marx?"

"Mir eine einzige Frage beantworten. Warum suchen Sie Ludwig Baldur?"

Einen Moment verschlug es ihm die Sprache, soviel Frechheit war doch...aber dann zögerte er. Denn Marx musterte ihn gleichmütig, weder dreist noch demütig, und seine verhangenen Augen verrieten nichts außer einer grenzenlosen Geduld. Körperliche Kräfte besaß er wohl nicht, aber Zähigkeit und Ausdauer, und der direkte Blick warnte Kramer, seinen Besucher zu unterschätzen.

"Warum sollte ich Ihnen die Frage beantworten?"

"Weil wir die Antwort gern wüssten." Dabei lächelte er nicht einmal, das hatte er nicht nötig, er bat nicht, er forderte nicht, sondern gab auf eine klare Frage eine klare Antwort - klar freilich so, wie er es verstand.

"Mit 'wir' meinen Sie Ihre Dienststelle?"

"Sicher."

"Wenn ich mich in dieser Dienststelle nicht gewaltig irre, wissen Sie, dass ich Ihnen keine Auskunft geben muss."

"Völlig richtig, ich bin nicht vom Staatsschutz-Dezernat."

"Für den Verfassungsschutz habe ich noch nie viel übrig gehabt."

"Damit befinden Sie sich in guter und großer Gesellschaft, Herr Kramer." Plötzlich verzog er die Lippen zu einem schmalen Grienen. "Und außerdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich den abgegriffenen Witz schenken könnten, dass ich mit meinem Namen in die falsche Truppe geraten sei. Mein Vorname ist nicht Karl, sondern Lothar."

"Einverstanden. Ihnen ist klar, dass ich mein Geld mit dem Beschaffen von Informationen verdiene?"

"Natürlich. Sie schlagen mir einen Tausch vor."

"In Grenzen. Ich weiß nämlich, dass sich der Verfassungsschutz früher schon für Ludwig Baldur interessiert hat."

"Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, ja. Baldur ist dann ins Ausland verschwunden, und wir haben seine Spur verloren. Bis wir Ihre Anzeige gelesen haben."

"Ludwig hat einen Bruder Joachim. Joachim Baldur ist schwer krank und hat mich beauftragt, seinen Bruder zu suchen."

"Und warum, Herr Kramer?"

"Sie kennen den Fall? - schön, ich vermute, er möchte sich vor seinem Tod mit seinem Bruder aussöhnen."

"Hm. Und wieso vermuten Sie, dass Ludwig Baldur hier in der Stadt lebt?"

"Wie kommen Sie darauf?"

"Die Anzeige ist nur im Tageblatt erschienen."

Na ja, da hatte er wohl einen Bock geschossen. Deshalb räumte er ärgerlich ein: "Ich habe eine Zeugin gesprochen, die davon überzeugt ist."

"Würden Sie mir den Namen dieser Zeugin nennen?"

"Sobald Sie mir verraten haben, was Sie immer noch an Ludwig Baldur interessiert."

Marx nickte ein paar Mal versonnen und schlug dann ruhig vor: "Können wir uns darauf verständigen, dass wir nicht rückhaltlos offen sind, aber keine Lügen vortragen?"

"Von mir aus gern."

"Ludwig Baldur hat nach dem Knast so wilde und hasserfüllte Reden geschwungen, dass wir damals ernsthaft befürchtet haben, er plane etwas. Terroranschläge, Amokläufe, was auch immer."

"Das nötige Geld für solche Aktionen hatte er."

"Eben. Hat er noch." Und weil Kramer verblüfft schnaufte, schnalzte Marx melodisch mit der Zunge: "Nach der Wiedervereinigung haben wir in Ostberlin eine Menge Akten gelesen und vieles gelernt. Was für uns wirklich neu war."

"Sie glauben doch nicht im Ernst, dass..."

"Herr Kramer, wir wissen, dass noch viele Bundesbürger unentdeckt herumlaufen, die früher ihr Gehalt oder ein Zubrot vom MfS bezogen haben. Oder Honorare für Spionagetätigkeiten. Wir vermissen eine Menge Waffen aus den Beständen der NVA, von den abgezogenen Russen gar nicht zu reden. Und wir stoßen immer wieder auf Seilschaften, hier im Westen wie drüben im Reichsbahngebiet, die nicht davon überzeugt sind, dass der Sozialismus auf ewig abgedankt hat. Die immer noch bereit sind, aktiv etwas zum Erfolg des Sozialismus beizutragen. Und das nicht auf dem Weg über demokratische Wahlen."

"Moment mal, Herr Marx, das ist doch nicht ihr Ernst. Wer verübt denn im Augenblick Anschläge? Doch nicht die Linken."

"Herr Kramer, Sie wären erstaunt, wenn Sie erführen, wieviele Rechtsextremisten noch vor wenigen Jahren überzeugte Linke waren. Hier weniger, zugegeben, aber drüben. Wer in erster Linie radikal sein will, achtet wenig auf die Ziele, noch weniger auf die Methoden, ich weiß, das klingt so typisch nach Verfassungsschutz und kleinkarierter Rechthaberei. Aber überlegen Sie doch mal einen Moment ohne Scheuklappen: Die Szene wirbelt wild durcheinander. Alte gehen, Neue stoßen dazu, man kennt sich nicht, und wo versteckt sich der hungrige Wolf besser als unter einem Schaffell in der Herde?"

"Wenn er den Schäfer und seine Hunde fürchtet!"

"Ach, nicht nur dann. Wenn er weiß, dass im Moment alle nach Wölfen Ausschau halten."

