Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 28

Vierter Freitag

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Weintrauben und Äpfel vertrugen sich doch nicht so recht, zumindest nicht in der vergorenen Form; sein Kopf brummte leicht. Es konnte natürlich eine Frage der Quantität sein, nicht unbedingt der Komposition, und eine sorgfältige Inspektion der Flasche bestärkte ihn in dieser Erklärung. Über Nacht hatte es abgekühlt, der Himmel war bezogen, und bei geöffnetem Fenster konnte der Restalkohol rückstandslos verdunsten.

Bis elf Uhr hörte er alle halbe Stunde Nachrichten, aber weder Stadtradio noch ein anderer Sender berichtete etwas über die Aushebung eines Waffenlagers. Dann konnte er es nicht länger aufschieben, stiefelte zum Büro und setzte sich ins Auto.

Millsen war vor der Eingemeindung ein winziger Flecken direkt am Fluss gewesen und erst in den sechziger Jahren gewachsen, als die Uferstraße bis zum Zweiten Ring in der Stadt weitergeführt wurde. Seitdem baute hier in schönster Hanglage, wer sich astronomische Grundstückspreise leisten konnte, und die Villen versteckten sich hinter Mauern, hohen Zäunen und dichten Hecken. Auf halber Höhe begann der Buchenwald, der die Hügelkuppen bedeckte, und dank des Geldes und des damit verbundenen Einflusses waren alle Hangstraßen als Sackgassen angelegt. Wie der Zypressenweg.

Er bremste vor Nummer 17 und bewunderte durch das Gittertor den Garten bis zum hangabwärts liegenden Haus. Für seinen Geschmack etwas zu perfekt, er mochte keine geschorenen Bäume und Sträucher und Blumen in Exerzieraufstellung, er störte sich auch nicht an etwas Moos im Rasen, aber der Gärtner war seinen Lohn wert gewesen.

Nach dem Läuten musste er eine Minute warten, bis eine Frauenstimme in der Gegensprechanlage fragte: "Guten Tag. Sie wünschen?"

"Guten Tag, mein Name ist Arndt. Ich hätte gern Herrn Christians, Peter Christians gesprochen."

"Sind Sie angemeldet?"

"Nein."

"Dann tut es mir leid, Herr Christians ist ohne Anmeldung nicht zu sprechen."

"Ich glaube, in meinem Fall wird er eine Ausnahme machen. Richten Sie ihm doch bitte aus, ich käme im Auftrag von Sonja.

Wachsmann. Sonja Wachsmann aus der 'Kerze'."

"Warten Sie bitte."

Es dauerte fünf Minuten, bis es im Lautsprecher wieder knackte. "Herr Christians möchte Sie sprechen." Neben dem Gittertor der Einfahrt schnarrte ein Öffner, und er stieß die Pforte auf. Auf seiner Seite schien das Haus groß und einstöckig zu sein, er vermutete, dass die Wohnräume eine Treppe tiefer lagen. Der Blick auf den Fluss und den Auenpark am anderen Ufer stimmte ihn neidisch, wer sich hier eine Villa leisten konnte, hatte ausgesorgt, und manchmal bot Reichtum eine vorzügliche Tarnung.

In der geöffneten Haustür stand eine ältere Frau, die ihn besorgt musterte. Sie hatte graue Haare und trug eine weiße gestärkte Schürze.

"Guten Tag, Herr Arndt."

"Guten Tag", grüßte er höflich.

"Würden Sie mir bitte folgen?" Wie er gedacht hatte, es ging eine breite, geschwungene Treppe abwärts, sie blieb neben einer offenen Tür stehen, durch die Sonnenlicht auf die beigen Steinplatten des Vorraums fiel. "Bitte!"

Mitten im Zimmer erwartete ihn ein beeindruckender Mann, mit einem strengen Gesicht und einem energischen Kinn. Die vollen weißen Haare täuschten nicht darüber hinweg, dass er noch im Vollbesitz seiner Kräfte war, auch wenn er sich auf einen Stock stützte. Kein Greis, der sich einschüchtern ließ. Die Einrichtung des riesigen Zimmers passte zu ihm: kühl, streng, auf das Nötigste beschränkt.

"Guten Tag, Herr Christians", sagte Kramer nüchtern. "Oder soll ich Sie Lambert nennen?"

