Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 27

Dritter Donnerstag

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Nach zehn Stunden Schlaf sah es so aus, als werde er auch diesen Auftrag überleben. Mit dem Frühstück ließ er sich viel Zeit, Stadtradio meldete zum x-ten Mal, dass die Aktion Drei D in der Nacht wieder zugeschlagen hatte: Kurz nach 24 Uhr hatte eine Explosion das Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs zum größten Teil zerstört, verletzt wurde zum Glück niemand. Die Täter hatten wieder ihre Visitenkarten verstreut: Deutschland den Deutschen. Aktion DDD. In einem Interview berichtete ein Sprecher des Türkischen Vereins, dass einige seiner Landsleute bereits zur Heimkehr entschlossen seien, nach zehn und mehr Jahren in Deutschland.

Gegen Mittag trudelte er im Büro ein, fest entschlossen, nichts zu tun. Seine Minen hatte er gelegt, nun sollten die richtigen Leute drauftreten. Ganz zufällig und nur mal so rief Holger Weisbart an und erkundigte sich nach diesem und jenem, nahm aber das Wort Messtischblatt zum Beispiel nicht in den Mund, weshalb Kramer zum einem längeren Smalltalk ansetzte, den Weisbart hörbar nervös unterbrach: Sein Schreibtisch breche unter den unerledigten Papieren zusammen, er müsse jetzt Schluss machen, also dann später mal, tschüss.

Gegen zwei Uhr bekam er netten Besuch; Elke Fröhling betrat gut gelaunt sein Büro: "Du bist vielleicht schwer zu finden."

"Wie meinst du das?"

"Ich hab' ein paar Mal versucht, dich zu erreichen, aber im Büro warst du nicht, ans Telefon gehst du nicht, und wo du wohnst, weiß offenbar niemand."

"Doch, einige, aber nicht viele." Über ihr empörtes Gesicht musste er lachen. "Weißt du, ich bin der geborene Pantoffelträger, in meinen eigenen vier Wänden will ich meine Ruhe haben, deswegen stehe ich nicht im Telefonbuch."

"Und wenn man dich dringend sprechen muss?"

"Mein Anrufbeantworter. Den höre ich regelmäßig ab."

"Ich rede nicht mit Maschinen", entgegnete sie würdevoll. "Meine Automaten im Rosa Ferkel piepsen und summen und quietschen so erbärmlich, da will ich in meiner Freizeit ordentliche Antworten bekommen."

Sie hatte sich vor seinen Schreibtisch gesetzt und den großen Strohhut auf den Boden geworfen, fiel über seinen Kaffee her und schien fest entschlossen, ihn aufzuhalten. Ihm war es recht.

"Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass Kurt abgereist ist."

"Ich weiß, ich hab' am selben Tag noch mit ihm gesprochen, da hattet ihr euch gerade in der Wolle gehabt."

"Oh! Du kommst viel rum, wie?"

"Ja, so kann man sagen."

"Wir haben uns mächtig angebrüllt, aber das Ende vom Lied war, dass mir Kurt wieder die letzten Scheine aus dem Portemonnaie gezogen hat. Aber wirklich zum letzten Mal!"

Daran hegte er so gewisse Zweifel, die er aber nicht preisgeben wollte; sie war gerade so hübsch in Fahrt geraten.

"Jetzt will er bei einem Kumpel unterkriechen! Das wird ja was Rechtes werden!"

"Du bist nicht für ihn verantwortlich."

"Nein", stimmte sie zu, und es hörte sich an, als meine sie das Gegenteil.

"Er ist nicht dein Vater."

"Nein."

"Wenn sich jemand um ihn kümmern muss, dann wäre das deine Schwester Jutta."

"Die wird sich bedanken."

"Das ist dann Kurts Pech."

