Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 30

Vierter Sonntag

Оглавление

Elke überfiel ihn sofort mit der Neuigkeit: "Weißt du, wo ich gestern gewesen bin?"

"Nein."

"Bei Joachim Baldur. In diesem Haus Abendfrieden."

"Ach nee!"

"Er hat am Freitagabend im Ferkel angerufen. Ob ich ihn nicht am Samstagvormittag besuchen könnte."

"Und? Wie war's?"

"Eigentlich ganz nett. Wir haben uns fast vier Stunden unterhalten - na ja, unterhalten ist etwas - zwischendurch ist er einmal richtig eingeschlafen. Über mich, woher ich komme, was ich so mache und plane. Er ist ziemlich einsam, nicht wahr?"

"Ja, das stimmt."

"Hat er Krebs?"

"Ja."

"Armer Kerl", bedauerte sie nach einer Pause, und er konzentrierte sich auf den Verkehr.

Anielda begrüßte sie wie eine alte Bekannte, und Elke hockte sich zu ihr auf die Decke, sie schienen sich viel mitteilen zu müssen. Aber als es darum ging, ihr den Rücken einzuschmieren, kam sie diesmal mit der Cremeflasche zu ihm, und Anielda konnte sich ein wissendes Grienen nicht verkneifen; er drohte ihr mit der Faust. Seine zweimal tausend Meter schwamm er ohne Begleitung, und dass er überhaupt mit zwei Frauen ins Thermalbad gekommen war, spürte er erst, als sie ihre nassen Badeanzüge über ihm auswrangen. Wie von der Tarantel gestochen schoss er hoch und bekam noch den Knöchel der flüchtenden Anielda zu fassen. Was eine saudumme Idee war, das hätte er sich denken können, das Aas schaffte es, sich noch im Fallen so zu drehen, dass sie mit voller Wucht auf ihm landete. Es presste ihm die Luft aus den Lungen, Anielda kreischte wie am Spieß, und Elke stürzte sich voller Begeisterung auf sie. Jetzt schienen seine Rippen zu knacken, und während sich die Schwärze vor seinem Gesicht noch verflüchtigte, tobten zwei Furien bereits Richtung Becken.

Am Nachmittag bezog es sich sehr schnell, und als sie die Stadtgrenze erreichten, nieselte es schon.

"Wie beim letzten Mal", seufzte Elke. "Wasser von unten, Wasser von oben."

"Dafür führt uns Rolf in ein anderes Lokal", triumphierte Anielda, seinen bösen Blick ignorierend. "Er kennt einen Spanier, du, der hat Vorspeisen, da könnte ich mich glatt reinlegen."

"Gelegentlich würde ich dich auch gern mit Messer und Gabel traktieren."

"Seit wann isst du rohes Lamm?"

Mit Paco musste man ernsthaft verhandeln, und zwar auf Spanisch; deutschsprechenden Gästen servierte er allenfalls einen müden Abklatsch seiner entremeses bilbainas. Kramer stieß die notwendigen Drohungen aus, die Paco finster entgegennahm, bevor er sie auf Baskisch kommentierte. "Das ist eine Sprache, die der Teufel in sieben Jahren nicht lernt", jaulte Kramer auf Deutsch, und Paco, der ausgezeichnet Deutsch verstand, strahlte über das ganze Gesicht. Man hatte halt so seine Rituale zu absolvieren.

Die Vorspeisen waren ein Gedicht, und der Fisch übertraf alle Erwartungen. Anielda brauchte wie üblich keine Rücksicht auf den engen Gürtel des neu erworbenen Kleides zu nehmen, das Elke neidlos bewundert hatte, aber Elke wollte nach dem Hauptgang streiken. Paco runzelte die Stirn. "Dreimal Flan" befahl er, und Anielda willigte rasch ein: "Mindestens."

"Und dreimal Lepanto."

"Der Teufel soll ich holen, Paco. Zweimal Lepanto und einmal Carlos Tercero."

"Der Herr sei mit mir", murmelte Paco zufrieden. "Spülwasser statt Cognac."

"Was hat er gesagt?" erkundigte sich Anielda.

"Er beneidet mich."

"Dazu besteht auch aller Grund", freute sie sich. "Zwei Rosen umrahmen einen Kaktus."

"Der muss übrigens mal wieder umgetopft werden, liebste Anielda."