Der Weißhaarige musterte ihn einen Moment ironisch, nicht im Geringsten verwirrt oder gar aus der Fassung gebracht. Die Lider hatte er halb gesenkt. Endlich knurrte er. "Lassen Sie den Quatsch! Wenn Sie wissen, dass ich Sonja Wachsmann aus der 'Kerze' kenne, wissen Sie auch, dass ich Ludwig Baldur heiße, Herr Kramer."

"Eins zu Null für Sie", lobte er ironisch. Baldur deutete flüchtig auf einen Sessel. "Setzen Sie sich und sagen Sie, was Sie loswerden wollen."

"Vielen Dank, so lange möchte ich gar nicht bleiben."

"Wie Sie wollen. Was haben Sie mir von Sonja auszurichten?"

"Gar nichts, Herr Baldur, das war nur ein Vorwand, um vorgelassen zu werden."

"Dann ist unser Gespräch hiermit beendet."

"Aber ich hätte Ihnen etwas anderes zu sagen, allerdings unter der Voraussetzung, dass Sie mir eine einzige Frage beantworten."

Baldur verzog den Mund, und es war nicht auszumachen, ob aus Heiterkeit oder Verärgerung.

"Sehen Sie, wenn Sie meinen Namen kennen, wissen Sie auch, dass ich Privatdetektiv bin. Entweder haben Sie die Anzeige im Tageblatt gelesen oder man hat Ihnen den Inhalt erzählt, wie auch immer, Sie haben völlig richtig kombiniert, dass mich Ihr Bruder Joachim beauftragt hat, dass es um den Tag geht, an dem Sie verurteilt worden sind."

"An dem Jochen mich verflucht hat."

"Richtig. Warum haben Sie sich nicht gemeldet?"

"Mein Bruder ist tot." Unvermittelt lachte er, und die Wut machte das Geräusch sehr hässlich. "Für mich."

"Ist das die Antwort?"

"Ja."

Enttäuscht wartete Kramer einen Moment, aber Baldur schaute ihn wieder ausdruckslos an und bewegte keinen Muskel. Nein, hier kam er nicht weiter. Dieser Hass saß zu tief, den konnte nichts mehr erweichen.

"Schade. Gut, dann will ich Ihnen nur noch sagen, ich weiß, dass Sie Edith Troy nicht ermordet haben. Ich kenne den Täter, ich habe sogar die Beweise."

"Dann sind Sie klüger als ich, Herr Kramer." So viel verächtliches Desinteresse konnte doch nicht echt sein, für Sekunden schoss die Wut in ihm hoch, bis er im letzten Moment gerade noch merkte, dass er genau das tat, was Baldur erhoffte. Ein wirklich gefährlicher Gegner.

"Den Zustand würde ich gern erhalten, Herr Baldur. Deshalb nur etwas zum Nachdenken für Sie: Der Täter hat seinerzeit Hilfe bekommen, um nicht verurteilt zu werden, Hilfe von Menschen, für deren Ideologie Sie sich seit der Entlassung aus dem Gefängnis eingesetzt haben. Die - wie sagt man so schön? - die Organe dieses kommunistischen Staates haben dem Täter geholfen und haben zugleich Ihre Hilfe, Ihr Geld, Ihren Einsatz angenommen, wohl wissend, dass man einen Mörder deckte und Sie dadurch ins Gefängnis schickte und dann ausnutzte."

"Unsinn", höhnte Baldur.

"Stellen Sie sich mal diese Ironie vor! Sie werden Kommunist, weil Sie überzeugt waren, dass ein verfaultes konservatives System Sie zu Unrecht um zwölf Jahre Ihres Lebens betrügt, und zu diesem Fehlurteil kam es nur, weil die Kommunisten aus eigensüchtigen, menschenverachtenden Motiven Zeugen zu Meineiden anstifteten, dieselben Roten, die nachher Ihr Geld und Ihre Person so wundervoll für ihre Zwecke benutzten."

"Sind Sie fertig?"

"Ja. Ein Sprichwort sagt, dass, wer im Dreck wühlt, schmutzige Hände bekommt. An Ihren Händen klebt außerdem Blut - nein, nein, nicht das von Edith Troy -, und deswegen bin ich tatsächlich fertig mit Ihnen."

"Den Weg hinaus finden Sie ja wohl allein."

Stumm verbeugte er sich und ging. Auf der Treppe fiel ihm die Wendung ein: versteinert vor Hass. Die Frau mit der Schürze ließ sich nicht blicken, und der Garten erschien ihm leblos und nutzlos.