Sie lachte, war aber nicht ganz bei der Sache, und er betrachtete sie amüsiert. Was sie auf dem Herzen hatte, konnte er sich schon denken, und sie traute sich nicht, direkt damit herauszuplatzen. Wie die Katze würde sie um den heißen Brei herumschleichen. Jetzt kaute sie auf ihren Lippen. Zupfte an ihrem Ohrläppchen. Strich den Rock vor und zurück. Drehte ihre Armbanduhr links herum, rechts herum.

Das konnte noch dauern!

"Ich mach' dir einen Vorschlag, Elke", kürzte er die Wartezeit ab. "Das Wetter soll schön bleiben, deshalb lade ich dich am Sonntag wieder ins Thermalbad ein, und danach sprechen wir darüber, wie wir Wolfgang Hellweg finden können. Erst am Sonntagabend, einverstanden?"

Die Reaktion war lebensgefährlich, sie sprang auf, umrundete irgendwie in Sekundenschnelle seinen Schreibtisch und fiel ihm um den Hals. Dagegen hatte er prinzipiell nichts einzuwenden, aber die Vorwarnzeit war zu kurz ausgefallen, er saß noch, es warf ihn zurück, der Stuhl kippelte, neigte sich gefährlich nach hinten, sie ließ nicht los, die Gesetze der Schwerkraft schlugen unbarmherzig zu, und der freie Sturz wurde durch die Wand gebremst, mit der sein Hinterkopf noch vor der Rückenlehne äußerst heftig und ziemlich schmerzhaft Kontakt aufnahm; die berühmten Sternchen tanzten vor seinen Augen, und als er dennoch die Gewissheit verspürte, er habe selbst diese Attacke überlebt, saß sie auf seinem Schoss, hielte sich an ihm fest und staunte.

"Das wird chronisch", keuchte sie.

"Was?"

"Dass ich auf deinem Schoss lande!"

Wahrscheinlich wollte er nur verhindern, dass sie jetzt laut losjubelte, den Mund hatte sie nämlich schon geöffnet, und deswegen verschloss er ihn sehr schnell mit dem seinen. Damit wiederum hatte er sie überrumpelt, sie hielt ganz still, aber nach zehn Sekunden oder so entschloss sie sich zu einer Reaktion, und die hatte nichts mit Abwehr zu tun. Im Gegenteil. Ohne diese etwas alberne Lage, um rund 45 Grad aus der Senkrechten gekippt und von der Wand gestützt, wäre es noch angenehmer geworden.

"Hei!", flüsterte sie und rang nach Atem.

"Vorsicht! Keine schnelle Bewegung, oder wir landen unter dem Schreibtisch."

"Lieber nicht", hauchte sie und stellte sich auf die Füße, immer noch mit einem verwunderten Gesichtsausdruck, als könne sie nicht glauben, was geschehen war. Vorsichtig zog er sich nach vorn, die Situation entbehrte weder der lächerlichen noch unberechenbaren Momente, doch das Schicksal begnügte sich mit seinem brummenden Schädel, der Schreibtischsessel kippte brav zurück, sie setzte sich, griff nach ihrem Strohhut, den sie sich wie einen Deckel auf den Kopf pappte, und wurde endlich puterrot.

"Hei", imitierte er sie. "Kein Grund zur Verlegenheit."

"Nein...nein."

"Ich habe nichts gegen schöne Frauen."

"So?"

"Überhaupt nicht. Auch wenn jedes Treffen damit endet, dass sie auf meinem Schoß hocken."

"Das ist gemein!"

"Okay, gestrichen. Wenn du Lust hast, hole ich dich heute Abend ab, und wir gehen einen Wein trinken."

"Im Ernst?"

"Nein, es soll dir Spaß machen."

Fünf Sekunden Blinzeln, fünf Sekunden vergnügtes Lächeln, dann sprang sie auf, er verkrampfte sich, umklammerte instinktiv mit beiden Händen die Schreibtischkante, doch sie wahrte Distanz: "Ich kann zwei Stunden früher aufhören. Zehn Uhr?"

"Ich hole dich ab."

