Читать книгу Der schottische Bankier von Surabaya - Ian Hamilton - Страница 10
4
ОглавлениеAVA WOHNTE IN EINEM APARTMENT in Yorkville, im Zentrum Torontos, umgeben von Boutiquen, Kunstgalerien, Restaurants und den Ladengeschäften auf der nahegelegenen Bloor Street, die ein weltweites Spektrum an Kleidung, Schmuck und Lederwaren der Luxuskategorie präsentierten. Es war früher Montagnachmittag, als sie vor ihrem Gebäude vorfuhr, die Schlüssel ihres Audi A6 dem Concierge reichte und mit Maria zusammen den Fahrstuhl hinauf zu ihrer Eigentumswohnung nahm.
Die Fahrt von Orillia hatte lange gedauert, war aber ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatte ihre Mutter an ihrem Haus in Richmond Hill im Norden Torontos abgesetzt und dann den Don Valley Parkway in die Innenstadt genommen. Maria wohnte in einer Seitenstraße der Danforth Avenue, der östlichen Verlängerung der Bloor Street, nur wenige Kilometer entfernt, aber sie verbrachte den Nachmittag mit Ava, die ihren Vorrat an Instantkaffee bei Starbucks direkt gegenüber ihrer Wohnung aufstockte und Lebensmittel bei Whole Foods auf der Avenue Road einkaufte. Sie aßen in einem japanischen Restaurant zu Abend und kehrten in Avas Wohnung zurück, um Sex zu haben. Anschließend ging Maria, um sich auf die anstehende Arbeitswoche vorzubereiten.
Ava saß am Fenster und schaute auf die Avenue Road hinunter. Der Verkehr kam nur langsam voran und würde in den kommenden Tagen, wenn sich die Stadt nach dem langen Wochenende wieder bevölkerte, noch langsamer werden. Was zum Teufel fange ich mit mir an?, fragte sie sich, ehe sie zu Bett ging.
Sie schlief gut, war um halb acht wieder auf den Beinen, kochte Kaffee und holte die Zeitung herein. Sie trug Zeitung, Kaffee und ihren Laptop zu dem kleinen Tisch am Küchenfenster und blickte hinaus. Die Straße unter ihr wimmelte von Fahrzeugen, Fußgängerinnen und Fußgängern – alle wollten irgendwohin, alle hatten irgendetwas zu tun.
Sie fuhr den Laptop hoch und nahm sich ihre E-Mails vor. May Ling hatte ihre täglichen Aufzeichnungen geschickt und drängte Ava, ernsthaft darüber nachzudenken, sich geschäftlich zusammenzutun. Amanda Yee schrieb, ihr Vater sei von den Unternehmensplänen, die sie zusammen mit May Ling entwickelt hatte, sehr beeindruckt und überließ ihr mehr und mehr Verantwortung; zum ersten Mal rede er sogar davon, sich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. Michael erwähnte sie nicht. Ava hatte keinen Grund zu der Annahme, dass das ein schlechtes Zeichen war, aber dennoch vermutete sie es. Mimi hatte gemailt, um zu sagen, dass sie und Derek ein Haus in Leaside kaufen würden, einer Wohngegend, die von Karrierevätern und Cappuccino-Müttern bevölkert war. Ava spürte bereits, wie Mimi ihr entglitt. Und dann schrieb auch noch ihr Vater Marcus, dass die Krise mit Michael ihn zu dem Schluss gebracht habe, Liquidität zu benötigen. Er würde all seine Besitztümer verkaufen und das Geld in sicheren Rentenpapieren mit guter Verzinsung anlegen. Das würde ihm erlauben, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen, schrieb er. Mit welcher?, fragte Ava sich.
Alles ist im Fluss, alle verändern sich, dachte sie, und ihr Gefühl der Ziellosigkeit verstärkte sich.
Sie beschloss, eine morgendliche Joggingrunde einzulegen, sobald der Verkehr nachließ, und später am Nachmittag zu dem Haus hinüberzugehen, in dem sie in Bak Mei unterwiesen wurde und trainieren konnte. Sie hatte noch nicht zu ihrer früheren Form zurückgefunden, war aber nahe dran, und der Schmerz, den das Training mit sich brachte, war zu bewältigen.