Die Halle in Haus Abendfrieden war leer, auch hinter dem Glasfensterchen saß niemand, und die Geräusche, die das Haus erfüllten, irritierten ihn, weil er nicht heraushörte, woher sie kamen und was sie bedeuteten.

Er klopfte kurz an die Tür des Zimmers Nummer 22 und öffnete sie sofort. Baldur saß in seinem Ohrensessel, aber heute schlief er nicht, brauchte er auch keine Decke, sondern sah ihn ruhig und fest an, ein schwacher und alter Mann, aber in diesem Moment kein Kranker, er konnte sogar lächeln.

"Guten Morgen, Herr Baldur."

"Guten Morgen, Herr Kramer. Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte setzen Sie sich doch."

Das Fenster stand einen Spalt auf, und die Kühle empfand er als angenehm. Baldur hatte einen dicken Pullover, dicke Socken und eine feste Cordhose angezogen.

"Wenn Sie rauchen möchten, was in diesem Haus streng verboten ist - im Schrank, zweites Fach links, steht ein Aschenbecher."

"Danke, aber ich halte es ganz gut ohne aus."

"Ach was, erstens rieche ich es gerne, und zweitens ist es doch lachhaft, einen Krebskranken wie mich so zu schonen."

Um Zeit zu gewinnen, holte er den Aschenbecher und rückte den Stuhl etwas zurück. Unbehaglich war eine gewaltige Untertreibung für seine Stimmung, und Baldur schien zu ahnen, was seinen Besucher beunruhigte.

"Herr Kramer, können wir uns darauf einigen, dass heute keiner dem anderen Vorwürfe macht?"

"Ja."

"Ich habe das Gefühl, dass die Zeit für absolute Ehrlichkeit gekommen ist."

"Ja. " Er seufzte. "Wenn Sie mir nicht immer verschwiegen hätten, dass Sie..." Er brach ab, weil Baldur eine Hand hob.

"Entschuldigen Sie bitte, ich weiß nicht, wie lange meine Aufmerksamkeit vorhält, deshalb würde ich gern die Fragen stellen."

"Bitte." Ja, so mochte es gehen, er entspannte sich.

"Diese junge Frau, diese Elke Fröhling, die Sie gestern mitgebracht haben - wer ist das?"

"Haben Sie sie erkannt?"

"Erkannt? - nein. Müsste ich das?"

"Aber Elkes Gesicht hat Sie an jemand erinnert?"

"Ja. Seltsam, dass Sie das sagen. Ich weiß nicht mehr, an wen, aber es hat mich den ganzen Tag beschäftigt. An wen erinnert sie mich?"

"An die Mutter, vermutlich. Marga hieß sie mit Vornamen, Sie haben Marga 1965 in Bitterfeld in der DDR gekannt, und ich glaube, Elke ist Ihre Tochter, Herr Baldur."

Der alte Mann tat nicht einmal so, als sei er überrascht oder erstaunt oder verwirrt; zwei, drei Sekunden presste er die Lippen zusammen und kniff die Lider fest zu. Dann sah und hörte Kramer, dass Baldur tief durchatmete, und als er die Augen aufschlug, schien er gelassen, fast heiter.

"Sie haben sehr gründlich recherchiert."

"Vielleicht. Möchten Sie die ganze Geschichte hören?"

"Muss das sein?"

"Einige Einzelheiten fehlen mir noch."

"Die ich Ihnen nachliefern soll?"

"Es wäre - hilfreich. Sie müssen nicht reden, Herr Baldur. Schauen Sie, ich bin von hier nach unserem ersten Treffen weggefahren und habe mir überlegt, warum ein Mann, der nur noch wenige Monate zu leben hat, unbedingt noch einmal seinen Bruder sprechen will, den er im Gerichtssaal verflucht hatte."

"Haben Sie es herausgefunden?"

"Ja, Sie haben am Montag, den 10. September 1962, Edith Troy erdrosselt. Nicht Ihr Bruder Ludwig."

Baldur sah ihn nicht an, sein Blick war irgendwohin hingerichtet, und die stille Heiterkeit auf seinem Gesicht rührte vielleicht - hoffentlich von der Erleichterung her, dass er nicht länger Theater spielen musste.