"Prima. Danke, Rolf." Ihre Beschleunigung war beachtlich, doch an der Tür bremste sie, drehte sich um und warf ihm eine Kusshand zu, die er im Sitzen mit einer tiefen Verbeugung quittierte.

Die letzte Störung fand um 18 Uhr statt. Am Telefon stellte sich ein Hans Baumann vor: "Ich bin Zivi im Haus Abendfrieden, und ein Herr Baldur hat mich gebeten, Ihnen etwas auszurichten. Sie erinnern sich an Herrn Baldur?"

"Natürlich."

"Herr Baldur bittet Sie, ihn so rasch wie möglich zu besuchen. Es wär' sehr dringend."

Also doch; er hatte gehofft, diese Begegnung ließe sich noch hinausschieben, aber nun musste er wohl ins kalte Wasser springen. Viel zu früh, aber unvermeidlich.

"Sehen Sie Herrn Baldur noch?"

"Klar, ich hab' jetzt Dienst."

"Dann sagen Sie ihm bitte, ich würde morgen Nachmittag bei ihm vorbeischauen. Früher schaff' ich's leider nicht."

"Mach' ich, tschüss."

"Auf Wiederhören."

Eine halbe Stunde grübelte und sinnierte er, aber ihm fiel nichts ein. Nach dieser Aufforderung konnte er Baldur nicht länger hinhalten, außerdem war er Privatdetektiv, kein Beamter. Trotzdem hätte er sich mehr Zeit gewünscht.

Beim Stadtradio hatte er kein Glück, Silke Glas war schon gegangen..."wahrscheinlich nach Hause, ich hab' keine Ahnung."

"Vielen Dank - nein, ihre Privatnummer habe ich."

In ihrer Wohnung in der Rauchstraße nahm niemand ab. Wolzek durfte er nicht anrufen, vielleicht wusste Anielda mehr.

An der Bürotür gegenüber hing das Schild "Bitte nicht stören", also hatte sie einen Kunden.

Nach einer Stunde, in der er nur dreißig Seiten seines Prachtschinkens schaffte, versuchte er sein Glück noch einmal, und diesmal traf er Anielda an. Ihr Blick versprach nichts Gutes, und ihre ersten Worte bestätigten seinen Verdacht: "Du hattest Damenbesuch heute nachmittag."

"Wenn du das weißt, kennst du ja die junge Dame."

"Tu' ich. Sie ist ganz hübsch, wie?"

"Ja, ich würde nicht widersprechen. Allerdings möchte ich jetzt Kontakt mit einer anderen Dame aufnehmen. Und dazu brauche ich deine Hilfe."

"Ach ja? Hat Elke sich deine Zudringlichkeiten verbeten?"

"Ja, sie hat mir schwer über den Kopf gehauen - doch, doch, du kannst die Beule noch fühlen."

"Nur eine Beule?"

"Vielleicht auch ein paar Haarrisse in der Schädeldecke. Wo treibt sich um diese Zeit Silke Glas herum, wenn sie nicht in der Redaktion und nicht zu Hause ist?"

"Bei Martin Wolzek."

"Den kann ich nicht anrufen, weil sie beide nicht erfahren dürfen, dass ich von ihrer Bekanntschaft weiß."

"Dann kann ich dir auch nicht helfen."

"Falsch. Du willst nicht! Tschüss." Ob ihre Eifersucht nun echt oder gespielt war, es ging ihm so oder so schwer auf den Geist, und deshalb donnerte er die Tür hinter sich zu.

