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DAS LABOUR DAY WOCHENENDE hat eine besondere Wirkung auf die kanadische Psyche, und Ava war keineswegs immun dagegen. Das Wochenende signalisiert das Ende des Sommers, den Beginn eines neuen Schuljahres für praktisch jedes Kind im ganzen Land und das Aufschlagen einer neuen Seite im Leben vieler Menschen. Es markiert auf seine Weise, dass die Zeit des Müßiggangs vorüber ist und die Zeit der ernsthaften Arbeit wieder einsetzt. Einen Plan gefasst zu haben wäre ein guter Anfang gewesen, aber Ava hatte keinen Plan. Sie wusste nichts mit sich anzufangen und litt unter der Art von Melancholie, wie sie Menschen oft am 2. Januar heimsucht.

Am Freitagabend holte sie Maria an der Bushaltestelle vor dem Rama ab. Sie machten sich ein faules Wochenende; sie aßen, tranken, gingen spazieren, lasen, liebten sich. Maria war einer der am wenigsten fordernden Menschen, denen Ava je begegnet war. Sie schien zufrieden zu sein, wenn sie auch nur kleine Dinge taten – oder auch überhaupt nichts –, solange sie nur mit Ava zusammen war. Manchmal fühlte Ava sich deswegen schuldig, und sie stellte fest, dass sie es wettzumachen suchte, indem sie Aktivitäten plante, die sie, wäre sie allein, nie in Erwägung gezogen hätte. Und so fuhren sie am Sonntag gen Norden nach Midland, um die Kirche Martyrs’ Shrine zu besuchen.

Sie waren beide katholisch, beide trugen sie Kruzifixe und beide beteten sie oft auf ihre je eigene stille Weise. Genau wie Jennie versäumte Maria kaum jemals eine Sonntagsmesse, aber da sie wusste, mit welcher Abneigung Ava der Institution Kirche begegnete, verzichtete sie bei ihren Wochenendtrips in den Norden darauf. Und so kam es als Überraschung für sie, als Ava diesen Ausflug nach Midland vorschlug. Ava überlegte, ob sie ihre Mutter einladen sollte, sich ihnen anzuschließen, aber da sie am Montag alle drei zusammen im Auto in die Stadt zurückkehren würden, ließ sie es bleiben. Eine gemeinsame Fahrt genügte ihr vollauf.

Sie verließen das Cottage um kurz nach acht, und auf den Straßen war es so ruhig, dass sie die Kirche um kurz vor neun erreichten und damit früh genug für die Zehn-Uhr-Messe waren. Sie spazierten über das weitläufige Gelände und standen dann hinter der Kirche und lasen die grausigen Einzelheiten über das Martyrium der Missionare. Die meisten von ihnen waren von den Huronen ausgiebig gefoltert worden. Maria war besonders betroffen von dem Leiden Jean de Brébeufs und bestand darauf, Ava die Einzelheiten vorzulesen.

Maria war Kolumbianerin. Sie hatte einen Studienabschluss in Englisch und Betriebswirtschaft von der Universität von Bogotá. Sie war stellvertretende Handelskommissarin im kolumbianischen Generalkonsulat in Toronto, und zwar mit einem auf vier Jahre befristeten Vertrag, von denen zwei bereits verstrichen waren – eine Tatsache, über die sie nicht sprachen. Ava verstand nicht recht, wie der Katholizismus bei all der akademischen Bildung noch so wirkmächtig durch Marias Adern fließen konnte. Ava selbst hatte nie eine wahre Leidenschaft für die Religion empfunden, und die Haltung der Kirche in Sachen sexuelle Orientierung unterminierte jede andere emotionale Bindung, die sie womöglich verspüren mochte. Dennoch fand sie von Zeit zu Zeit Trost im Gebet, und sie war absolut tolerant, was den Glauben anderer Menschen anging.