"Nach dem Streit mit Ihrem Bruder in der Firma haben Sie sich nur noch wenige Minuten mit Bernd Sattler unterhalten, gerade lange genug, dass der Ihnen noch seine Sorgen wegen der Werkswohnung in der Eichendorffstraße erzählen konnte. Aber sie haben ihn rasch abgewimmelt und sind in die Hansastraße gefahren, zu Edith. Sie telefonierte gerade und schaute auf die Straße, als Sie unten ausstiegen, und hat mit der Bemerkung aufgelegt, da käme einer der verrückten Brüder. Der Streit war laut, aber kurz, und als Edith Ihnen sagte, dass sie sich für Ludwig entschieden hatte, haben Sie den Schal genommen und sie erdrosselt."

Angeekelt drückte Kramer die Zigarette aus, die jetzt wie Stroh schmeckte.

"Der Schock über das, was Sie getan hatten, und die Wut über Ediths Worte, dass sie Ludwig vorziehen wollte, vielleicht auch die Angst vor den Folgen und vor Ihrem Vater ernüchterten Sie so weit, dass Sie krampfhaft überlegten, was Sie tun sollten. Sie brauchten ein Alibi, und da fiel Ihnen Bernd Sattler ein. Ein Mann, der unbedingt etwas von Ihnen wollte. Sie sind in die Eichendorffstraße gerast und hatten Glück, Sattler war allein in der Wohnung, und sie haben ihm versprochen, alle seine Wünsche und noch viel mehr zu erfüllen, wenn er vor der Polizei aussagen würde, er hätte sich mit Ihnen eine Stunde lang gestritten. Eine ganze Stunde."

"Ein dummer, geldgieriger Mann, der zuviel trank."

"Ja. Dumm, skrupellos und geldgierig. Aber in dem Moment hatten Sie keinen anderen, der Ihnen helfen konnte. Von der Eichendorffstraße aus fuhren sie in Ihre Stammkneipe und inszenierten Ihr Alibi mit dem Besäufnis, der Wirt nahm Ihnen die Autoschlüssel ab, und Sie schliefen Ihren Rausch im Hinterzimmer aus."

Baldur betrachtete ihn aufmerksam. "Ich war an dem Abend wirklich betrunken."

"Wie Ihr Bruder Ludwig. Aber der betrank sich in seiner Haushälfte Limbacherweg 18. Ohne Zeugen. Und sein auffälliger Sportwagen, den jedermann in der Firma kannte, stand entweder auf der Straße oder in der Garagenauffahrt."

"Nein, in der Garage", korrigierte Baldur leise.

"Zu der Sie Schlüssel besaßen, nicht wahr?"

"Ja, auch zu seinem Haus. Wie er zu meinem."

"Ludwig hatte also, im Gegensatz zu Ihnen, kein Alibi. Das war nach der Drohung, die er gegen Edith ausgestoßen hatte, für ihn gefährlich, aber allein deswegen hätte ihn das Gericht nicht verurteilt."

"Nein", flüsterte Baldur und schaute wieder zur Seite.

"Bernd Sattler hatte eine Freundin."

"Das wusste ich damals nicht. Aber später", ergänzte der alte Mann bitter.

"Doris Weigand. Sie kannten sie?"

"Ja und nein. Sie arbeitete auch bei Selatan, im Labor, eine Arbeitskollegin von Edith, nein, schon mehr, beinahe eine Freundin, daher kannten wir sie alle. Sie wohnte auch in der Hansastraße, schräg gegenüber von Edith."

"Und Doris Weigand kannte Maren Winkelmann, nicht wahr? Die junge Dame mit dem begabten Bruder Albert und den reichen Eltern, die so unsterblich in Joachim Baldur verliebt war, dass sie in den Semesterferien in der Firma jobbte, nur um ihrem geliebten Jochen nahe zu sein."

"Spotten sie nicht!", wehrte Baldur ab.

"Ich spotte nicht, Herr Baldur, ich erkläre Ihnen nur das Motiv..."

"Einen Teil, Herr Kramer. Aber einen wichtigen Teil, ja, das stimmt."

"Sattler konnte nicht anders, er musste seiner Freundin Doris verraten, was er mit Ihnen ausgehandelt hatte. Ab jetzt tappe ich im Dunkeln - nein, sagen wir lieber, in diesem Punkt muss ich raten. Wem hat Doris Weigand alle diese Einzelheiten brühwarm berichtet? Wissen Sie das?"

"Heute ja. Die Firma, Abteilung HVA, hatte sie schon angeworben, bevor sie zu uns ins Werk kam."