Viel zu früh betrat er das Rosa Ferkel, weil er keine Lust hatte, sich noch länger in der Stadt herumzutreiben. Der Automatensalon war schmal, gerade breit genug für je einen Automaten in einer Art Holzkabine links und rechts und einem Gang, aber unendlich tief. Am andere Ende gab es eine kleine Bar, hinter der zwei junge Frauen standen, verkleidet mit schwarzen Corsagen, Netzstrümpfen und so hochhackigen Schuhen, dass sie stolzierten wie die Störche im Salat. Unter der hohen Decke drehten sich drei Miefquirle mehr zu dekorativen Zwecken, wie er schnüffelte. Eine kleine dicke Frau mit einem Kopftuch bis in die Stirn kehrte gleichmütig Kippen, Kronkorken und Papierschnitzel zusammen.

"Du bist zu früh", begrüßte Elke ihn fröhlich, die Kollegin hatte sich abgewendet und schielte zu ihnen herüber.

"Ich wollte erst das Geld gewinnen, mit dem ich dich ausführe", gestand er, und sie zog eine Schnute.

"Ein Glas klares Wasser tut's notfalls auch."

"Mehr traust du mir nicht zu?"

"Ich kenne unsere Automaten - hast du überhaupt schon mal gespielt?"

"Nee!"

"Na, es gibt so was wie ein Anfängerglück. Wieviel willst du denn investieren?"

"In dich?"

"In die Firma, die mir diesen glanzvollen und karriereträchtigen Job gnädigst überlassen hat."

"Fünfzig Mark!"

"So ein Leichtsinn", murmelte sie; beide Frauen bückten sich nach einer Kassette, die mit zwei Schlössern gesichert war und kiloweise Fünfmark-Stücke enthielt. Die zehn Münzen zählte sie ihm mit einer Leichenbitter-Miene vor, die ihn ahnen ließ, was neun von zehn Spielern hier widerfuhr.

Während einer Observation hatte ihn ein kleiner, dem Spiel verfallener Mann, der seine Sucht mit Griffen in die Firmenkasse finanzierte, einmal in ein Spielcasino an einen Roulettetisch geführt. Die Regeln kannte er, sein Kleiner ließ sich nieder, als wolle er für die nächsten fünf Stunden hier anwachsen, also hatte er hundert Mark in Chips gewechselt und gesetzt. Weil es ihm weniger auf das Gewinnen als einen Vorwand ankam, sein Gegenüber zu beobachten, platzierte er seine Chips lässig und willkürlich. Schon das zweite Spiel brachte Zero, das er als einziger mit einem Zwanziger-Chip belegt hatte, er opferte seinen Obolus für den Tronc, und spielte mit ähnlichem Glück weiter. Und der Kleine verlor in einer Tour, es war nicht mitanzusehen. Als Kramer, inzwischen von vielen am Tisch neidisch beobachtet und von einigen in seinen Einsätzen kopiert, seinen Hunderter in einen Tausender verwandelt hatte, sammelte der Rechen die letzten Chips des Kleinen ein. Vor dem Ausgang kamen sie ins Gespräch, sein Pech und Kramers Glück lösten dem Kleinen die Zunge, er gestand, wie er sich das Geld für seine Casinobesuche verschaffte, und Kramer riskierte es, erzählte, wer er war und warum er ins Casino gekommen war. Gemeinsam fuhren sie zu dem Geschäftsführer der Firma, den er trotz der späten Störung überreden konnte, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Viel hatte es nicht genutzt, vor allem nichts geändert, Monate später las Kramer im Tageblatt, dass sein Kleiner Selbstmord begangen hatte.

Aber Roulette war ein geistreiches, intellektuell fast vergnügsames Unterfangen, verglichen mit diesem Automaten-Stumpfsinn. Aufgebracht starrte er den Kasten an, der seelenruhig seine Münzen verschluckte, drohte ihm mit der Faust und erzielte Wirkung. Es begann zu läuten und zu musizieren, Lampen leuchteten auf, da fehlte nur noch der Fanfarenzug, und anschließend klapperte und klingelte es, am laufenden Band wurden Münzen ausgespuckt, es nahm kein Ende, er drohte dem Kasten noch einmal, was nicht half, die Münzen fielen aus dem überfüllten Fach auf den Boden, und erst als eine bekannte Stimme hinter ihm jappste: "Das darf nicht wahr sein!", hörte der Segen auf.