Die Kirche füllte sich rasch, vor allem mit Sommergästen, vermutete Ava. Das Gebäude war fast ausschließlich aus Holz errichtet worden, und zwar nach Art der großen Langhäuser, die die Huronen und Algonquins einst gebaut hatten. Sogar das Dach war mit riesigen Platten aus getrockneter Birkenrinde gedeckt. Die Messfeier begann, und Maria überließ sich schnell dem Ablauf, ihr Gesicht strahlte, ihre Stimme erscholl laut während der Refrains, die Arme ausgestreckt, die Handflächen nach oben weisend. Avas Gedanken hingegen begannen nach fünf Minuten zu wandern; sie spielte die Optionen durch, die sich für ihr weiteres Leben boten.

Wieder dachte sie an May Ling und ihr Angebot. Es war schmeichelhaft und würde ihr gewiss gutes Geld einbringen. Aber sie brauchte das Geld nicht, und sie hatte mittlerweile so lange im Grunde allein gearbeitet, dass sie nicht sicher war, wie gut sie sich in eine strukturiertere Beschäftigung dreinfinden würde. Es war keineswegs so, dass sie Strukturiertheit ablehnte, aber die Vorstellung, dass diese ihr auferlegt wurde und nicht selbstgewählt war, behagte ihr nicht.

Vielleicht sollte ich mich selbstständig machen, überlegte sie. Doch was würde Onkel dann tun? Sie spielte diesen Gedanken zum wohl zehnten Mal in zehn Tagen durch. Er hatte nie davon gesprochen, sich zur Ruhe zu setzen, und sie fragte sich, ob je der Tag kommen würde, an dem er sich von der Arbeit zurückzog. Was hatte er denn sonst auch? Er hatte keine Familie. Er hatte keine Hobbys außer Pferdewetten, und das reichte nicht aus, um einen Mann beschäftigt zu halten, dessen Verstand noch scharf und dessen Abenteuerlust ungebrochen war.

Nun, ich könnte noch eine Zeitlang nichts tun, dachte sie weiter. Und dann begann ein seltsames Gefühl an ihr zu nagen. War sie überhaupt fähig, nichts zu tun? Mimi, ihre beste Freundin, hatte einen guten Job. Maria liebte ihre Arbeit. Selbst ihre Mutter konnte als erwerbstätig gelten, wenn man es als Beruf betrachtete, Mah-Jongg um Geld zu spielen. Der einzige Mensch, den sie kannte, der tatsächlich nichts machte, war Derek, Mimis Mann und Avas bester Freund. Genau wie Ava praktizierte er Bak Mei, und so hatten sie sich kennengelernt – als die beiden einzigen Bak-Mei-SchülerInnen von Großmeister Tang. Derek war das einzige Kind einer wohlhabenden Hongkonger Familie, und nach seinem akademischen Abschluss hatte er sich entschieden, in Toronto zu bleiben und ein Leben des Müßiggangs zu führen, das er nur gelegentlich unterbrach, wenn Ava ihn für einen Job brauchte. Doch selbst diese Jobs gab es nun nicht mehr. Mimi war schwanger, und Ava konnte ihren Mann, einen angehenden Vater, nicht darum bitten, sich einem Risiko auszusetzen.

Ava wurde in ihren um Derek kreisenden Gedanken unterbrochen, als Maria sich zu ihr neigte und flüsterte: »Diese Frau da hat dich angestarrt.«

»Welche Frau?«

»Die da drüben rechts, ein paar Reihen weiter.«

Ava sah nur Hinterköpfe, und dann entdeckte sie einen, dessen Haar streng zurückgebunden und mit einem roten Gummiband zusammengehalten war. Als die Predigt endete, drehte die Frau sich um und schaute sie an. Es war Theresa Ng. Ava grüßte sie mit einem Lächeln.

Sie hatte nicht mehr an Theresa gedacht, seit sie ihren Laptop am Freitagabend heruntergefahren hatte. Nachdem sie von ihrem Treffen zurückgekehrt war, hatte Ava ihren Rechner gestartet, um ihre E-Mails zu checken, hatte dann aber, beinahe automatisch, »Emerald Lion« in die Suchmaschine eingegeben. Es gab eine kleine Notiz über die Firma im Wirtschaftsteil der Globe and Mail, aber ohne jegliche Details.