"Die Firma ist...?"

"...war das Ministerium für Staatssicherheit."

"Und die Abteilung HVA...?"

"...die Hauptverwaltung Aufklärung. Spionage."

"Schon bevor sie zu Selatan kam? - ja, das erklärt vieles."

Baldur schüttelte fast ärgerlich den Kopf, er schien alle Energie zusammengekratzt zu haben. "Nur die Hälfte, Herr Kramer. Gut, Sattler wollte sein Geld, das bekam er auch, und als er bald die monatliche - Schweigesumme erhöhte, habe ich auch das klaglos gezahlt. Auf was ich mich eingelassen hatte, wurde mir erst klar, als aus heiterem Himmel diese Doris Weigand im Zeugenstand erschien und beeidete, sie habe zur Tatzeit das Auto meines Bruders in der Hansastraße gesehen. Da wurde mir blitzartig klar, dass ich mich nicht einem saufenden Erpresser in die Hand gegeben hatte, sondern einer anonymen Organisation. Einem unsichtbaren Kraken."

"Was wollte der denn von Ihnen? Produzierte Selatan in den sechziger Jahren so wichtige Dinge, dass die Stasi Sie unbedingt erpressen musste?"

"An einigen Kunststoffen und Leimen waren sie schon interessiert. Aber mehr noch an der Verfahrenstechnik, da begann die DDR in diesen Jahren schon nachzuhinken."

"Na schön. Ihr Bruder wird verurteilt - warum haben Sie, der Täter, ihn, den Unschuldigen, verflucht?"

Mit der Antwort ließ sich Baldur viel Zeit, und Kramer wartete geduldig. Wenn die Kräfte des kranken Mannes ausreichten, würde jetzt alles ausgesprochen; notfalls musste er noch einmal wiederkommen. Denn jetzt war eine unsichtbare Linie überschritten, er wollte - nein, er brauchte Gewissheit.

"Ich konnte nicht anders. Ich hatte Angst, da saß dieser Sattler im Saal, diese Weigand, und beide schauten mich an, dass ich dachte, alle Zuhörer, die Richter, der Staatsanwalt, alle müssen doch sehen, dass Ludwig unschuldig ist, dass ich Edith umgebracht habe."

Nein, das war nicht der Grund, Joachim verfluchte nicht seinen Bruder, der ihm die Geliebte weggenommen hatte, sondern sich selbst, der den drohenden Verlust nicht hatte ertragen können. Lieber zerstörte als sie einem anderen zu gönnen. Aber wenn Baldur das selbst in dieser Sekunde noch leugnen wollte, musste er es nicht richtigstellen.

"Dann - nach dem Prozess - lief Sattler aus dem Ruder?"

Baldur nickte müde. Vielleicht schämte er sich, aber die Erleichterung wog seine Verzweiflung auf.

"Soff immer mehr, wurde immer unzuverlässiger, forderte immer mehr Geld, selbst Doris bekam ihn nicht mehr unter Kontrolle."

"Ja, diese Weigand kam zu mir, offenbarte sich und erklärte eiskalt, an Selatan wären sie nicht mehr interessiert, sie böten mir ein anderes Geschäft an."

"Sattler zu beseitigen gegen was?"

"Marens Bruder baute eine Firma auf. Er hatte schon einige Patente, auf neue optische Gläser und Geräte. Linsen aus Kunststoff. Selen- und Kerrzellen. Geräte, an denen auch das Militär großes Interesse zeigte."

"Dann wussten - wusste die 'Firma' also, dass Maren in Sie verliebt war?"

"Ja, natürlich. Sie wussten alles, sogar Einzelheiten aus meinem Leben, die ich schon vergessen hatte."

"Das war, bevor Ihr Vater starb?"

"Zwei, drei Tage vorher. Dann starb mein Vater, und mir war klar, dass ich allein mit der Firma nicht fertig wurde, mir fehlte Ludwig."

"Sie haben also verkauft."

"Ja. Ich habe ganz vorsichtig verhandelt, Sattler durfte ja nichts erfahren, es durften also keine Gerüchte entstehen. Dann, als alles unter Dach und Fach war, bin ich heimlich nach Berlin gefahren."

"Nach Ostberlin."

"Ja. Sie glaubten, ich könnte ihnen in Leuna/Buna noch etwas zeigen. Das war ein Irrtum, Ludwig hätte ihnen vielleicht helfen können."