Elke half ihm, den Gewinn aufzulesen und an der Theke zu zählen. "Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln", entschuldigte er sich. "Ich spendiere dir auch zwei Glas Wasser."

"So, zwei, vier, sechs, acht, zehn und einmal zehn - 550 Mark."

"Drei Glas!"

"Mindestens." Die Kollegin amüsierte sich, und weil er sein Glück nicht herausfordern wollte, verzichtete er auf weitere Versuche und fragte höflich, ob er einen Kaffee bekommen könne. Er konnte; kurz vor zehn erschien eine andere junge Frau, die mit Elke nach hinten verschwand.

"Entschuldigung", sagte er halblaut, "ich weiß leider nur Ihren Vornamen Tina."

Erstaunt und zugleich misstrauisch sah sie ihn an.

"Elke hat Ihnen auf meine Bitte hin ein Bild gezeigt, von einer Frau, die Sie wiedererkannt haben."

Eine ganze Weile ging sie mit sich zu Rate, dann glättete sich ihre Stirn: "Ach, der Heilige sind Sie!"

"Nein, ich bin noch nicht einmal selig gesprochen. Wissen Sie zufällig, wie sie hieß und woher sie kam?"

"Keine Ahnung. Warum wollen Sie das wissen?"

"Ich suche diese Frau. Ich bin Privatdetektiv."

"Oohh!", machte sie und bekam schöne große runde Augen. Leider funkelte darin so viel Spott, dass er sich nichts einbildete und äußerst zerknirscht fortfuhr: "Elke hat Ihnen doch sicherlich verraten, dass sie hier einen Mann sucht."

"Ja, sicher, einen gewissen - verflixt, ich hab' nur den Vornamen - Wolfgang...und wie weiter?"

Sieh mal an, das hübsche Luder war nicht nur loyal, sondern auch intelligent. "Hellweg", ergänzte er deshalb und schmunzelte.

Auch sie griente jetzt breit. "Genau. Und Sie meinen, diese Frau könnte Sie zu Wolfgang Hellweg führen?"

"Denkbar, ja."

"Nein, tut mir leid, ich würde Elke gerne helfen, aber mehr weiß ich nicht."

"Schade! Trotzdem vielen Dank..."

"...und einen Versuch war es wert", ergänzte sie fromm, worauf er ein Auge zukniff.

"Na, gefalle ich dir?" Sie drehte sich vor ihm, das weite Kleid schwang, und der große Hut blieb an seinem Platze.

"Tust du!", urteilte er ernsthaft, und Tina kicherte.

Hinter dem Museum gab es eine Weinstube, die für Nachtschwärmer bis in die frühen Morgenstunden geöffnet hatte, und die Speisekarte konnte sich sehen lassen. Ein Taxi lehnte sie ab, ein paar Schritte wollte sie laufen, nach dem stundenlangen Stehen im Rosa Ferkel.

"Wo hast du denn dein Auto?"

"Das steht brav am Büro. Eigentlich hatte ich vor, heute Abend auch einen Schluck zu trinken."

"Genehmigt."

Sie bekamen sogar einen Zweiertisch in der Nähe der geöffneten Terrassen-Tür. Mit einer Konzentration, die ihn an Anielda erinnerte, studierte sie die Speisekarte, und der Ober riet würdevoll zu einem jungen roten Macon. Jawohl, der passe exzellent zum Abend-Menü, das er den Herrschaften uneingeschränkt empfehlen möchte.

"Heute kannst du es dir ja leisten", tröstete sie etwas besorgt, als der Würdevolle davonschwebtete. Dem wollte er nicht widersprechen. Anfangs entsetzte sie das Menu etwas, sie sagte zwar nichts, verglich aber die kleinen Portionen mit ihrem zweifellos vorhandenen Hunger, und erst als der Würdevolle immer wieder mit neuen Tellern heranschwebte, entspannte sie sich. Beim Dessert gestand sie, rundherum satt zu sein; an dem Calvados schnupperte sie, und er brachte zum ersten Mal das Gespräch auf Kurt und auf ihre Schwester.