"Das überlass ich doch glatt der liebsten Elke."

Knallrot war eine unzulängliche Umschreibung für die Farbe, die in ihrem Ausschnitt hochstieg.

Anieldas Anwesenheit ersparte ihm die sonst unvermeidbare Frage, ob Elke heute in die Haffstraße mitkomme, und ihr ein Nein. Vielleicht war es wirklich besser so, und Anielda entwickelte genug Takt oder genug Eifersucht, Elke Fröhling für den Rest des Abends so mit Beschlag zu belegen, dass er sich verabschieden konnte. Durch einen steten Niesel, der alles grau einfärbte, fuhr er ins Büro. Um diese Zeit hatte Holger seinen Artikel für die Montagausgabe abgeschlossen und kam wohl nicht mehr auf die Idee, ihn am Telefon zu belästigen.

Der Nachtwächter murrte. "Da oben ist einer für Sie."

"Wer denn?"

"Keine Ahnung. So 'nen großer Schweigsamer." Also nicht Weisbart, schlecht gelaunt drückte er auf den Lichtknopf. Neben seiner Bürotür lehnte ein Mann an der Wand und schien im Stehen zu schlafen, bei der plötzlichen Helligkeit fuhr er hoch.

"Nein!", ächzte Kramer.

"Doch!" grunzte Hauptkommissar Rogge und stieß sich von der Wand ab. "Auf Sie habe ich gewartet."

"Sie haben mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt."

"Das wusste ich doch. Wollen Sie Ihr Büro nicht aufschließen?"

Wortlos gehorchte er. Hauptkommissar Jens Rogge leitete die Mordkommission, und mit dem 1.K. hatte Kramer normalerweise nichts zu tun. Rogge hatte er überhaupt erst vor einigen Monaten kennengelernt, als er durch seine Recherchen einem wegen Totschlags verurteilten Mann ein Wiederaufnahmeverfahren verschaffte, das mit Freispruch endete. Dabei hatte sich der Hauptkommissar, der die Ermittlungen gegen den Verurteilten geführt hatte, überaus fair verhalten, aber im Präsidium hatte es seinem Ansehen, das ohnehin durch interne Querelen arg lädiert war, mächtig geschadet. Seitdem hatte Kramer jede Begegnung vermieden, zum Teil aus Unsicherheit, zum Teil aus Sorge, zum größten Teil aber aus Unbehagen.

"Ich beiße nicht", versicherte Rogge trocken, und Kramer sah ihn einen Moment scharf an, bevor er das Licht anschaltete und das Fenster aufriss. Aus dem Lichtschacht drang kühle, frische, nach Sauberkeit schmeckende Luft herein.

"Möchten Sie einen Kaffee?"

"Gern. Es wird etwas länger dauern, fürchte ich."

Darauf zuckte Kramer nur die Achseln. Mit dem Fall Aktion 3 D, Deutschland den Deutschen, wollte er nichts zu tun haben und war deshalb fest entschlossen, alles zu leugnen, bis sie ihm das Gegenteil bewiesen. Rogge hatte seinen klatschnassen Regenmantel in die Garderobe gehängt und sich ans Fenster gestellt, als beruhige ihn das sanfte Tropfen aus der Dachrinne. Beide schwiegen sie hartnäckig, bis Kramer die Becher mit dem Kaffee auf den Schreibtisch stellte.

"Sie trinken schwarz, nicht wahr?"

"Ja. Danke." Rogge setzte sich und holte tief Luft. "Es geht um einen Selbstmord."

"Selbstmord? Wer?"

"Ein Joachim Baldur. Im Seniorenheim Abendfrieden, in Werlebach."

"Oh, verdammte Scheiße." Mit vielem hatte er gerechnet, aber damit nicht. Nein, damit nicht, er hatte vielmehr gehofft, einem totkranken, verzweifelten Mann mit der Aussicht, sein Kind gefunden zu haben, soviel Interesse - soviel Mut zum Leben eingeflößt zu haben, dass er seine Schuld vergaß. Nicht für immer, aber für den größten Teil der kurzen Frist, die ihm die Krankheit noch gönnte. Er hatte Schicksal spielen wollen und eine Verzweiflungstat ausgelöst. Gut gemeint war immer das Gegenteil von gut. Trotz des krampfhaften Schluckens schien seine Kehle ausgedorrt.