"Aber indirekt hat Ludwig Ihnen geholfen. Oder haben Sie nicht alle Unterlagen aus der Selatan mitgebracht, die Sie noch greifen konnten?"

"Doch, das habe ich."

"In Bitterfeld haben Sie Marga kennengelernt."

"Ja. Ich war sehr einsam, Herr Kramer, und die Männer, die mich abschirmten, verachteten mich. Ab und zu legten sie mir eine Postkarte aus fremden Ländern vor, die musste ich dann an Maren Winkelmann schreiben, die Organisation - der Krake hat sie im Ausland in den Briefkasten geworfen."

"Ihr Deckname war damals Wolfgang Hellweg?"

"Ja."

"Bernd Sattler ist im Januar 1965 angeblich betrunken vor ein Auto gelaufen."

"Ja. Im Februar oder März kreuzte diese Weigand für einen Tag wieder bei mir auf und zeigte mir die Zeitungsmeldungen. Und einen Brief, den Sattler an Doris Weigand geschrieben hatte, in dem er mich des Mordes an Edith beschuldigte und seinen Meineid eingestand. Seinen bezahlten Meineid."

"Sattler waren Sie also los, aber dafür hatten die anderen Sie in der Falle."

"Ich musste unterschreiben, dass Sattler in meinem Auftrag getötet worden war."

Wie bei einem richtigen Kraken, der erst einen Arm mit seinen Saugnäpfen um das Opfer schlang, dann einen zweiten, dritten.

"Nach zwei Jahren durfte ich wieder raus, ich sollte reisen, durch die ganze Welt im D-Zug-Tempo, die Legende musste doch stimmen."

"Wussten Sie, dass Marga von Ihnen schwanger war?"

"Ja, aber das mussten wir vor unseren - Bewachern verheimlichen."

"Hat Marga auch für die Stasi gearbeitet?"

"Vermutlich. Ich weiß es nicht. Nachts, in ihrem Bett, habe ich diesen Verdacht immer weit von mir gewiesen, aber wenn ich allein war..."

"Es spielt nicht wirklich eine Rolle. Sie sind also durch die Weltgeschichte gesaust und haben dann eines Tages Maren Winkelmann angerufen und sich mit ihr in Paris verabredet."

"Woher wissen Sie das?"

"Ich habe mit Ihrer geschiedenen Frau gesprochen - nein, ich habe nur zugehört und nichts erzählt."

"Es lief alles ab wie geplant, mein Geld hatte ich in Westdeutschland lassen dürfen, Albert Winkelmann nahm mich mit offenen Armen auf, ich wurde Teilhaber." Einen Moment schaute er Kramer nachdenklich an. "Ich habe Ihnen vieles verschwiegen, Sie aber nicht belogen."

"Nein, das weiß ich. Doris Weigand kam nach Neuss und trat in die Firma Winkelmann & Co ein. Um Sie immer unter Kontrolle zu halten."

"Sicher."

"Ihre Frau hat Sie übrigens einmal mit Doris Weigand in Köln gesehen, Herr Baldur. Und in Doris sofort die frühere Laborantin bei Selatan wiedererkannt."

"Maren ist sehr früh misstrauisch geworden. Musste sie ja auch. Sehen Sie, was Albert, mein Schwager, erfand oder entwickelte oder zum Patent anmeldete, war für die drüben wichtig, aber noch wichtiger war das, was Albert bei seinen Forschungsarbeiten vom Ausland erfuhr, was ihm Kollegen aus anderen Ländern erzählten oder an Berichten schickten. Nach außen hin hielt sich die Weigand völlig bedeckt, unsere Kontakte in der Firma waren gleich Null, aber intern, wenn wir unter vier Augen zusammenkamen, wurde sie immer dreister, stellte immer höhere Forderungen, ich hatte bald den Eindruck, dass die an meiner Tarnung gar nicht mehr interessiert waren."

"Nein, in dem Moment, wo man Sie ausgesaugt hatte, wollte man die leere Hülle dem Staatsschutz zum Fraß vorwerfen." Bevor er ausgesprochen hatte, schämte er sich wegen seiner Brutalität, aber Baldur hatte sie nicht einmal registriert. Die Realität hatte ihn noch härter behandelt.