Ja, sagte sie wehmütig, da war was dran, Kurt hatte sich immer besser mit Jutta verstanden als mit ihr, sich auch mehr um die jüngere Schwester gekümmert. Wenn er überhaupt dazu einmal fähig und willens war! Heute verstand sie es natürlich, aber damals hatte es sie doch - wie sollte sie es formulieren -gekränkt.

"Und deine Mutter?"

Die hatte beide Töchter gleich behandelt. Doch, immer. Und mit Jutta verstand sie sich gut, trotz der Streitereien, wie sie unter Geschwistern halt vorkamen.

"Warum fragst du das alles?"

"Ich grabsche nach Strohhalmen. Wer könnte noch etwas mehr wissen über diesen Wolfgang Hellweg?"

"Wenn das überhaupt sein richtiger Name war! Kurt hat da eine wilde Theorie..."

"Die kenne ich", warf er schnell ein; sie lachte und hatte nichts gemerkt. Warum zum Teufel war Doris Weigand ins Rosa Ferkel gekommen? Reiner Zufall? Daran wollte er nach allem, was er in diesem blödsinnigen Fall erlebt hatte, nicht glauben. Und wenn es kein Zufall war, blieb nur eine Erklärung: Doris Weigand hatte erfahren, dass Elke Fröhling einen gewissen Wolfgang Hellweg suchte. Aber wie? Und von wem? Wirklich wichtig mochte es nicht sein, aber so eine Frage verhielt sich wie ein offener Schnürsenkel: Erstens störte er, und zweitens konnte man jederzeit drauftreten und auf die Nase fallen.

"Noch einen Calvados?"

"Man kann sich daran gewöhnen", erklärte sie feierlich.

Als er den Würdevollen bat, ihnen ein Taxi zu bestellen, senkte sie den Kopf und murmelte: "Wohin fahren wir denn?"

"Ich wollte dich nach Hause bringen."

"Schon?"

"Möchtest du noch etwas trinken?"

"Warum nicht? Kennst du einen Ort, wo es diesen schönen Calvados gibt?"

"Der ist zwar schön, aber nicht ganz ohne, Elke."

"Das habe ich schon gemerkt, danach kann ich nicht mehr sehr weit laufen." Die Krempe verdeckte ihr Gesicht, er wartete einen Moment und sagte dann ruhig: "Calvados habe ich zu Hause."

"Dann ist ja alles geregelt." Es klang sehr burschikos, aber als sie den Kopf hob, errötete sie und schaute an ihm vorbei.

Die Haffstraße verwirrte sie; er sagte nichts und weidete sich an ihrer Verlegenheit. Die Nacht war warm, Babsie hockte auf ihrem Kilometerstein und verhandelte ausgesprochen gelassen mit einem Freier, verkniff es sich sogar, Elkes Erscheinen zu kommentieren. Was ihn doch erleichterte; Babsies üblicher Wortschatz erforderte eine gewisse Standfestigkeit des Gemüts und der Selbstbeherrschung.

"Eine seltsame Straße", urteilte sie unsicher.

"Hier wohnen auch ganz normale Menschen."

"Hoffentlich", seufzte sie und verstand nicht, warum er laut loslachte.

Von ihrer Forschheit war nicht viel übriggeblieben, als sie endlich ihr Glas hob und probierte. Deswegen hatte er sich in einen Sessel gesetzt, etwas enttäuscht, weil er spürte, dass sie inzwischen ihren Entschluss bereute, mit ihm in seine Wohnung zu gehen, oder ihre Kühnheit verloren hatte, wie auch immer; das Schweigen dehnte sich, und endlich musste er für sie mitentscheiden: "Wir kochen jetzt noch einen Kaffee, und dann bringe ich dich nach Hause."