"Und Sie glauben wirklich, dass Ludwig Baldur...?"

"Nein, ich glaube nicht, ich halte es für möglich. Wenn sein Hass vorgehalten hat, bietet sich ihm jetzt eine Chance wie noch nie zuvor."

Kramer musste sich zusammenreißen, um nicht vor Wut zu platzen. Diese Bedenkenträger und Sandkastenstrategen. Salbadern und predigen, das konnten sie. Alles und jeder war erst einmal verdächtig. Wer schwieg, plante Finsteres. Wer redete, war ohnehin verdächtig. Wer demonstrierte, warf auch Handgranaten. Zum Kotzen, dieses Berufsmisstrauen, diese selbstgefällige Besserwisserei, die Phantomen nachjagte und eine Bande wie die Aktion DDD nicht aufspüren konnte.

"Okay", quetschte er durch die Zähne. "Es hat wohl wenig Zweck, wenn wir uns weiter unterhalten. Ich vermute, dass sich Ludwig Baldur hier in der Stadt aufhält, ich vermute auch, dass er sich versteckt. Er war ein Linker, voller Hass, ganz richtig, aber er hat vor ein paar Jahren einen schweren Autounfall gehabt, und seitdem hat er ein steifes Bein. Von seinen politischen Aktivitäten hat er sich danach verabschiedet. Mehr werde ich Ihnen nicht verraten."

Eine ganze Weile schaute Marx ihn wieder mit dem offenen, gleichmütigen Blick an, der nichts von seinen Gedanken verriet. Drohen konnte und wollte er nicht, und obwohl Kramer ihn nicht fürchtete, wusste er nur zu gut, dass der Dienst ihm großen Ärger bereiten konnte. Es reichte völlig, wenn er sich in Zukunft immer erst vergewissern musste, ob jemand an seiner Stoßstange klebte.

"Na gut. Würden Sie mir noch sagen, seit wann Ludwig Baldur wieder in der Bundesrepublik lebt?"

"Mit Sicherheit seit 1986."

"Sehr interessant", murmelte Marx und quälte sich aus dem Sessel hoch. "Das allein hat meinen Besuch schon gelohnt." Aus seiner Jackentasche fischte er eine Visitenkarte heraus und legte sie mit einem entschuldigenden Grienen auf den Schreibtisch. "Sie können uns jederzeit telefonisch erreichen, und Sie dürfen sich darauf verlassen, dass wir zwar nicht dankbar sind, aber das Prinzip der einen Hand, die die andere wäscht, sehr gut kennen, Herr Kramer."

"Ja, ich werd's mir merken. Auf Wiederseh'n."

"Das meinen Sie jetzt nicht wirklich, aber trotzdem: Auf Wiedersehen." Einen Moment massierte er sich den rechten Oberschenkel wie nach einem Krampf, richtete sich dann auf: "Am Anfang steht der berechtigte Protest, der sucht sich eine Ideologie. Vergessen Sie nie die Reihenfolge!"

Wie er da gebeugt zur Tür schlurfte, konnte man Mitleid mit ihm entwickeln. Aber Kramer atmete erst tief durch, als die Tür ins Schloss gefallen war, und die Visitenkarte wischte er wie ein Stück Dreck in die aufgezogene Schublade.

Um 15 Uhr stand er wieder in der Bredener Straße, aber der metallic-blaue Golf parkte nicht auf seinem üblichen Platz, kam auch nicht in Sicht, und um 20 Uhr brach er die Observation ab. Stadtradio hatte pausenlos über die "beeindruckende und friedfertige" Demo berichtet, an der sich doch wohl weniger Bürger beteiligten, als die Veranstalter erhofft hatten. Die Autonomen versuchten nur an einer Stelle, die Polizei in eine Schlacht zu verwickeln, waren aber von der friedlichen Mehrheit zielstrebig eingekesselt und daran gehindert worden. Silke Glas war nicht unter den Reportern, was ihm auffiel.

Anielda schimpfte am Telefon wie ein Rohrspatz los, als er sich ganz harmlos erkundigte: "Na, was erreicht?"

"Nein, sie hat mich abgehängt, dieses Biest."

"Wo? Und wann?"

Sein Ärger beeindruckte sie nicht. "Sie ist nach Baldingen gefahren - kennst du das Nest?"

"Ach nee!" kommentierte er gedehnt." Baldingen, ja, kenne ich."

"Dort ist sie in eine kleine Straße nach links abgebogen, und als ich das geschnallt hatte und wieder Verbindung bekam, hat sich dein albernes Peilgerät verabschiedet. Aus, und ihr Auto habe ich nicht mehr gesehen. Also bin ich zurückgefahren und warte hier schon seit zwei Stunden."

"Das ist ja lustig", murmelte er. "Gestern war Wolzek in der Gegend, und ich habe sein Auto auch aus den Augen verloren."

"Das freut mich!", versetzte sie bissig. "Und jetzt?"

"Traditionen sollen hochgehalten werden, Anielda."

"Gottseidank. Morgen also ins Thermalbad?"

"Ja, aber ich bringe jemanden mit."

Das raubte ihr die Sprache, und erst als er sich räusperte, schnarrte sie vor Zorn: "Hoffentlich einen wirklich netten Mann für mich."

"Nein, eine junge Frau. Nicht für mich, wenn dich das beruhigt, sondern für's Geschäft."

"Ach! Und wo verläuft bei dir die Grenze zwischen Büro und privat?"

"Entlang deiner Person", versetzte er grob und knallte den Hörer hin.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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