"Dass meine Familie misstrauisch wurde, meine Ehe in die Brüche ging, konnte nicht ausbleiben." Auf Kramers drastischen Einwand wollte Baldur nicht reagieren. "Dann starb mein Schwager überraschend früh, Winkelmann & Co wurde verkauft, und ich hatte ausgedient. Meine Frau trennte sich von mir, ich kehrte hierhin zurück und hoffte, wenigstens im Alter meine Ruhe zu haben. Glauben Sie mir, Herr Kramer, Ludwig hatte zwölf Jahre gesessen, aber ich hatte auch meine Hölle durchlebt."

"Aber Doris Weigand blieb Ihnen nicht erspart."

"Auch das wissen Sie?"

"Sie tarnte sich als Ihre Haushilfe im Rosengarten. Warum hat sie ihren Namen gewechselt?"

"Sie hat geheiratet. Ihren früheren Führungsoffizier, der jetzt arbeitslos ist. Doppelt arbeitslos."

"Ach, das ist ja lustig. Nach dem Fall der Mauer haben Sie also Ihre Chance genutzt: Du, liebe Doris, hast mich in der Hand, aber ich habe dich und deinen früheren Führungsoffizier auch in der Hand, wir sind nun quitt. Schluss jetzt."

"So ähnlich. Aber es hat mir nicht viel genutzt, Herr Kramer. Mein Magen rebellierte schon lange, und endlich konnte ich den Besuch beim Arzt nicht länger aufschieben..."

"Wollten Sie sich hier im Haus Abendfrieden verstecken?"

"Verstecken?" Baldur zögerte. "Ja, das vielleicht auch. Nicht vor Doris, die kannte meine Anschrift. Aber vor Ludwig. Vor vielen Menschen, auch vor meiner - Familie...nein, in erster Linie wollte ich meine Ruhe haben."

"Haben Sie dieser Doris erzählt, dass Sie Ihren Bruder Ludwig suchen lassen wollten?"

"Leider, ja. Ab und zu kreuzte sie hier auf, meistens bettelte sie dann um Geld, weil...die - die - Firma zahlte ja nicht mehr."

"Und? Haben Sie ihr Geld gegeben?"

"Ja, das war mir meine Ruhe wert. Aber als ich erwähnte, ein Rechtsanwalt habe mir einen Privatdetektiv empfohlen, der Ludwig für mich suchen sollte, platzte sie fast vor Aufregung. Auf keinen Fall, das dürfe ich auf keinen Fall tun, sie und diese Schießbudenfigur von Ehemann haben auf mich eingeredet wie auf einen lahmen Gaul." Einen Moment funkelten Ironie und Selbstbewusstsein in seinen Augen. "Aber kranke Männer schalten manchmal einfach ab, das ist so, da kann man lange reden."

"Haben Sie den beiden meinen Namen genannt?"

"Nein."

Also hatten sie erst durch die Anzeige erfahren, wer Ludwig Baldur suchte. Und Silke Glas hatte in seinem Büro genau gewusst, dass er ihr mit der Erbschaftsgeschichte einen Bären aufband; ihre Fähigkeiten als Schauspielerin hatte er gefährlich verkannt. Was ihn jetzt, da die Lawine bereits rollte, nicht mehr betrüben musste.

"Haben Sie nie versucht, Marga und Ihr Kind zu finden?"

"Nein. Sie unterschätzen das MfS. Doris hat mir schon vor vielen Jahren eine kopierte Todesurkunde und einen Zeitungsausschnitt gezeigt: Die ledige Marga Kusche, im achten Monat schwanger, hatte sich bei einem Sturz auf der Treppe das Genick gebrochen."

Baldur hatte den letzten Satz gehaucht, und Kramer fröstelte. Die Funktionäre an den Mühlen, in die Joachim Baldur geraten war, kannten keine Menschlichkeit und kein Erbarmen.

"Marga ist erst im vorigen Jahr gestorben, Herr Baldur. Nach Elkes Geburt hat sie geheiratet, eine gewissen Kurt Fröhling, eine gescheiterte Existenz, einen NVA-Soldaten, der aus dem Militär entlassen wurde, als seine Stiefschwester Edith Troy in den Westen floh."

Der gequälte Blick tat weh.

"Kurt kam nach dem Mauerfall hierher, um den Mörder seiner Stiefschwester zu suchen - behauptet er, vielleicht wusste er mehr über die Hintergründe, ich kann es nicht sagen, jedenfalls hat er Sie einmal auf dem Kanalfriedhof beobachtet, als Sie Blumen auf Ediths Grab stellten."

"Die Welt ist doch klein, nicht wahr?"