Sie schlug die Zeitung auf, überflog die Nachrichten und widmete sich dann dem Wirtschaftsteil. Das Wort Ponzi sprang ihr in der Schlagzeile auf der ersten Seite ins Auge. Der Artikel hatte nichts mit Theresa Ngs Lage zu tun, aber er ließ ihren Namen in Avas Gedanken auftauchen und erinnerte sie daran, dass sie eine Verpflichtung zu erfüllen hatte. Sie griff zum Telefon und rief in Hongkong an.
Als Onkel nicht an sein Handy ging, versuchte sie es in seiner Wohnung. Lourdes, seit über dreißig Jahren seine Haushälterin, nahm den Anruf entgegen. »Ava, er hat sich hingelegt«, sagte die Philippinin. Ava vernahm eine Spur Besorgnis in ihrer Stimme.
»Stimmt etwas nicht mit ihm?«
»Lebensmittelvergiftung, sagt er.«
»Schon wieder? Hatte er nicht vor einigen Monaten schon mal eine?«
»Und seitdem etliche Male.«
»War er beim Arzt?«
»Er weigert sich.«
»Wie sehen die Symptome aus?«
»Er wird fiebrig und kriegt dann Schüttelfrost, übergibt sich, hat Durchfall. Ich zwinge ihn, warmes Wasser in kleinen Schlucken zu trinken, damit er nicht austrocknet.«
Ava hatte keine Veränderung bei ihm wahrgenommen, aber schließlich hatte sie ihn seit Macao auch nicht gesehen. Er hatte sie regelmäßig angerufen und war ihr wie immer erschienen. »Hast du mit Sonny gesprochen?«
»Noch nicht, aber das werde ich.«
»Nun, sag Onkel, dass ich angerufen habe, und wenn es ihm möglich ist, soll er mich zurückrufen.«
Ava ging ins Bad, um sich fertig zu machen. Während sie sich die Zähne putzte und das Haar kämmte, dachte sie über Onkel nach. Er war Ende sechzig oder Anfang siebzig gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, und selbst wenn sie ihre gemeinsamen Jahre hinzurechnete, kam er ihr alterslos vor. Der Gedanke, er könnte es nicht sein, deprimierte sie.
Ihr Lauf dauerte nahezu eine Stunde. Sie lief auf der Avenue Road nach Norden, am Upper Canada College entlang, wo die Söhne von Kanadas Elite nun in die Schule zurückgekehrt waren. Weitere Kinder trafen ein, während sie vorbeilief, dann durchquerte sie die wohlhabende Gegend von Forrest Hill und wandte sich anschließend nach Osten. Sie lief nach Mount Pleasant, dem westlichen Rand von Leaside – Mimis und Dereks neues Zuhause – und dann nach Süden, wobei sie Kinderwagen und philippinischen yayas auswich. Als sie die Bloor Street erreichte, wandte sie sich nach rechts und kehrte nach Yorkville zurück.
Es war fast zehn, als sie in ihr Apartment zurückkehrte. Das Benachrichtigungslicht ihres Telefons blinkte. Ava schaute auf die letzte Telefonnummer und sah, dass es Onkels war. Sie überlegte einen Moment, ob sie erst duschen sollte, doch dann griff sie zum Telefon und rief in seiner Wohnung in Hongkong an.
»Wei«, sagte Onkel.
»Ich bin’s – Ava.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen.«
»Mir geht es gut. Aber du rufst für gewöhnlich nicht an, wenn nichts Dringendes ist.«
»Tut mir leid, wenn ich dich beunruhigt habe«, erwiderte sie und freute sich, dass seine Stimme fest geklungen hatte. »Die Sache ist die, dass wir eine Art Auftrag angeboten bekommen haben und ich das Ganze mit dir besprechen und deine Meinung hören möchte.«
»Eine Art Auftrag?«
»Einen kleinen Auftrag. Von einer Vietnamesin, die meine Mutter kennt. Sie und ihre Familie sind um etwa drei Millionen kanadische Dollar geprellt worden.«
»Erzähl mehr«, sagte er.