Ava rief die Sing Tao Website auf und fand dort mehrere Berichte. Der erste war länger als der in der Globe, aber erstaunlicherweise ebenso vage, was Einzelheiten anging. Es wurde erwähnt, dass Emerald Lion ein privater Investmentfonds war, der in Schwierigkeiten steckte. Zahlen wurden nicht genannt, und die Geschichte bestand im Wesentlichen aus Zitaten von ungenannten Investoren, die forderten, dass der Fondsmanager Rede und Antwort stand.

Ein und dasselbe Foto von Lam illustrierte jeden Artikel. Langes, schmales Gesicht. Traurige, halb geschlossene Augen. Volles Haar, streng zurückgekämmt, und ein dichter, buschiger Schnäuzer – ungewöhnlich für einen Asiaten. Er war optisch kaum verwechselbar, und wenn Theresas Schwester meinte, ihn gesehen zu haben, dann hatte sie das vermutlich. Nicht dass es eine Rolle spielte. Ava sah keinen Grund, den Auftrag anzunehmen – außer um ihre Mutter zu beschwichtigen. Sie hatte beschlossen, Onkel am Dienstag anzurufen, denn es war ihr wichtig, ihr Wort zu halten, aber sie wusste bereits, dass er einen so unbedeutenden Auftrag nicht würde übernehmen wollen. Theresa und ihre Mutter würden enttäuscht sein. Um der scharfen Zunge ihrer Mutter zu entgehen, würde Ava alles auf Onkel schieben.

Als die Messe zu Ende war, erhoben sich die Menschen, um die Kirche zu verlassen. Maria blieb wie immer zurück, sie kniete noch für ein letztes Gebet nieder. Ava saß geduldig da, und als Maria fertig war, nahm sie ihre Hand und machte sich mit ihr zusammen auf den Weg zum Ausgang.

Die Kirche war nur schwach beleuchtet, und der Kontrast zwischen dem dämmrigen Inneren und der Welt draußen, wo die Sonne ungefiltert schien, war beinahe blendend. Während Ava sich bemühte, ihr Sehen anzupassen, sagte Maria: »Da ist diese Frau wieder.«

Zu ihrer Rechten stand Theresa Ng mit einer älteren Frau. Ehe Ava reagieren konnte, war Theresa auch schon bei ihr, die andere Frau im Schlepptau.

»Das ist Ava Lee. Sie ist die Frau, die uns helfen wird.«

Ava verschlug es die Sprache.

»Das ist meine Mutter«, fuhr Theresa fort. »Ich habe ihr gesagt, dass ich heute vor der Arbeit hierherkommen würde, um zu beten – um Gott zu danken, dass er uns Sie gesandt hat, und sie hat darauf bestanden, mich zu begleiten.«

Ava wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte.

Theresas Mutter trat vor, Tränen in den Augen, und ergriff Avas Hand. »Gott segne Sie«, sagte sie.

»Tante, bitte –«, sagte Ava.

»Gott segne Sie dafür, dass Sie uns helfen.«

»Tante –«

Theresa griff ein. »Es tut mir leid, dass wir Sie an einem Sonntag, noch dazu vor der Kirche, stören.«

Ava war Theresa dankbar, dass sie zumindest ihre Mutter zurückhielt. »Ich rufe Sie im Laufe der kommenden Woche an, okay?«, sagte sie.

Theresa nickte und schien ein wenig verwirrt.

Was hat Mummy ihr erzählt, nachdem ich die beiden abgesetzt habe?, fragte Ava sich.

Sie spürte einen frostigen Hauch in der Luft, einen Vorboten des Herbstes und eine Erinnerung daran, dass sie in etwa zwanzig Stunden nach Süden fahren würde, zurück nach Toronto, zurück in ein Leben, dem sie zwei Monate lang ausgewichen war.

Der schottische Bankier von Surabaya

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