So konnte man es ausdrücken, aber inzwischen zweifelte Kramer an dieser simplen Erklärung. Die Vergangenheit bildete unsichtbare Fäden, einige Menschen waren stark genug, sie zu zerreißen, manche merkten den kleinen Ruck nicht einmal, andere hingen ihr Leben lang daran fest. Es gab Zufälle, natürlich, aber er hatte gelernt, ihnen zu misstrauen, erst zu prüfen, ob sich nicht als Zufall tarnte, was in Wahrheit ein Gespinst aus Vergangenheits-Fäden für Gegenwartszwecke war. Der jetzt erschöpfte Mann vor ihm hatte zu spät versucht, es abzustreifen.

"Wir sind fast fertig, Herr Baldur. Im Krankenhaus hat Marga ihrer Tochter noch erzählen können, dass ihr Vater Wolfgang Hellweg heiße. Dann kam Kurt zur Beerdigung und packte aus. Dass er einen gewissen Wolfgang Hellweg hier in der Stadt zufällig gesehen habe. Elke versucht seitdem, ihren Vater zu finden. Das ist alles."

"Ja, das ist alles. Alles. Wo wohnt diese Elke Fröhling?"

"Simmersweg 14. Sie hat kein Telefon, wenn Sie Elke anrufen wollen, müssen Sie bis nach 16 Uhr warten, dann erreichen Sie sie im Rosa Ferkel, das ist ein Spielautomaten-Salon in der Innenstadt, da jobbt sie."

"Vielen Dank, Herr Kramer. Und Sie werden Ludwig finden?"

"Ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen. Er lebt keine acht Kilometer Luftlinie von hier."

"Und? Wird er zu mir kommen?"

"Nein. Ich habe ihm auch nicht erzählt, wo er Sie finden kann. Er will nicht kommen, er will ihre Verzeihung nicht, Herr Baldur."

"Warum denn nicht?"

"Sie haben in einer schwachen Minute etwas angerichtet, was Ihr Leben zerstört hat. Er hat sein Leben danach systematisch zerstört, Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Es ist besser, wenn ich Ihnen nicht erzähle, was Ludwig getan hat."

Nein, das konnte und wollte er nicht. Für die zwölf Jahre, die Ludwig im Gefängnis verloren hatte, war Joachim verantwortlich, diese Schuld musste er tragen. Aber mit Ludwigs Taten nach der Haft musste er diesen kranken Mann nicht belasten.

"Ist das Ihr letztes Wort?"

"Ja, Herr Baldur, und Sie dürfen mir vertrauen: Es ist besser, wenn ich schweige. Besser für alle."

Baldur nickte schwach, sein Gesicht war grau geworden, er hielt die Augen geschlossen, und sein Kopf hatte sich auf die Brust geneigt. Zwei, drei Minuten hing ein klebriges Schweigen zwischen ihnen in dem kühlen Raum. Dann flüsterte Baldur: "Ich bin jetzt zu müde - ich muss nachdenken. Schreiben Sie bitte alles auf, es darf nichts verloren gehen."

"Gut. Ich warte. Sie können sich auf mich verlassen, Herr Baldur. Was wir heute besprochen haben, bleibt in diesen vier Wände, bis Sie etwas anderes entscheiden."

"Ich - ich danke - Ihnen, Herr Kramer. Für - für alles."

Vor dem kunstvoll geschmiedeten Tor von Haus Abendfrieden holte er tief Luft. Der Himmel war blauer geworden, der leichte Wind hatte sich fast völlig gelegt, er hatte überhaupt keinen logischen Grund zu frieren.

Anielda hörte seine Schreibmaschine und kam leise ins Büro, nach einem Blick auf sein Gesicht setzte sie sich und schwieg, bis er fertig war, mit der Geschichte zweier verpfuschter Leben, die nach dem ersten Fehltritt fremd- und ferngesteuert und dabei rücksichtslos zerstört worden waren. Bei seinem Seufzer, mit dem er den Schlüssel des Stahlschrankes umdrehte, wagte sie zu fragen: "Was machst du heute abend?"

"Nichts."

"Störe ich dich dabei?"

"Nein."

Sie half ihm beim Kochen, er sagte die ganze Zeit kein Wort, und ab und zu erhaschte er ihre ängstlichen Blicke von der Seite. Tief in seinem Magen bildete die Wut einen schmerzenden Klumpen, der sich einfach nicht auflösen wollte.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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