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5 Warum verändern sich die Dialekte und wie entstehen Dialektgrenzen?

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Dialekte verhalten sich wie Nationalsprachen. Sie verändern sich allein schon durch zwei Faktoren: durch die Zeit und durch den Raum. Kehren wir zur Illustration wieder auf die einwandernden Alemannen zurück. Zum Zeitpunkt der Einwanderung dürfte ihre Sprache noch relativ einheitlich gewesen sein. Dann aber trennten sie sich, ließen sich an verschiedenen Stellen im Süden nieder, hatten über Jahrhunderte nur noch mit den nächsten Nachbarn Kontakt – und da sich Sprache prinzipiell im Laufe der Zeit verändert, musste dies zu einer Aufspaltung des einheitlichen Alemannischen in verschiedene Dialekte führen. Hinzu kommt der Faktor Raum. Je nachdem, wo man sich niederließ, hatte man mit anderen Dialekten und Sprachen Kontakt. Diejenigen Alemannen, die sich am Oberrhein niederließen, standen nun jahrhundertelang bis heute unter einem starken mittelrheinischen Einfluss, denn der Rhein war immer in Südwestdeutschland die größte Verkehrsachse, und so konnten sachliche wie sprachliche Neuerungen aus dem Norden in dieses Gebiet eindringen. Der Neckarraum war durch den siedlungsleeren Schwarzwald vom Oberrhein aber lange Zeit abgetrennt und über die Donau als Verkehrsachse eher nach Osten orientiert. In den heutigen Dialekten zeigt sich dieser Einfluss durch den Faktor Raum allein schon dadurch, dass aus dem einheitlichen Alemannischen westlich des Schwarzwalds die oberrhein-alemannischen, östlich des Schwarzwalds die schwäbischen Mundarten entstanden sind.

Für die Entstehung von Dialektgrenzen gibt es mehrere Gründe. Einen ersten und für große Dialektgrenzen sehr wichtigen Grund haben wir mit den Siedlungsgrenzen schon kennengelernt. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass in der Frühzeit verschiedene Siedlergruppen oft noch relativ weit voneinander getrennt waren und zwischen den beiden Sprachräumen Ödland lag. Dieses wurde dann von beiden Seiten her besiedelt, bis die beiden Siedlergruppen an einer Stelle aufeinanderstießen. Und wenn beide Siedlergruppen unterschiedlich sprachen, bildete sich an dieser Stelle eine Sprach- oder Dialektgrenze. Die soeben geschilderte Entwicklung hat an der Außengrenze des Schwäbischen dreimal stattgefunden: am Kniebis, wo oberrhein-alemannische Siedler aus den Seitentälern des Rheintals auf schwäbische Siedler aus dem Neckarraum stießen, im Raum Ellwangen, wo alemannische Siedler nach der Gründung des Klosters Ellwangen den Wald nördlich des Klosters so lange urbar machten, bis sie auf fränkisches Siedlungsgebiet stießen, und am unteren Lech zwischen Augsburg und Donau, wo der relativ unbewohnte Raum zwischen Alemannen und Bayern erst recht spät intensiver besiedelt wurde, bis beide Sprachräume schließlich heute am Lech aufeinandertreffen. In einem engen Zusammenhang mit den Siedlungsgrenzen stehen die natürlichen Grenzen, wie wir am Beispiel des Schwarzwalds sehen konnten. Die Bedeutung solcher Grenzen für die Entstehung von Sprachgrenzen wird aber oft überschätzt. Was für den Schwarzwald stimmt, muss für Rhein, Donau und Lech nicht auch stimmen. Gerade beim Rhein, der heute als breiter Strom durch die Landschaft fließt, müssen wir daran erinnern, dass er bis zur Rheinregulierung durch Tulla im 19. Jahrhundert mit seinen zahlreichen Inseln und Flussarmen kein großes Verkehrshindernis darstellte, was dazu führte, dass Bauern früher auf beiden Seiten des Flusses Gelände besaßen und der Dialekt bis heute auf beiden Seiten des Rheins mehr oder weniger derselbe ist.