"Wann ist es passiert?"

"Gefunden wurde er heute Morgen. Gestern Abend hat er Schlaftabletten geschluckt, ein ganzes Röllchen. Schwere Tabletten."

"Ja, er hatte Krebs."

"Baldur hat drei Briefe hinterlassen." Rogge griff in die Jackentasche und zog einen Umschlag hervor. "Das ist Ihrer."

Eine zittrige, große, steile Schrift. "Herrn Rolf Kramer, Privatdetektiv."

"Wir haben in seinen Unterlagen das Doppel eines Vertrages mit Ihnen gefunden."

"Ja, ich habe für ihn gearbeitet." Schwerfällig schlitzte er den Umschlag auf. Ein Blatt Papier, ein Verrechnungsscheck über 20 000 Mark. Nein, das nicht auch noch. Übelkeit stieg aus seinem Magen hoch.

Lieber Herr Kramer,

wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich freiwillig aus dem wenigen Leben geschieden, das mir noch beschieden war. Ich möchte Ihnen für Ihre Arbeit danken, für alles, was Sie herausgefunden haben. Sie haben mir versprochen, alles aufzuschreiben, damit es nie vergessen wird. Zeigen Sie es bitte der Polizei - und entscheiden Sie, ob es Elke lesen soll. Wenn nicht gleich, dann vielleicht später.

Der Scheck ist für Ihre Zeit und Ihre Mühe. Ich danke Ihnen, besonders für unser letztes Gespräch.

Ihr Joachim Baldur.

"Darf ich den Brief lesen, Herr Kramer?"

"Gibt es den Hauch eines Zweifels an Baldurs Selbstmord?"

"Nein!"

Stumm schob er den Brief samt Scheck hinüber, und während Rogge las, holte er zwei Pinnchen und den Himbeergeist aus dem Kühlschrank. Vielleicht half es, den Magen zu beruhigen, auch wenn die Übelkeit ganz woanders saß. Er goss ein, schloss den Stahlschrank auf, holte den dünnen Schnellhefter heraus und schüttelte den Kopf: "Erst trinken, sonst muss ich kotzen."

"Schuldgefühle?"

"Ja."

"Zum Wohl."

Widerlich, dieses eiskalte, kratzende Zeugs, das in der Speiseröhre, dann im Magen brannte. Auch Rogge schüttelte sich und berichtete leise: "Er hat noch zwei Briefe geschrieben, einen an eine Elke Fröhling und einen an einen Rechtsanwalt Christian Bülow."

"Ich kenne beide."

"Mit Bülow haben wir schon gesprochen. Er war am Samstagnachmittag in Haus Abendfrieden, weil Baldur ihn darum gebeten hatte, er wollte seinen Nachlass ordnen."

"Im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte?" warf Kramer bitter ein, und Rogge erwiderte nachdenklich: "Ja, doch, die Ärztin und ein Zivi haben unterschrieben."

"Hat Bülow Ihnen verraten, was Baldur verfügt hat?"

"Jein. Nur in groben Umrissen. Seinen ehelichen Kindern hinterlässt er nur den Pflichtteil, mit seiner geschiedenen Frau bestand ein Ehevertrag, den ich nicht kenne, den gesamten Rest erbt eine Elke Fröhling. Die hat Baldur übrigens am Samstagmorgen im Haus Abendfrieden besucht. Sagt der Zivi."

"Im Augenblick ist sie mit meiner Flurnachbarin unterwegs."

"Mit dieser Anielda?"

"Ja, wir drei waren heute im Thermalbad, in Dreschbach."

"Wer ist diese Elke Fröhling?"

"Lesen Sie!" Der Schnellhefter schien ihm die Hand zu verbrennen, und deswegen goss er rasch aus der kalten Flasche nach. Besaufen nutzte gar nichts, schob höchstens den Katzenjammer hinaus, aber auch das musste manchmal sein. Ein erwachsener Mann weinte nicht, obwohl er seltsam sicher war, dass Rogge ihn nicht verachten würde. Als er wieder nachschenken wollte, beugte sich Rogge vor und nahm ihm die Flasche aus der Hand, ohne den Kopf von dem Hefter zu heben. Wahrscheinlich hatte er Recht.