Schuldbewusst griff sie nach ihrem Glas.

"Du hast genug getrunken, Elke."

"Du bist mir jetzt böse", flüsterte sie.

"Nein. Der Wein war gut, der Calvados hat nachgeholfen, ein netter Abend muss nicht im Bett enden."

"Aber du möchtest es gerne", wisperte sie noch leiser.

"Nur unter bestimmten Bedingungen", versetzte er heiter, und es fiel ihm nicht leicht. "Nicht aus Dankbarkeit, Elke."

Als er den Rest aus seinem Glas auf den Mesquita-Kaktus goss, konnte sie wieder lächeln, mühsam zwar, aber immerhin.

"Verträgt der das?"

"Der schluckt alles. Kaffee, Tee, Wein, Bier, Whisky. Hauptsache, es ist flüssig."

"Wie Kurt!", stöhnte sie komisch, und sein Lachen brach den Bann. Sie sprang auf, umarmte ihn und flüsterte: "Es tut mir wirklich leid, aber vielleicht ein andermal, Rolf."

"Alles okay."

Ganz vorsichtig, voller Respekt vor den beachtlichen Stacheln des zähen Burschen, kippte sie die Neige über den grünen Riesen.

Wie nach einer wortlosen Vereinbarung kehrten sie nicht mehr ins Wohnzimmer zurück, sondern setzten sich in die Küche. Kurt und seine flüssige Ernährung - eines Tages, da war sie noch auf der Suche nach Wolfgang Hellweg - erschienen zwei Polizisten an ihrer Wohnungstür. Natürlich erschrak sie mächtig, der Polizei ging sie weit aus dem Weg, das hatte sich "früher" empfohlen. Ob sie einen gewissen Kurt Fröhling kenne? Na ja, was sollte sie tun? Sie bejahte. Dann möchte sie doch mal bitte mitkommen, aufs Revier. Junge, Junge, sie hatte Blut und Wasser geschwitzt. Aber es ging nicht um sie, sondern um Kurt, der dort die Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbracht hatte. Ein älterer Beamter erklärte ihr gemütlich, was sich Kurt geleistet hatte. Am Abend zuvor war er, schon ziemlich angeschickert, im "Widukind" erschienen...

"Moment mal! Wo?"

"Im 'Widukind'. Das ist eine Kneipe am Waldstadion."

"Kenne ich nicht."

Dort also hatte Kurt gesoffen, dass ihm das Bier aus den Ohren tröpfelte, und zu vorgerückter Stunde angefangen, den Wirt zu beschimpfen. Widukind, der große Held, der so schnell die Kurve gekratzt habe, als es ernst wurde, als er blechen, löhnen, zahlen sollte. Der Wirt hatte wohl ans Geschäft gedacht, freundlich genickt und dem herumlallenden Kurt immer wieder Nachschub hingeschoben, bis selbst Kurt den Kanal voll hatte. Doch als Wirt Widukind die Striche auf dem Bierfilz zusammenrechnete, höhnte Kurt mit letzter Kraft, die Zeche könne sich W-W-W irgendwohin schmieren, er hätte soviel in das Hellwegblag investiert, dass alle Hellwegs ihn sein Leben lang freihalten müssten. Und auch das wäre noch nicht genug.

"Mich tritt das Pferd! Der Wirt hieß Widukind Hellweg?"

"Der Kandidat hat hundert Punkte!" Sie lachte, halb kläglich, halb wütend. "Der Wirt wurde sauer, Kurt begann zu randalieren, der Wirt rief die Polizei, und Kurt hatte mal wieder keine müde Mark bei sich."

Warum er jetzt so lachte, dass er beinahe den Becher vom Tisch fegte, konnte sie nicht verstehen. Der Adress-Zettel mit Hellweg, W. Wotan oder Widukind oder Wolterich.