Alte Siedlungsräume schlagen sich häufig in der Aufteilung der alten Bistumsgrenzen nieder. Aber die alten kirchlichen Verwaltungen können aufgrund des Einflusses der Pfarrer auch direkt auf die Sprache einwirken. Bei allem, was mit der Kirche zu tun hatte, und hierzu zählen auch die Wochentage, konnte diese auf die Sprache der ihr unterstehenden Bevölkerung einwirken. So können wir zum Beispiel nachweisen, dass die ostschwäbische Bezeichnung Aftermontag „Dienstag“ nur im alten Bistum Augsburg üblich wurde. Dort müssen sie die Pfarrer gegen die alte heidnische Bezeichnung Zistag, in der der Kriegsgott Zio verehrt wurde, durchgesetzt haben. Die Bezeichnung Aftermontag ist dagegen ganz neutral und bedeutet nichts anderes als den Tag – man vergleiche englisch after – nach dem Montag. Interessant ist, dass im Raum Ellwangen die Nordgrenze des Verbreitungsgebiets von Aftermontag ebenso genau mit der Nordgrenze des alten Bistums Augsburg übereinstimmt wie bei der Südgrenze, wo diese Bezeichnung noch bis ins Lechtal und bis zum Fernpass reicht (Karte 5).

Eine weitere wichtige Rolle bei der sprachlichen Auseinanderentwicklung spielen die politischen Räume vom Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, die sogenannten „Territorien“. Ihre Außengrenzen galten jahrhundertelang und haben den Kommunikationsradius der Bevölkerung im Alltag stark eingeschränkt, denn diese Grenzen waren kontrollierte Grenzen, was noch Friedrich Schiller bei seiner Flucht aus Württemberg ins ausländische Mannheim enorm behindert hat. Es ist daher kein Wunder, wenn Territorialgrenzen immer wieder mit wichtigen sprachlichen Grenzen zusammenfallen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Territorium von Alt-Württemberg, innerhalb dessen sich offenbar die bereits oben erwähnte lautliche Entwicklung der alten langen i-, u- und ü-Laute zu den Zwielauten -ei- und -ou- in Wörtern wie Hous „Haus“, Zeit „Zeit“, Heiser „Häuser“ besonders gut ausbreiten konnte. Da die Territorien nach der Reformation für die Konfessionszugehörigkeit die entscheidende Rolle spielten, kommt als weiterer Faktor bei der Entwicklung und Abgrenzung von Dialekträumen die Religionszugehörigkeit hinzu. Dieser Faktor ist deswegen wichtig, weil er auch nach der Auflösung der Territorien noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bei der Partnerwahl eine bedeutende Rolle spielte. Ältere Leserinnen und Leser dieser Zeilen werden sich noch daran erinnern, dass man früher keinen Partner aus der „falschen“ Religion nach Hause bringen durfte. Die Religionszugehörigkeit kann aber nicht nur wie die Territorialzugehörigkeit den Kommunikationsradius einschränken, sondern sie kann – ähnlich wie die alten Bistümer – auch direkt auf einzelne Wörter einwirken. Und selbstverständlich sind das dann Wörter, die mit der Religionsausbildung zusammenhängen. Als Beispiel sei das Wort „Seele“ genannt, das im Schwäbischen in vielen katholischen Gemeinden mit einem geschlossenen -e- als Seel, in vielen evangelischen Gemeinden dagegen mit einem ä-Laut als Sääl ausgesprochen wird.


Die Bedeutung der Siedlungsgrenzen und der Territorialgrenzen für die Auseinanderentwicklung und Grenzbildung der Dialekte erreichen die heutigen politischen Grenzen nicht. Die Aufteilung in Bundesländer und Landkreise ist zu jung, als dass sie sich auf große sprachliche Prozesse auswirken könnte. Man sieht dies deutlich allein schon an der Tatsache, dass sich das Schwäbische sowohl in einem anderen Bundesland, nämlich Bayern (Bayerisch-Schwaben), als auch in einem anderen Nationalstaat, nämlich Österreich (Gebiet um Reutte/Tirol) fortsetzt. Solche Grenzen spielen nur bei neueren Begriffen aus der Verwaltung eine Rolle. So kennt man nur in Bayern das Wort Schulaufgabe in der Bedeutung „Klassenarbeit“, und die Staatsgrenze zu Österreich wird dann Wortgrenze, wenn es um die Bezeichnung für den Bürgermeister geht, der dort weder Schultes noch Bürgermeister, sondern Vorsteher heißt.