Seine Reaktion überraschte sie. Ava hatte erwartet, dass er es rundheraus ablehnen würde, weil die Summe so viel kleiner war als bei den Aufträgen, die sie gewöhnlich annahmen. Ava erklärte Theresa Ngs Dilemma, und Onkel hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie fertig war, fügte sie hinzu: »Ich fühle mich verpflichtet, ihr heute oder morgen eine Antwort zu geben. Ich möchte nicht, dass sie falschen Erwartungen nachhängt.«
Onkel war so still, dass Ava sich fragte, ob er noch dran war. Dann sagte er: »Die Gesamtsumme beläuft sich auf ungefähr dreißig Millionen, sagst du.«
»Ja, das ist die Zahl, die sie genannt hat.«
»Dreißig Millionen zurückzuholen ist durchaus von Interesse für mich.«
Ava fragte sich, ob er sie richtig verstanden hatte. »Onkel, Theresa hat drei Millionen verloren, nicht dreißig.«
»Ich weiß. Aber all die anderen, die ihr Geld verloren haben – glaubst du nicht, dass sie es auch zurückhaben wollen?«
»Ich bin sicher, dass sie das wollen, aber sie haben sich nicht an uns gewandt.«
»Vielleicht weil sie nicht wissen, wer wir sind.«
Worauf, zum Teufel, will er hinaus?, dachte sie. Es war nicht seine Art, Dinge zu verkomplizieren. »Onkel, ich werde diesen Leuten nicht nachjagen, um einen nach dem anderen zu bitten, uns zu engagieren.«
»Aber es gibt keinen Grund, Theresa Ng daran zu hindern, sie zu kontaktieren, oder? Lass sie die Arbeit übernehmen. Sag ihr, sie soll sich an die Leute wenden und sie dazu bringen, uns ebenfalls zu engagieren, lass sie eine Versammlung einberufen, wenn nötig. Drei Millionen sind für uns nicht von Interesse, aber wenn es ihr gelingt, ein Auftragsvolumen von mindestens zwanzig Millionen zu akquirieren, dann lass uns die Sache übernehmen.«
Das war nicht das, was sie erwartet hatte, und sie brauchte eine Minute, um Onkels Vorschlag zu überdenken. Auf den ersten Blick ergab es Sinn, zumindest wenn sie die Absicht hatte, bei Onkel zu bleiben. Wie konnte sie ihm sagen, dass sie mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache war? Wie konnte sie ihm erzählen, dass sie ernsthaft andere Optionen erwog? Auf keinen Fall während dieses Telefongesprächs, dachte sie. In gar keinem Fall am Telefon. Wenn und falls der Tag kam, an dem sich ihre Wege trennten, dann musste sie ihm das von Angesicht zu Angesicht sagen. »Okay«, stimmte sie zu. »Ich rufe Theresa an und frage sie, ob sie mit diesem Vorschlag einverstanden ist. Wenn ja, gebe ich ihr eine Woche, um die Sache auf die Beine zu stellen. Wie klingt das?«
»Das klingt vernünftig.«
Ava schwieg einen Moment. »Lourdes hat mir von der Lebensmittelvergiftung erzählt«, sagte sie dann so beiläufig wie möglich.
»Das war nichts weiter.«
»Ich finde es ungewöhnlich, dass du das so häufig hast.«
»Ich muss aufhören, dieses Billig-Sashimi zu essen.«
»Daran lag es?«
»Jedes Mal.«
»Du hast Geld genug, um dir tausend Mal am Tag das teuerste Sashimi in Tokio zu bestellen.«
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.«
Sie wusste, dass er damit sein wohlüberlegtes Haushalten mit dem Hongkong-Dollar meinte. »Meine Mutter würde sagen: Da ehrt jemand den Pfennig, während ihm der Taler durch die Finger rinnt!«.
»Deine Mutter kennt eine Menge Binsenweisheiten.«
»Das heißt nicht, dass sie nicht stimmen.«
Er lachte. »Ich werde künftig besser achtgeben.«
Ava legte auf. Sie war beruhigt, was sein Unwohlsein anging, zugleich aber frustriert, weil er nicht gesagt hatte, sie solle den Fall Theresa Ng ablehnen. Wo sie ihm doch die Absage in die Schuhe hatte schieben wollen. Nun würde sie darauf bauen müssen, dass Theresa nicht genügend weitere Klienten zusammenbrachte.