Na schön, Kurt jammerte und hielt sich mit einer Hand den platzenden Kopf, mit der anderen den revoltierenden Magen, und sie sollte die Zeche zahlen, dann sei der Fall erledigt.

"Hast du gezahlt?"

"Also, zuerst wollte ich nicht. Aber da stand diese blöde Reporterin mit ihrem Tonband und wollte unbedingt Kurt interviewen..."

"Augenblick! Eine Reporterin im Revier?"

"Ja, ich hab' mich auch gewundert, aber im Wessiland ist ja vieles möglich, und die Polizisten schienen nichts dabei zu finden."

"Das ist ja komisch!"

"Es kommt noch komischer. Ich hab' Kurt gedroht, wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde ich keinen Pfennig für ihn opfern. Das hat gewirkt."

"Ja, ja", stimmte Kramer ungeduldig zu. "Aber wieso hat sich die Reporterin überhaupt in das Revier verirrt?"

"Das hat sie mir erklärt. Wirt Widukind hatte das Stadtradio angerufen, um sich seinen Zwanziger zu verdienen..."

"Ich versteh' nur Bahnhof, Elke."

"Pass auf. Wenn du das Stadtradio anrufst und denen einen Tipp für eine witzige oder interessante oder rührselige Story gibst, kriegst du zwanzig Mark Informationshonorar."

"Ach du meine Güte, ich ahne das Schlimmste."

"Kurt hatte an der Theke große Reden geschwungen. Dass er und seine Tochter auf der Suche nach dem Erzeuger der Tochter seien, einem gewissen Wolfgang Hellweg, Hellweg wie Widukind, der eine harmlose DDR-Bürgerin geschwängert und sich seiner Verantwortung durch die Flucht entzogen habe, eine hart arbeitende Sozialistin im Elend zurückgelassen und die von der klerikal-faschistischen Adenauer-Regierung erzwungene Teilung Deutschlands benutzt habe, sich seinen Vaterpflichten zu entziehen." Sie imitierte den Phrasenton so schön, dass er begeistert in die Hände klatschte. "Wegen der Namensgleichheit hatte der Wirt wohl zugehört, aber Kurt natürlich nicht ernst genommen. Wütend wurde er erst, als Kurt nicht zahlen wollte. Oder konnte."

"Das alles hatte er der Reporterin also erzählt?"

"Sicher. In allen Details. Na ja, Kurt konnte nicht antworten, seine Kehle war so entsetzlich ausgetrocknet, weißt du, die Stimmbänder gehorchten ohne Anfeuchtung partout nicht, und ich hab' sie natürlich abgewimmelt. Sie wurde ziemlich sauer, das kann ich dir flüstern."

"Weißt du noch, wie die Reporterin hieß?"

"Glas. Glas wie durchsichtig. So ein dummer Spruch!"

Nun konnte er doch nicht anders, er setzte seinen Becher ab, stand auf, zog sie hoch und küsste sie. Ihr Mund öffnete sich sofort, er spürte zwei Arme um seinen Hals, der Druck ihres Körpers war angenehm und gefährlich anregend. Dann wurde ihm in letzter Besinnungssekunde die Luft knapp, er trennte sich mit einigem Kraftaufwand von ihr und atmete schwer: "Das war ein Dankeschönkuss, Elke."

"Wofür danke?", murmelte sie und versuchte, ihm wieder den Mund zu verschließen; sie abzuwehren fiel ihm schwer, er musste seinen inneren Schweinehund mehrmals kräftig treten, und das Biest jaulte laut Protest.

"Für die Aufklärung eines wichtigen Details."

"Ich bin schon aufgeklärt", hauchte sie.

"Das prüfen wir ein andermal", bestimmte er energischer, als ihm zumute war, und machte sich frei. "So, und nun schicke ich dich nach Hause."

"Jetzt würde ich sogar bleiben", stichelte sie, und er strich ihr sanft über den Busen. Das Taxi kam viel zu rasch.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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