Über alle Jahrhunderte hinweg spielt die Verkehrsanbindung für die sprachliche Entwicklung ebenfalls eine entscheidende Rolle. In der heutigen Dialektlandschaft sieht man das zum Beispiel im Raum Heilbronn, wo die Verkehrsströme den Neckar entlangziehen. Das Gebiet nördlich von Heilbronn, das in lautlicher Hinsicht und damit traditionell zwar zum fränkischen Sprachraum gehört, kennt zahlreiche schwäbische Wörter, deren Verbreitung eindeutig mit dem Neckar als Verkehrsachse zusammenhängt. Ein schönes Beispiel hierfür ist das typisch schwäbische Wort beigen „Holzscheiter aufschichten“, dessen Verbreitung erst außerhalb eines Keils um den Neckar herum auf das fränkische aufsetzen-Gebiet stößt (siehe Karte 6).


Schließlich ist aber auch noch das Prestige einer Bevölkerungsgruppe und damit ihrer Sprachform für den Sprachwandel ausschlaggebend. Wir sehen dies deutlich an einem Prozess, der sich gerade im oberschwäbischen Raum abspielt. Dort ersetzen heute jenseits der jahrhundertealten schwäbischen Außengrenze schwäbische Lautungen wie Hous und Zeit die alten alemannischen Lautungen Huus und Ziit. Den Anfang machen hierbei die Städte, wo offenbar das Schwäbische ein höheres Prestige besitzt als das Alemannische. Da die städtische Sprechweise dann ihrerseits gegenüber der ländlichen Sprachform höheres Prestige besitzt, wird sie auf dem Land übernommen. Auf diese Weise bewegt sich die alemannisch-schwäbische Grenze in Oberschwaben heu te in Richtung Bodensee.

Große Dialektgrenzen bilden sich dann, wenn gleich mehrere der oben genannten Faktoren zusammenkommen. Und genau dies ist bei den drei stärksten Außengrenzen des Schwäbischen am Kniebis, im Raum Ellwangen und am unteren Lech der Fall. Während aber die Kniebisgrenze aufgrund der neuen politischen Zugehörigkeit zum Raum Freudenstadt und der damit verbundenen Verkehrsanbindung heute eine völlig neue Orientierung nach Osten erfährt, die dazu führt, dass die schwäbisch-alemannische Grenze dort ebenfalls in diese Richtung verschoben wird, haben die beiden anderen genannten Außengrenzen nichts an ihrer Stärke und Bedeutung verloren. Dies hängt zweifellos mit einem Faktor zusammen, den wir als Letztes in diesem Kapitel über Dialektwandel und Dialektgrenzen erwähnen wollen: Es ist das Bewusstsein, anders zu sein. Am Beispiel Ellwangen soll dies kurz illustriert werden. Ellwangen liegt etwa gleich weit von den vier Großstädten Stuttgart, Nürnberg, Ulm und Würzburg entfernt. Dennoch bevorzugen die Einwohner bei der Wahl des Ausbildungsortes, bei der Berufswahl, bei der Wahl der Einkaufsstadt eindeutig Stuttgart, gefolgt von Ulm. Beide Städte liegen im schwäbischen Sprachraum. Den Weg nach Würzburg oder Nürnberg findet kaum jemand. Auch die benachbarte Stadt Schwäbisch Hall, die ebenfalls im fränkischen Sprachraum liegt und im Volksmund nach wie vor einfach nur Hall genannt wird, wird kaum beachtet. Für die Ellwanger und ihre Nachbarorte besteht offenbar nördlich und westlich der Stadt eine klare „Bewusstseinsgrenze“, die man nicht überschreitet. Und dass diese Bewusstseinsgrenze auch heute, in einer Zeit der großen Mobilität, immer noch lebendig ist, ist schon erstaunlich und zeigt, wie relevant dieses Bewusstsein, zu welchem Raum man sich hingezogen fühlt, ist. Eine ausführlichere Darlegung dieser Sprachgrenze findet man im Kapitel über das Ostschwäbische.

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