Die Visitenkarte lag in der Schreibtischschublade, er tastete Marx' Privatnummer, eine Anschrift fehlte. Nach dem ersten Klingelton zirpte, blubberte und knackte es im Hörer; was da gerade geschah, konnte er sich gut vorstellen, aber seine Abhörgeräte funktionierten geräuschlos.

"Ja bitte?"

"Guten Abend, Herr Marx, hier ist Rolf Kramer."

"Guten Abend, Herr Kramer." Rogge unterbrach seine Lektüre und runzelte die Stirn.

"Sie haben gestern auch das Tageblatt gelesen?"

"Natürlich."

"Die Geschichte wird eine Fortsetzung haben, und ich fände es schön, wenn zwei Namen darin vorkämen. Hermann Sickert und Doris Sickert, geborene Weigand, Lattenburg, Zwanzigerstieg 13."

"...Zwanzigerstieg 13", wiederholte Marx, "ja, ist notiert."

"Früher wurde den beiden ein Gehalt aus der Normannenstraße angewiesen."

"Oh!" Wirklich überrascht schien Marx nicht zu sein, aber vielleicht hatte er lange trainiert, sein Erstaunen nie zu zeigen.

"Der Mann, der gegen sie aussagen könnte, hat gestern Selbstmord begangen, und der Gedanke, sie könnten deshalb ohne jede Strafe davonkommen, missfällt mir sehr."

"Mit anderen Worten: Sie hoffen oder erwarten, dass wir den beiden einheizen?"

"So ähnlich, ja."

"Ihnen ist doch bekannt, dass wir keine exekutiven Befugnisse haben."

"Halten Sie sich immer daran?"

Marx kicherte melodisch, ihn zu kränken brauchte es gröbere Kaliber, und beleidigen ließ er sich nicht von jedem. "Die freiheitlich-demokratische Grundordnung kennt den Begriff der Rache nicht. Aber nach der Lektüre des ausgezeichneten Artikels von Holger Weisbart plagt mich so ein komisches Gefühl, dass wir Ihren Wunsch wohlwollend prüfen sollten. Allerdings nur und so weit, wie sich Staatsanwaltschaft und Staatsschutz des Themas nicht annehmen."

"Die Spielregeln glaube ich zu kennen. Guten Abend, Herr Marx."

"Vielen Dank für Ihren Anruf, Herr Kramer."

Rogge musterte ihn eine lange Minute aus schmalen Augen, seufzte schließlich und vertiefte sich wieder in seine Lektüre.

Das Schweigen tat ihm gut.

Endlich klappte der Hauptkommissar den Hefter langsam zu und legte ihn behutsam auf den Tisch. Kramer sah ihm blicklos zu.

"Ein Ludwig Baldur ist gestern Abend festgenommen worden. Ich hab's zufällig mitbekommen. Verdacht auf Beihilfe und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung."

"Er hat sich an der Gesellschaft rächen wollen."

"Mit zweifachem Mord, Brandstiftung, Körperverletzung..."

"Hat er wirklich gewusst, was Martin Wolzeks Leute taten?"

"Das soll ein ordentliches Gericht entscheiden."

"Das wird Taten ahnden, vielleicht, aber kein Leben beurteilen. Oder verurteilen."

"Nein, das nicht."

"Und wer zieht diejenigen zur Rechenschaft, die Joachim Baldur ein Leben lang erpresst haben? Und gleichzeitig das Opfer Ludwig Baldur ein Leben lang irregeführt und ausgebeutet haben?"

"Sie haben im staatlichen Auftrag gehandelt, und ihr Staat ist untergegangen."

"Die Schuld damit auch?"

Rogge nippte an seinem Glas und schaute an Kramer vorbei. Vielleicht gab es auf diese Frage eine Antwort, aber es war nicht seine Aufgabe, sie zu formulieren. Und um diese Tageszeit war es ohnehin zu spät, mit dem Versuch zu beginnen. Plötzlich lachte er leise: "Ich mache Ihnen ein Angebot. Freitags abends treffe ich mich ziemlich regelmäßig mit einem alten Freund und einer alten Bekannten zum Skat. Im 'Planschbecken' - kennen Sie das? - fein, ich würde mich freuen, wenn Sie nächsten Freitag dazu kämen. Neunzehn Uhr, abgemacht? Auch beim Skat freut man sich, wenn man eine Runde aussetzen darf. Zum Wohl, Herr Kramer."

ENDE

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

Подняться наверх